Donnerstag, 17. Dezember 2015

Die geheime Botschaft hinter unserer verschwundenen Stadt...


1973: "Man braucht Autorität, wenn man die Menschen dazu zwingen muss, Dinge zu tun, die sie nicht natürlicherweise tun würden oder die ihren eigentlichen Interessen zuwiderlaufen."
Edward Bond, Dramatiker

Von Raimund Vollmer
Mucksmäuschenstill ist es bei Bildertanz-Aufführungen, wenn wir den langsam wachsenden Prototyp eines inzwischen einstündigen Films präsentieren, in dem die Kamera über das Reutlingen vor dem Ersten Weltkrieg und dem Zweiten Weltkrieg gleitet. Selbst die Reutlinger, die sich an die Zeit vor 1945 erinnern, sind immer wieder erstaunt, wie ihre Heimatstadt aussah und wie sie sich verändert hat - und doch irgendwie in ihrem Herzen vertraut blieb. Man spürt, wie es ihnen auf der Zunge liegt zu sagen, dass früher alles schöner war, sie dann aber doch zögern und eher schüchtern und rational auf die Abrisssünden unserer Stadt hinweisen. Der Film, der unter dem Arbeitstitel "Nachkrieg & Unfrieden" steht, nähert sich im Fortschritt der Arbeiten thematisch nun dem Reutlingen der 50er und 60er Jahre. Und da stöbert man in den Fotos herum, die wir vom Bildertanz in den vergangenen zehn Jahren gesammelt haben.
Einer unserer Starfotografen ist Richard Wagner, der heute - hochbetagt - in Eningen wohnt. Aus seinen Dias habe ich heute mal ein paar Fotos zusammengestellt, die jeden, der nach dem Krieg hier geboren ist und das neue Werden der Stadt erlebt hat, dieselbe spontane Behauptung im Halse stecken lässt, nämlich, dass früher alles schöner war. Unsere Kinder und Enkelkinder werden in 50 Jahren dasselbe über das Reutlingen von heute sagen. Und sie werden sich fragen, wie eine Stadt entstehen konnte, wie sie Benjamin Prell (Kommentar in der gestrigen Ausgabe) sich vorstellt und offenbar dabei die Autorität der Stadtregierung hinter sich zu sehen meint.
Aber eigentlich steckt hinter dieser Formulierung, dass früher alles schöner war, eine ganz andere, viel, viel wichtigere Botschaft. Wir verbinden mit diesen alten Bildern eine Welt, in der wir unsere Sorgen überwunden und gemeistert haben, in der wir unsere Ängste vergessen haben, in der wir das Schöne und das Gute unseres eigenen Lebens sehen. Wir blicken zurück auf unsere Möglichkeiten von damals und vergleichen dies mit den Wirklichkeiten von heute, verkörpert durch das real existierende Stadtbild, in dessen Lebensraum unsere Ängste und Sorgen noch nicht gemeistert sind. Aber das ist nur ein Aspekt. Diese alten Bildern verkörpern eine natürliche Autorität, der keine Gewalt innewohnt. Und sie stellen die Frage: Warum hat sich Reutlingen unter all den vielen Möglichkeiten, die es hatte, genau so entwickelt, wie es heute ist? Welche Autorität hat da gewirkt?
Der brachliegende Güterbahnhof soll zu einem Logistikzentrum umgestaltet werden. So berichtet heute der GEA über eine Sitzung des Gemeinderates. Mit Romantik wird das nichts zu tun haben, da ist Reutlingen reine Funktionsstadt. Vielleicht ist dies auch unsere Zukunft. Vielleicht ist das die Autorität, die uns zwingen wird, Dinge zu realisieren, die wir gar nicht natürlicherweise tun wollen - und weil wir unsere Möglichkeiten, deren Verlust wir in den alten Bildern wahrnehmen, immer noch nicht einbringen können oder wollen. Mehr als 12.000 Mal wurde unser Beitrag über das Reutlingen, das kein Ereignis ist, auf Facebook angeclickt. Eine solche Resonanz auf Wortbeiträge kennen wir normalerweise nicht. Irgendwie hat man das Gefühl, dass dahinter stummes Erstaunen und Nachdenklichkeit steht, die noch nicht ihre Worte gefunden hat. Einer Stadt kommt man nicht rein rational bei, so sehr sich dies die Verwaltung und ihre Stadtväter wünschen mögen. Eine Stadt ist Emotion - oder sie ist gar nicht.
Reutlingen sei immer noch ein Industriestandort, dem man gerecht werden müsste, heißt es in den Argumenten für den Container-Umschlagplatz, dem kältesten aller denkbaren Zukunftsprojekte. Vielleicht ist es sogar eine sehr vernünftige Idee, die da unsere European Business School entwickelt hat. Vielleicht ist sie die zehn Millionen Euro wert, aber diese Baustelle ist kein Ersatz, kein Umschlagplatz für eine Ideen-Initiative, in der die Bürger natürlicherweise sagen können, wohin sie die Entwicklung ihrer Stadt sehen. Projekte sind immer so plötzlich da, so ganz unvermittelt, überfallartig. Es ist nicht so, dass wir nicht darauf vorbereitet werden. Andeutungen gibt's, auch Diskussionen. Aber dann ist Schweigen. Doch dann kommen sie, von oben, autoritär.
Uns, den Bürgern, bleiben da nur die Bilder aus einer Vergangenheit, in der einmal in unserer Erinnerung alles möglich war.
Und deshalb ist es wohl auch immer mucksmäuschenstill beim Bildertanz.







 

Bildertanz-Quelle:Richard Wagner

4 Kommentare:

  1. Schöne Bilder, Dank an Herrn Wagner,

    sie zeigen deutlich daß schon damals mit den "Hüttenwerken" ("Klein Venedig", Obere Wässere) nichts mehr anzufangen war.
    Etwas verwunderlich finde ich, daß Du die Stadt angreifst weil die Privatbesitzer an ihren Gebäuden kein Interesse mehr hatten. Der Besitzer des vermutl. ältesten Hauses in der Metzgerstrasse hatte es ja vorgeführt, einfach nur stehen lassen bis es aus Sicherheitsgründen abgebrochen werden muß.
    Der Güterbahnhof war übrigens schon immer Logistikzentrum, nur daß da früher die Leute beim Be- und Entladen mehr geschunden wurden, dort war es damals alles nur nicht "warm" - und keinesfalls besser!
    Der Containerumschlagplatz wäre endlich mal eine Möglichkeit, den LKW-Verkehr etwas einzudämmen.

    Gruß
    Michael

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  2. Lieber Michael, es ist schön, dass Du Richard Wagner dankst. Du engagierst Dich mit der Zahnradbahn für ein Gebrauchsgut, das sich unter Eurer Hingabe zu einem Kulturgut wandelte. Richard hat mit seinen Fotos ebenfalls nicht die Funktionsstadt festgehalten, sondern die emotionale Sicht darauf. Es sind nicht die Funktionen, die diese Bilder wiederbeleben, sondern die Gefühle, die wir mit diesen Ansichten verbinden. Und von der Warte aus habe ich meinen Kommentar geschrieben. Wegen der Emotionen kommen auch die Leute jedes Jahr zu Euren Hocketen. Mit der Zahnradbahn war "schon damals... nicht mehr anzufangen", um Dich zu zitieren. Aber Ihr habt sie gerettet. Als Privatleute. Mit städtischer Unterstützung und dem Wohlwollen der Bürger. Dass der Containerumschlagplatz eine ratopnale Legitimation hat, bezweifele ich nicht. Das kann ich auch gar nicht beurteilen. Im übrigen greife ich nur insofern die Stadt an, weil sie ein weitgehendes Gestaltungsrecht besitzt, gleichsam das publizistische Obereigentum. Und wenn sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten etwas nicht will, dann hat sie auch die entsprechende Bestimmung dafür. Aber auf der Ebene will ich gar nicht angreifen, sondern auf der Ebene, dass die Bürger Teil der Diskussion sein müssen - und man nicht so tut, als würde man sie beteiligen. Das nennt man Manipulation, und die mag ich als aufrecht gehender Mensch nicht.

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  3. Das normale deutsche Volk interessiert doch niemanden. Macht und Gier beherscht alles.

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  4. Anonym bringts auf den Punkt

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