Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
»Ich
stelle mir die Stadt der Zukunft als ein Archipel von Stadtvierteln vor, die
wie kleine autonome Dörfer funktionieren und in dem man auf kleinstem Raum
alles findet, was man zum Leben braucht: Schulen, Büros, Geschäfte, Restaurants,
Gesundheitsversorgung.«
Stefano
Boeri (*1956), italienischer Star-Architekt
Es ist ein doppelt doppelter Vorwurf: "Früher war's
besser, und Reutlingen macht alles falsch". So liest man es häufig in
Kommentaren auf unserer Facebook-Seite, wenn wir die Stadt in alten Bildern
wieder aufleben lassen. Das sei – sagt dann die Gegenseite in ihrer mildesten
Form – „etwas zu kurz gefasst". Wir seien die Bruddler, die Miesepeter,
denen man nichts recht machen könne. Solche Aussagen gibt es in allen möglichen
Variationen. Als Autor dieser Seite ärgern sie mich in beide Richtungen, denn sie
sind in beide Richtungen Killerargumente. Für die, für die früher alles besser
war, und für die, die meinen, dass heute alles besser sei. Ende der Diskussion.
Zwei Positionen stehen einander unversöhnlich gegenüber. Zwei Seiten, die sich
doch sehr viel zu sagen hätten – und zwar in eine gemeinsame Richtung: in
Richtung Stadtgesellschaft. Aber dann folgt meistens nur noch Häme
untereinander. Und unsere Stadt kann sich weiterhin ihrer Biederkeit ergeben.
Ja, Biederkeit. Das war der Ausdruck, der mir in den Sinn
kam, als ich jetzt die Gedanken unserer gewählten Stadtpolitiker im Reutlinger
General-Anzeiger zum Neuen Jahr las. Und
dann folgte der Gedankenblitz: Genau das ist es, was wir uns nicht mehr leisten
können: Biederkeit. Denn sie hat uns bisher nichts eingebracht – am wenigsten
an Steuern. Da liegen wir deutlich unter dem Durchschnitt der anderen
Großstädte.
Nach den Plänen wollte Reutlingen im vergangenen Jahr 386
Millionen Euro an Einnahmen erzielen. Sagt der alte Haushaltsplan – und der hätte
dann ein „ordentliches Ergebnis“ von plus 12 Millionen ausgewiesen. Das wären –
im Vergleich zu 2017 - 40 Millionen Euro mehr an Einnahmen gewesen, allerdings
drei Millionen weniger an „ordentlichem Ergebnis“, also Überschuss. So der
Plan. Warum so wenig Überschuss? Dass die Personalaufwendungen um 15 Millionen
auf 103 Millionen steigen werden, war eine der Ursachen für den verminderten
Ertrag, so wie er 2018 noch unter Oberbürgermeisterin Barbara Bosch erwartet
wurde. Sie verabschiedete sich-
Aber dann – schon vor Corona – ahnten der neue
Oberbürgermeister Thomas Keck und der Gemeinderat, dass stattdessen die
Einnahmen derart schrumpfen würden, dass am Ende des Jahres 22 Millionen fehlen
werden. Nun musste gespart werden – auf Teufel komm raus. Doch ob das, was dann
dabei herauskommt an Planung und Finanzierung für das Jahr 2021, vom
Regierungspräsidium genehmigt wird, kommt „einem Gnadenakt“ gleich, sagt unser
Oberbürgermeister in einem ansonsten unkommentiert gebliebenen Interview zum
Jahresende im Reutlinger ‚General-Anzeiger‘. „Uns geht es am dreckigsten“, resümiert
Keck mit Blick auf die anderen Großstädte im Ländle.
So weit sind wir also schon – ein Gnadenakt muss her, der
unseren Haushalt billigt. Es sei denn, die Regeln werden so geändert, dass die Stadt,
die pro Kopf die niedrigsten Gewerbesteuern unter den Großstädten im Ländle hat,
zumindest ihr Gesicht wahren kann. Aber es liegt ja nicht nur an den Gewerbesteuern.
Die Einnahmen sind grundsätzlich niedrig. So die Zahlen von 2018.
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Die Steuereinnahmen pro Kopf liegen in
Reutlingen mit 1303 Euro um 700 Euro niedriger als im 40 Kilometer entfernten
Stuttgart.
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Heilbronn, die Stadt, mit der wir uns gerne
vergleichen, hat 1700 Euro je Bürger, sogar Pforzheim schafft mehr. Tübingen
liegt – auf der Basis von 2018 – um 14 Euro unter dem Ergebnis für Reutlingen. Wie’s
2020 aussieht, werden wir auch noch erfahren. Vorstellbar ist jedoch, dass dann
Tübingen an uns vorbeizieht.
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Metzingen, wie Tübingen keine Großstadt, toppt
übrigens alles: 2544 Euro brachte dort – umgerechnet – 2018 jeder Bürger an
Steuereinnahmen.
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Gemessen am durchschnittlichen Steueraufkommen
pro Kopf im Regierungsbezirk Tübingen lag Reutlingen um 150 Euro niedriger.
Nicht gut. Das liegt nicht nur an der Gewerbesteuer. Wir
sind als Bürger insgesamt nicht sehr ergiebig. Wir sind auf dem Niveau jener
Städte im Westen, auf die wir, die „wir im Süden“ (so eine Schwabenhymne) sind,
so gerne herabblicken.
Wuppertal, keineswegs eine reiche Stadt, hat so viel
Pro-Kopf-Steuereinnahmen wie Reutlingen. Ebenso Mönchengladbach. Berlin hat
1200 Euro, Dortmund 1250 Euro, Bremen 1600 Euro, Düsseldorf 2350 Euro und
München 2850. In der Tendenz hat Reutlingen das Niveau der Ruhrgebietsstädte,
allerdings immer noch einen guten Abstand zu den Städten in den neuen
Bundesländern. Aber Reutlingen ist eine Stadt, die bei allem Strukturwandel
nicht diese brachialen Brüche zu durchleben hatte, wie dies im Ruhrgebiet oder
im Osten der Fall war.
Nun könnte man ja nach den Gründen suchen, warum es
strukturell der Stadt an Steuereinnahmen gebricht. Das liegt vielleicht ganz
einfach daran, dass man zu viel erwartet. Beim jetzt beendeten Doppelhaushalt stimmt
dies auf jeden Fall. Es wurden Erwartungen formuliert, die man offensichtlich brauchte,
um jene Ausgaben zu rechtfertigen, die da so geplant waren. Man projizierte
sich in eine Zukunft, die einfach nicht stattfand, aber bei der man so tat, als
sei sie schon da. Davor gewarnt haben, so war zu erfahren, Leute aus dem
engsten Kreis um Frau Bosch. Sie wollte offenbar nichts davon wissen.
Darf man sich bei den Steuereinnahmen in wirtschaftlich
gesunden Zeiten tatsächlich um 20 Millionen irren? Da war wohl der Wunsch der
Vater der Planung – sozusagen ein Theaterstück mit dem Titel: „Der Haushalt –
eine Wunschvorstellung.“
Keck hat es nun auszusitzen. Aber auch er war zuvor Stadtrat
und sogar Bezirksbürgermeister. Warum haben die Stadträte diesen
Fehleinschätzungen nicht Einhalt geboten? Der Haushalt ist doch des Rates
„Königsdisziplin“! Daran misst er sich und seine Macht.
Nun kam Corona und verschärfte alles in einem unerträglichen
Maße, dass das kollektive Versagen gar nicht mehr zur Sprache kommt. Mit einer
Pandemie konnte niemand rechnen – schon gar nicht die Haushaltsexperten und
erst recht nicht wir, die Bürger. Auch die Stadträte sind da außen vor. Kommen
nach Corona die guten Zeiten wieder? Wir hoffen es, aber erwarten dürfen wir es
nicht. Vor allem werden es andere Zeiten sein.
Genau darin liegt das Problem. Unsere von Amtswegen
autorisierten Bürokratien sind es gewohnt, alles vorherzusehen und vorher zu
planen. Und dann hat es auch so zu kommen. Sie betreiben einen immensen
Aufwand, auch buchhalterisch, um sich selbst und uns im Griff zu behalten. Und
wenn die Zahlen nicht so sind, wie man sie braucht, dann weiß man tausend
Tricks, um sie dennoch zu bändigen. Ja, man hat manchmal den Eindruck, dass der
Aufwand, eine Fehlentwicklung zu tarnen, höher ist als der Schaden selbst. Das
funktioniert nicht mehr. Und da Corona ohnehin an allem schuld ist, braucht’s das
ja auch nicht mehr.
Wir Bürger versuchen, das alles zu verstehen. Gelingt uns
aber nicht, weil – welches Zahlenwerk auch immer wir uns anschauen (wie ich das
eingangs getan habe) – am Ende ist man noch verunsicherter als vorher. Es sind
Machwerke, die in sich plausibel erscheinen – und aus denen man spätestens bei
der dritten Abstraktion intellektuell aussteigt. Das Prinzip von „Check &
Balances“ ist ziemlich wenig ausbalanciert. Die Bürokraten aller Länder und
Gemeinden können uns viel erzählen.
Sie verkaufen uns eine in sich geschlossene Welt. Sie sind
von ihrer eigenen Argumentation derart überzeugt, dass sie „narret“ werden, wenn
eine doch wegen der Umweltbelastung gesperrte Fahrspur in einer Satiresendung
landet. Frage: Wo denn sonst? Für die Stadt mag es um die Umwelt gegangen sein
(und die rechtlichen Konsequenzen), wir haben es anders interpretiert. Für uns
ging es einzig und allein darum, die Daten einer Messstation zu beeinflussen.
Und es ist ja auch so: Wenn die Ergebnisse am Ledergraben entscheidend sind, um
die durchschnittliche Belastung zu bestimmen, dann ist es ein Zeichen dafür,
dass Zahlen und Wirklichkeit wenig miteinander zu tun haben.
Wir haben es hier mit einem delikaten Phänomen zu tun. Wir
haben – um unser Dasein zu bewältigen – für all unsere Kümmernisse und
Bedürfnisse Institutionen errichtet. Die Krankenhäuser gehören aber nicht uns,
sondern dem Gesundheitssystem. Die Schulen gehören nicht uns, sondern dem
Bildungssystem. Die Straßen gehören nicht uns, sondern dem Verkehrssystem, das
auch die anderen Verkehrsarten unter sich summiert – vor allem die Konkurrenz,
den ÖPNV. Die Steuern gehören nicht uns, sondern dem Staat, der im Rahmen
seiner Gesetze, die er zu 90 Prozent aus Vorschlägen der Exekutive heraus
definiert (und in selbstbestimmten Verordnungen umgesetzt werden), machen kann,
was er will. Auch die Umwelt gehört nicht uns, sondern längst den Regierungen,
die die Klimakatastrophen ausrufen, damit die Herrschenden mit uns machen
können, was sie wollen. Sogar ein Oberbürgermeister muss jetzt um Gnade bitten.
Diese Systeme entstehen, indem sie
sich planen. Sie gehen ihrer Bestimmung nach, die sich in erschreckender Weise
nur noch in Selbstbestimmung äußert. Was wir mal für uns ausgedacht und
gewünscht haben, wird uns mit der Zeit entfremdet. Alles ist darauf
ausgerichtet, dass alles auch bestimmt wird. Wir leben in einer
Exekutiv-Demokratie. Schon lange ist das so – und es beunruhigt inzwischen
nicht nur Philosophen, sondern auch sehr prominente Staatsrechtler.
Und dann fällt Corona über uns her –
etwas völlig Unbestimmtes. Keiner hat Corona geplant. Plötzlich war alle
Planung Makulatur. Das Ungeplante bestimmte alles. Wer sich aber die
vergangenen drei Jahrzehnte anschaut, wird feststellen, dass nach dem Fall der
Mauer dieses Unbestimmte längst unser Dasein „bestimmt“. Dies ist das „New
Normal“, das Neue Normale, nicht erst seit Corona. Und dieses Unbestimmte kommt
neuerdings aus der Luft – von Nine-Eleven über Klimakatastrophe und Hagelstürme
bis hin zu Corona.
„Wir haben Millionen in das
Stadtbuskonzept gesteckt und in eine veränderte Mobilität“, berichtet der
Oberbürgermeister. Man zeichnete das, was entstand. Corona torpediert dieses
Konzept in seiner Selbstbestimmung. Mit den „Quartiersbussen“ wollte man ein
Signal setzen. Gibt’s nicht mehr, ob’s wiederkommt, fraglich. Alles muss nun in
das „New Normal“ eingepasst werden. Nicht einfach: Die Bekämpfung von Corona
verlangt ja nicht nach neuen Kollektiven (Busfahren), sondern Abstand halten,
Maske tragen, zuhause bleiben. Corona ist das Gegenteil zu allem, was war, aber
– wie wir ahnten – nicht mehr so bleiben konnte.
Wir haben eine Innenstadt, in der in
städtebaulicher Selbstbestimmung alles getan wurde, um sie äußerlich
attraktiver erscheinen zu lassen, damit Menschen und Betriebe zu uns ziehen,
die die Steuereinnahmen verbessern. Hat bisher nicht funktioniert, stattdessen
hat die Stadt in ihrem Innern einiges an Charakter verloren. Die Menschen
halten Abstand zur Stadt. Wer den Kommentaren hier auf Bildertanz gefolgt ist,
hat dies längst spüren können. Die Stadt wurde den Bürgern entfremdet, ohne
sich in eine neue Heimat zu verwandeln. Und man könnte sogar behaupten: die lange
Zeit gepflegte Unfähigkeit, dies zu erkennen, zeigt, wie sehr sich die Handelnden
selbst von uns entfremdet haben. Sie sind inzwischen selbst so viele, dass sie
sich durch gegenseitiges Schulterklopfen ihre Richtigkeit und Wichtigkeit permanent
bestätigen konnten. Kritik hatte da keinen Platz.
Vielleicht erscheint dies dem einen
oder anderen übertrieben. Wer indes den GEA in den letzten Wochen las, wird
festgestellt haben, dass er mehr denn je in seinen journalistischen Arbeiten
seine Leser mit ihren kritischen Äußerungen zu Worte kommen lässt (in den
Leserbriefen haben sie ja schon seit eh und je eine Gegenposition behauptet).
Die heile Welt existiert nicht mehr. Für niemanden. Wir müssen uns dem
Unbestimmten stellen. Daran sollten fortan vor allem die denken, die über uns
bestimmen wollen.
Noch nie war Kritik so „not“-wendig wie jetzt. Denn in der
Kritik geht immer schon die Zukunft schwanger.
Was die Menschen spüren, ist, dass die Veränderungen, die
diese Stadt vor allem seit Beginn des 21. Jahrhunderts gesehen hat, wie
aufgesetzt wirken. Sie sind nicht authentisch, nicht originär,
Nachahmerprojekte. Danach aber sehnen wir uns insgeheim, nach dem Echten, dem
Ureigenen. Nein, früher war nichts besser, vergessen wir dieses Argument! Was
die Kommentare, die in diese Richtung gehen, in Wirklichkeit sagen wollen, ist,
dass es authentischer gewesen ist. Ob’s stimmt oder nicht, kann ich nicht
objektiv beurteilen, das kann wahrscheinlich keiner. Aber dieses Gefühl, dass
die Veränderungen ein Mehr an Authentizität gebracht hätten, ein Mehr an
Identifikation und Kommunikation, das kann ich nicht bestätigen. Insofern sind diese
Veränderungen leer und inhaltlos.
Die große Frage wäre demnach: Wie kann man dieses Angebot,
mit dem wir ja nun leben müssen und viel Geld gekostet hat, mit Inhalten
füllen, mit Identifikation und Kommunikation? Die Antwort müssen wir – vermute
ich – selbst geben.
Es hat ja diesen netten Versuch gegeben, den Markenkern
unserer Stadt herauszuarbeiten. Ein mausetotes Top-down-Projekt, das auch ein
sehr geschätzter Comedian nicht zum Leben erwecken konnte. Warum? Haben wir
tatsächlich keinen Markenkern?
Doch. Wir sind über alle Jahrhunderte hinweg das Tor zur Alb
(und nie das Tor zu Stuttgart!!!) gewesen. „Tor zur Alb“ - das war mal der
Slogan unserer Stadt, mehr als das – es war ein Bekenntnis, ein
Alleinstellungsmerkmal gar, weil keine andere Stadt damit reüssierte. Und damit
kann sich jeder identifizieren, der Altenburger ebenso wie der Betzinger, der
Gönninger, der Sondelfinger oder der Ohmenhausener. Das erfüllt einen irgendwie
mit Stolz. Ein Portal zu sein, ein Tor zur Welt (um es einmal ins fast unerträglich
Übertriebene hoch zu steigern) ist eine Einladung an alle, ganz einfach
mitzuwirken. Das gilt für die, die bereits da sind, und natürlich auch für die,
die man doch gerne hier haben möchte, wo immer sie herkommen. Eine Stadt, die
in sich ruht, souverän ist, an ihre einstige Reichsunmittelbarkeit als
Reichsstadt erinnert! Es könnte sogar sein, dass auch die Nachbarn diesem alten
Titel mit sehr viel Sympathie huldigen. Es wäre eine Verbeugung vor der
Vergangenheit, zugleich aber auch ein Bekenntnis zu Gegenwart und Zukunft.
Reutlingen muss sich nicht neu erfinden. Reutlingen muss sich nur neu finden.
In seiner Tradition und in seiner Ambition. Der Spruch hat allerdings einen
Nachteil: er ist von gestern. Und eine Möglichkeit, ihn gegen die Gutachter,
Berater, PR-Agenten, Stadtmarketiers, gegen das gesamte Herrschaftsgefolge
durchzusetzen, ist gleich Null. Die wollen ihr eigenes Logo draufsetzen. Ein
altes Logo ist für sie ein „No-Go“.
Die Möglichkeiten, Einspruch zu erheben, Vorschläge
durchsetzungsstark einzubringen, sind in Reutlingen (wie in allen Bürokratien)
bestimmt durch die vordefinierten Wege, die, indem sie vorgezeichnet wurden,
bereits jeglicher Spontaneität, Ursprünglichkeit, Natürlichkeit, Kreativität
entkleidet wurden. Das ist ihre heimliche Aufgabe, es ist der Weg der
Unterwerfung und der Gnade, nicht der Offenheit und Freiheit. Es ist der Weg
der Bürokratie. Da kommen die alten Reflexe durch, gegen die keine Obrigkeit
gefeit ist. Was ihr formal nicht genügt, hat auch gar nicht stattgefunden. Der
Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hat Recht, wenn er schon vor Jahren
sagte, dass wir „in postdemokratischen Zuständen“ leben.
Das ist das Dilemma, vor dem wir Bürger stehen. Wir werden
nur gehört, wenn wir den engen Verwaltungsweg einhalten, oder wenn wir das
vorbehaltlos loben, was an Neuerungen diese Stadt in den vergangenen zwanzig,
dreißig Jahren geschaffen hat.
Vielleicht irre ich mich ja.
Die grüne Wiese, die aus dem Untergang des alten
Bruderhauses entstand und die ich in einem kleinen Film festgehalten hatte, war
doch eine Einladung gewesen, diese Idee, „das Tor zur Alb“ zu sein, kreativ zu
erneuern. Doch aus dem Brachland der Geschichte wurde ein Niemandsland. Aus der
Bruderhaus-Idee wurde ein Ort der Beliebigkeit. Dabei lag es doch auf der Hand,
diesen Platz als Tor zur Alb zu inszenieren, als Tor zu einem Biosphärengebiet,
zu einem Ort der Phantasie, der Geschichte, der Kultur, des Lebens in dieser
Stadt. Rund um dieses Thema hätte man sehr, sehr viel entwickeln können (und
kann man immer noch). Ich kann mir vorstellen, dass unser Prunkstück, die
Philharmonie, einen Riesenspaß daran hätte, das alles zu begleiten. Denn unsere
Philharmonie ist alles andere als bieder. Nur mal so: Wenn jeder der
Schnurbäume einen Musiker als Paten hätte, dem er einmal im Monat ein Ständchen
bringen müsste, dann wäre dies eine kleine Geste, die zeigen würde, wie sich
unsere Stadt – ohne großen Aufwand – neu vernetzt. Oder auch abwechselnd mit
den Schauspielern der Tonne, die ihrem Schnurbaum ein Gedicht, einen Dialog
oder sonst wie einen kleinen Vortrag darbieten würden, wäre ein Ansatz, um zu
zeigen, wie unsere Stadt durch die Kultur wiederbelebt wird. Auch unser
bildenden Künste, die Maler, die Bildhauer, die Performance-Künstler, all die
vielen kleinen und großen Genies und Begabungen in unserer Stadt etwas
bewirken. Ohne viel PR. Aus sich heraus. Ganz tief aus ihrer Seele, die danach
schreit aus der Biederkeit der Gegenwart befreit zu werden, würde sich diese
Stadt erneuern. Unendlich viele Kleinprojekte, auch in der gesamten Innenstadt,
würden dieser Stadt etwas Einzigartiges geben können. Kein Riesenrad, sondern
viele kleine Rädchen. Ein Symbol dafür, wie das große Ganze aus dem ganz
Kleinen kommt.
Vielleicht sind diese Vorschläge abstrus, vielleicht lassen
sie diejenigen, die stattdessen etwas anderes dahingestellt haben, nur die Nase
rümpfen, aber all das ist besser als gar kein Vorschlag.
Der Bürgerpark, um ihn als ein Symbol für die Biederkeit zu
nehmen, ist heute ein Niemandsland. Er hat keine Botschaft – weder in die Vergangenheit,
noch in die Zukunft. Auf ihm haben es
nicht nur die Bäume schwer.
Wirklich belebt habe ich ihn noch nie gesehen. Gäbe es das
Echazufer nicht, so hätte dieser Platz gar keine Bedeutung – noch nicht einmal
die, die der Architekt der Stadthalle damit verband. Er wollte Distanz
schaffen, um die Erhabenheit der Kultur zu demonstrieren. Kultur ist nie
erhaben, sondern mitten unter uns. Aber nun hat Corona auch die Kultur
vertrieben.
Es wird Zeit, dass sie zurückkehrt. Nicht als Stein, sondern
auf zwei Beinen. „Es muss ein Bewusstsein und den Willen geben, aktive Bürger
eines Ortes zu werden, sonst wird sich nichts an dem Ungleichgewicht ändern“,
meint der italienische Architekt Stefano Boeri. Er sieht die Stadt der Zukunft
vernetzt durch ihre Dörfer, in ihrer Kleinteiligkeit. Reutlingen aber dürstetr schon
zu lange und zu sehr nach dem großen Wurf. Befreien wir uns doch von unserer
Biederkeit!
Bildertanz-Quelle:Dimitri Drofitsch (Foto)