Dienstag, 15. Dezember 2015

Reutlingen - die Stadt, die kein Ereignis ist...



Von Raimund Vollmer
(Kommentar) Wie soll man etwas kritisieren, ohne es zu kritisieren? Wie wasche ich mich, ohne nass zu werden? Wie macht man Stadtmarketing ohne Stadtmarketing? Wie verkaufe ich, ohne einzukaufen? Wie konkurriert eine Einkaufszone gegen Amazon? Solche Fragen gehen einem durch den Kopf nach der Lektüre des Reutlinger General-Anzeigers, der unter der Überschrift "Weg vom Event-Management" in einem Gespräch mit dem Einzelhändler Fritz Haux die Wirkung des Stadtmarketings reflektiert.
Metzingen ist auch nur Outletzingen
Reutlingen ist eine rationale Stadt, die erst gar nicht versucht, Widersprüche aufzulösen. Reutlingen ist eine banale Stadt, die erst gar nicht versucht, aufregend zu sein. Reutlingen ist eine verkümmerte Stadt, die erst gar nicht versucht, stolz zu sein. Man ist ja auch so zufrieden mit dem, was man hat. Wer mehr will, der muss nach München gehen, nach Hamburg oder Berlin, nach Düsseldorf oder Köln - und zur Not tut es Stuttgart auch. Romantik gibt's in Tübingen oder Heidelberg, Schnäppchenjagd in Metzingen, und Reutlingen gibt den Rest.
Noch nicht einmal zum Industriecharme des Ruhrgebiets reicht es. Wenn es die Achalm und den Albtrauf nicht hätte, zwei Gottesgeschenke, würde Reutlingen gar nicht auffallen. Es ist eine Stadt, die nichts hat - und Kultur schon gar nicht, jedenfalls nicht in dem Maße, dass man damit keck kokettieren könnte. 
Berlin - immer noch eine Reise wert?
Alles harte Worte, aber die sind nicht so gemeint. Denn das würde Reutlingen nicht vertragen. Reutlingen ist sich selbst genug. Dass es das andere nicht will und auch nicht kann, das wissen wir nicht erst seit dem Bau der Stadthalle. Außerdem ist der prozentuale Anteil der Scheußlichkeiten an der Gesamtfläche unserer Stadt auch nicht größer oder kleiner als in anderen Städten. Reutlingen ist so sehr Durchschnitt, dass es mit einem gesicherten Einzugsgebiet von 40 oder 50 Kilometern eine echtes, kleines Zentrum sein könnte. Leider ist Reutlingen eine  Mini-Metropole ohne irgendwelche Monopole, eingebettet in ein hochkompetitives Umfeld aus Outlet und Internet. So sind es vor allem Stammkunden, die Samstag für Samstag ihre Runden durch die Stadt machen, verweilen hier, verweilen dort, aber sie nehmen die Stadt als Stadt gar nicht wahr. Einen still demonstrierten Stolz auf ihre Heimatstadt kennen die Reutlinger nicht. Da brennt nichts im Innern. Reutlingen ist eine Gebrauchsstadt.
Touristen gibt es nicht wirklich. Menschen, die hierher kommen, sind bestimmt von geschäftlichen Anlässen. Ein Programm, wie es die Stadthalle bietet, gibt es anderswo auch.
Alleinstellungsmerkmale - um einen Begriff aus dem Marketing zu benutzen - hat Reutlingen grundsätzlich nicht. Da hilft auch der Mutscheltag nicht drüber hinweg. 
Stuttgart ist auch nicht immer schön
Und der Abstieg, vor dem heute Fritz Haux im GEA indirekt und sehr verklausuliert warnt, vollzieht sich in Reutlingen in unglaublich angenehmer Atmosphäre. Bei "Feuer und Eis", in Kulturnächten und Stadtfesten, in diesem und jenem Event, im Weindorf und auf dem Weihnachtsmarkt, mit all dem, was schnell und konventionell ist. Wirklich originell ist nichts. Selbst die engste Straße der Welt ist letzten Endes nur Schall und Rauch, solche Ritzen gibt es anderswo auch. 
Kennzeichen RT: Eine Stadt und ihr Durcheinander
Alles bitter, alles böse? Wer in Reutlingen etwas ändern will, der braucht unendlich viel Kraft. Und die kann ein Stadtmarketing allein nicht aufbringen, geschweige denn ein Individuum - insofern ist es müßig, das Stadtmarketing oder die Stadträte zu kritisieren. Niemand besitzt die natürliche Autorität, um die Stadt über sich selbst hinaus zu heben. Die Einzelhändler, ob einzeln oder als Kollektiv, sind so im Kleinklein ihres Daseinskampfs verstrickt, dass sie das Große und Ganze nicht sehen. Die Bürger verstehen sich als Einwohner, mehr nicht. Tübingen hat seine bewusst lebenden Spießer, die alternativlos alternativ sind und auch so wählen. Das ist wenigstens etwas. Reutlingen hat gar nichts. Es ist weder rot noch grün, weder schwarz noch gelb. Reutlingen ist farblos.
Reutlingen ist noch nicht einmal Reutlingen.
Wenn doch endlich mal einer genau das nutzen würde...
Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer

6 Kommentare:

  1. Respekt, dieser Artikel jedenfalls ist ein Ereignis! Mehr davon :o)

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  2. Haha Passt genau, Reutlingen ist echt nicht mal Reutlingen.
    Lost City!!!

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  3. Wer da uninteressant gedrückt hat, hat nicht mitbekommen, dass diese der bislang am stärksten gelesene Blogbeitrag unserer Geschichte ist. Auf Facebook hat er inzwischen mehr als 12.000 Menschen erreicht, solche Zahlen erreichen wir dort nur mit besonders starken, vor allem erinnerungsstarken Bildern. Den Menschen in unserer Stadt liegt das Schicksal unserer Stadt offensichtlich doch am Herzen.

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  4. Der Bericht trifft den Nagel auf den Kopf!!! Es ist erschreckend wie "langweilig" Reutlingen geworden ist.
    Hierzu muss man aber auch sagen, dass vielen Leuten, wie zum Beispiel der RGA, oft große Steine in den Weg gelegt werden wenn sie etwas neues machen wollen. Reutlingen ist (meiner Meinung nach) für viele einfach uninteressant geworden da man vergessen hat, mit der Zeit zu gehen.

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  5. Dieser Beitrag sagt alles was man sagen sollte.. Es ist schade aber wird sich leider nichts mehr dran ändern.. Ich weiß nicht welche Politik Reutlingen voran bringen will.. Aber es kostet jeden Veranstalter oder Gastronom so enorm viel Kraft und Geduld um Genehmigung zu bekommen.. Sie finden immer etwas um es nicht statt finden zu lassen.. Vor 15 Jahren war Reutlingen die Party Stadt Menschen von überall sind nach Reutlingen wegen der Färberei gekommen.. die Straßen waren lebendig überall war was los.. Zum Teil hat man halbe Stunde an der Kasse gestanden um sich sein Outfit für den Freitag im Billy Bobs zu kaufen.. Disco Eislaufen.. Sommernächte in der pomo..

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  6. Traurig, aber wahr. Bin als Rheinländer vor fünf Jahren aus beruflichen Gründen von Berlin nach Reutlingen gezogen und noch immer nicht über Schock weg. Seit dem suche ich den Esprit Reutlingens. Bislang zwar vergebens, doch hatte ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, irgendwann durch Insider in verborgene Hoch- und Subkulturen eingeführt zu werden. Ähnlich wie man Berlin's Subkultur der Hinterhofausstellungen auch erst durch Insider erfahren kann. Der Artikel ist für mich ein echter Augenöffner, weil er mir wunderbar methaphorisch darlegt, dass ich aufhören kann zu suchen. Dass ich das gewisse Etwas Reutlings noch nicht gefunden hatte, hielt ich bis heute für eine Unempfänglichleit meinerseits für die schwäbischen Befindlichkeiten. Da musste doch irgendwo im Verborgenen noch mehr sein. So wenig geht doch gar nicht. Selbst architektonisch geschichtslose Städte im Wildwuchs, wie z.B. Gießen, entwickeln mehr Charme. Scheinbar ist man in Reutlingen auto-immun gegen eine eigene Lebensart. Jetzt weiß ich, dass ich entweder meinen Frieden mit Reutlingen machen oder gehen muss. Danke.

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