Sonntag, 16. Februar 2020

Blut oder Wein - das ist nicht die Frage


Eine kleine Anmerkung zu meinem Zeitzeugen-Film



 Rolf Miccolo: Hat er Wein in Blut verwandelt? Noch heute kämpft er gegen das Trauma von 1945, als er zwölf Jahre alt war und in Reutlingen der Feuerwehr helfen musste

Es geht um meinen Film "ZEITZEUGEN 1945". Hier äußert sich Rolf Milocco. wie er als damals noch zwölfjähriger Bube nach einem Bombenangriff auf den Reutlinger Hauptbahnhof und den Listplatz der Feuerwehr bei den Löscharbeiten helfen musste. Ein Bunker war zerstört und ein riesiges Wasserloch war entstanden, da durch den Bunker Wasserleitungen gingen. Rolf hatte die Aufgabe, die Pumpen, mit denen die Feuerwehr Löschwasser aus dem Teich absaugte, von Leichteilen zu befreien und auf einem gesonderten Platz zu stapeln. Er erzählt, dass das Wasser blutrot gewesen sei. In zwei Leserbriefen an den GEA wurde dies nun bezweifelt. Die Farbe sei vielmehr durch Rotwein entstanden, der in einem ebenfalls von dem Kriegsgeschehen zerstörten Keller hierher geflossen sei. Die Menschen in dem Bunker seien allenfalls ertrunken, aber nicht zerfetzt worden. In ihren Ausführungen beziehen sich beide auf den Artikel über meinen Film im Reutlinger Generalanzeiger. Sie haben diese in dem Artikel nur angerissene Zeitzeugenaussage offensichtlich nicht selbst gesehen.

Ich möchte dies einmal als Anlass nehmen, um grundsätzlich Stellung zu beziehen. Mir geht es mit dieser Dokumentation allein um die Menschen, um die durchaus traumatischen Erlebnisse, mit denen sie damals zu kämpfen hatten und mit denen sie allein fertigwerden mussten. Rolf war zwölf Jahre alt, niemand hat ihm damals die Situation erklärt, kein Historiker, die ohnehin selten dabei sind, wenn etwas passiert, kein Psychologe oder Psychiater, kein Feuerwehrmann, niemand. Und wie sehr ihm dies 75 Jahre später noch nachging, kann man  ihm, der heute in den USA lebt, deutlich ansehen. Für ihn musste der Teich blutrot sein. Ich hätte in der Situation auch keine andere Erklärung gehabt - und das Wegnehmen der Leichenteile ist ganz bestimmt nicht etwas, was man erfindet. Man kann in dem Film seiner Mimik deutlich ansehen, wie in ihm diese ganze Schreckensszene wieder auflebt. Ähnlich ging es dem 16jährigen Rudolf Walz aus Betzingen, dem mit Erschießen gedroht worden war.

Was Kinder und Jugendliche damals erlebt haben, das ist eigentlich der Schwerpunkt dieses Zeitzeugenfilms. Ich habe zu keinem Zeitpunkt versucht, die Aussagen der Interviewpartner in irgendeine Richtung zu lenken. Mir ging es wirklich allein darum, die Erlebnisse so darzustellen, wie die Betroffenen sie selbst empfunden haben - auch noch ein Lebensalter später. Wie sehr sich die Menschen zurückversetzt wurden in eine Zeit, von der sie glaubten, dass sie diese vergessen hätten, merkt man auch an ihrer Sprache. Sie sprechen nicht von Befreiern und Befreiung, sie sprechen vom Feind, sie sprechen vom Umsturz. Sie sind wieder im Jahr 1945. Ich glaube, das ist es dann auch, was den Zuschauer in diese Geschichten hineinzieht: dieser absolut subjektive Bezug zu den dokumentierten Ereignissen, die erst aus den persönlichen Erzählungen vorstellbar werden.

Viele der inzwischen 44 Gesprächspartner, die ich in den letzten elf Jahren habe interviewen dürfen, sind leider bereits verstorben. Ich bin sehr froh darüber, dass ich deren Erlebnisse habe festhalten können - für uns Menschen heute und für zukünftige Generationen. Vielleicht ist es Mahnung, mit unserer Demokratie sehr sorgfältig umzugehen - und zwar auf allen Ebenen.

Bestürzend für mich ist (und ich habe bis heute auch keine Antwort darauf gefunden), dass aus all diesen Erzählungen, und ich könnte daraus ohne Probleme einen Vierstundenfilm machen, eins ganz deutlich wird, wie sehr der Mensch in absoluten existentiellen Situationen vor allem Mensch ist. Ich wünschte mir manchmal, auch von mir selbst, dass wir dieses Grundgefühl stärker in unseren Alltag mitnehmen. Vieles, was uns wichtig erscheint, würde sich dann relativieren.

Ich glaube, dies ist die Botschaft der Zeitzeugen, die sich mit all ihrer Authentizität der Kamera gestellt haben - sie erzählen es so, wie sie es erlebt haben. Näher kommt man als Journalist nicht ran. Und das macht mich natürlich auch stolz.

Am Freitag, 27. März 2020 ist die nächste Gelegenheit, den Film in Gemeindesaal der evangelischen Auferstehungskirche zu sehen. Ein weiterer Termin ist Sonntagnachmittag, 19. April 2020 im Gemeindesaal der Katholischen Kirche Sankt Andreas in Orschel-Hagen. Eine dritte Möglichkeit besteht am Montag, 20. April im Gemeindesaal der Evangelischen Kirche in Altenburg. Eine weitere Gelegenheit wird es im Kolpinghaus in der Stadtmitte geben und in Zusammenarbeit mit dem Bezirksgemeinderat in Betzingen und Oberbürgermeister Thomas Keck. Da warte ich noch auf Terminvorschläge.

Natürlich bin ich jederzeit bereit, den Film auch bei anderen Gelegenheiten zu zeigen. Meine Adresse: raivollmer@aol.com

Raimund Vollmer
 
Bildertanz-Quelle: RV

Freitag, 14. Februar 2020

Reutlingen und die Frage: Wenn Charles De Gaulle den Krieg gewonnen hätte...




 Deutsche und Franzosen - im Reutlingen der achtziger Jahre eine intensive Freundschaft...
 ... in der man sich gegenseitig bewunderte...
... und ehrte. Deutschland war längst nicht mehr der unverbesserliche Erzfeind, für den uns der General Charles De Gaulle noch 1944 hielt.

(Erstveröffentlichung am 27. Dezember 2015)
Ein kleines Gedankenexperiment von Raimund Vollmer
Dieser Tage fiel mir eine längst vergessene Ausgabe der "Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte" aus dem Jahr 1973 wieder in die Hände. Ich blätterte darin herum und stolperte in einen Beitrag zum Thema "Etappen der Außenpolitik De Gaulles - 1944-1946" hinein.[1] Ohne sonderliche Aufmerksamkeit begann ich zu lesen und merkte gar nicht, wie mich der Autor, der Historiker Walter Lipgens, in seine Geschichte hineinzog. Demzufolge hatte der damalige Chef der provisorischen Regierung in Frankreich, der spätere Präsident Charles De Gaulle, keinen größeren Wunsch, als sein Land zu alter Größe zurückzuführen und den Erzfeind Deutschland ein- für allemal als Ganzes von der poltischen Landkarte verschwinden zu lassen. Das Ruhrgebiet, dessen Kind ich bin, wollte er unter internationale Aufsicht stellen - mit dem Ziel, dass die Erlöse aus dem Verkauf von Kohle und Stahl Frankreich zukommen solle. Der Rhein sollte die Grenze zu einem zerstückelten Land sein, das im Westen so amputiert wäre wie im Osten.
Je mehr mich diese akribisch dokumentierte und recherchierte Geschichte faszinierte, desto mehr fragte ich mich, was wäre gewesen, wenn De Gaulle sich mit all seinen Vorstellungen durchgesetzt hätte. Es gäbe kein Baden-Württemberg, auf jeden Fall kein Baden, das wäre französisch. Es gäbe auch keine Bundesrepublik, vielleicht gäbe es ein eigenes Land namens Württemberg. Möglicherweise wäre Reutlingen als Teil der französischen Besatzungszone sogar auch nicht mehr deutsch, sondern würde zu Frankreich gehören. Erste Sprache hier wäre französisch, nicht schwäbisch. So wäre es vielleicht gekommen, wenn Frankreich den Krieg als gegenüber den Alliierten emanzipierte Siegermacht gewonnen hätte?
Aber es boten sich noch ganz andere Alternativen. Die nichtkommunistische "Resistance" in Frankreich glaubte nicht erst mit dem Einmarsch der Deutschen 1940, dass der Nationalstaat als solcher sich überlebt hatte und zu klein sei, um die wirtschaftlichen Probleme der Zeit lösen zu können. Er konnte ja noch nicht einmal dem einzelnen Bürger Sicherheit bieten. So  träumte der Widerstand von einer internationalen Gemeinschaft - von einem Europa, wie es sich - auch siebzig Jahre nach Kriegsende - zwar schon ziemlich entfaltet hat, aber immer noch im Entstehen ist. Die Außenpolitik De Gaulles, der sich mit seiner provisorischen Regierung innerhalb Frankreichs machtpolitisch durchsetzte, verzögerte diesen "Anpassungsprozess", meint Lipgens. Was aber wäre gewesen, wenn es De Gaulle nicht gegeben hätte? Wäre Frankreich überhaupt Besatzungsmacht geworden?
In Jalta, auf der Krim im Februar 1945, meinte der Kremlführer Josef Stalin gegenüber dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt über die Forderungen der provisorischen französischen Regierung: "De Gaulle scheint die Lage nicht zu erfassen, noch scheint er zu begreifen, dass Frankreichs Beitrag zu den militärischen Operationen sehr gering ist und dass es außerdem im Jahr 1940 überhaupt nicht gekämpft hat." [2]
Nur "aus Freundlichkeit" hatte Stalin in Jalta dem Ansinnen der Briten und Amerikaner zugestimmt, Frankreich eine eigene Besatzungszone zuzuteilen. Andernfalls wäre Reutlingen vermutlich amerikanische Besatzungszone geworden. Manches andere ließe sich dazu spekulieren - als reines Gedankenexperiment. Die USA, die ja immerhin mit fünf Millionen Menschen im 2. Weltkrieg engagiert waren, wollten sich ursprünglich nach zwei Jahren aus Europa wieder zurückziehen. Wären wir dann vollkommen unter den nicht minder starken russischen Einfluss geraten? Hätten die Briten allein dagegenhalten können? Hatte nicht Winston Churchill deshalb in Jalta Frankreich auf den Plan gerufen, weil er ein Gegengewicht zu Russland (und auch zu den USA) haben wollte? Wäre nicht - wie dann nach dem Krieg zu sehen war - Europa am Misstrauen der Länder untereinander endgültig zugrundegegangen, wenn die Amerikaner nicht geblieben wären und 1947 den "Marshall-Plan" ins Leben gerufen hätten?
Natürlich sind solche Fragen müßig und bestimmt auch laienhaft von mir vorgetragen. Und es sind sicherlich Fragen, die einem in der Muße von Feiertagen kommen und keine Antwort finden. Sie sind irgendwie sinnlos - und doch stimmen sie einen nachdenklich, weil man sie irgendwann auf sich selbst bezieht, auf sein eigenes Schicksal: Was wäre aus dir selbst geworden? Würdest du überhaupt hier leben? Vielleicht wären die Menschen, die hier wohnen, ein ganz anderes Volk, keine neue Heimat für die Vertriebenen, eine ganz andere Mischung an Zugereisten, was wäre mit all den Sitten und Gebräuchen, mit dem Mutscheltag, der Kehrwoche, dem Dialekt? Wie sähe unsere Stadt wohl heute aus? So ein wenig herumspinnen, macht ja auch intellektuellen Spaß. Am Ende wird man jedoch sagen können: Reutlingen hieße immer noch Reutlingen...


[1] Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Heft 1 1973, Walter Lipgens: "Etappen der Außenpolitik De Gaulles"
[2] Der Spiegel, 14. April 1965, Arthur Conte: "Die Teilung der Welt - Jalta 1945"
 

Bildertanz-Quelle: Sammlung Bildertanz

Mittwoch, 5. Februar 2020

Das traurige Beispiel Pfullingen


1959: »Die Macht hat die Tendenz, sich zu verabsolutieren, sich von ihrem Inhalt zu lösen und sich selbst zum Wert zu machen.«

Günter Eich (1907-1972), deutscher Lyriker, in seiner Büchnerpreisrede 1959




Ein unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

Nichts hat sich seit der Rede des berühmten deutschen Lyrikers geändert - wie wir beim Blick auf das Rathaus in Pfullingen sehen können. Da ist ein Bürgermeister, der alle Macht auf sich vereint sieht, und da ist ein Gemeinderat, der sich nicht zu dessen Erfüllungsgehilfen herabsetzen lassen will. Mit gutem Grund: Der Rat ist von den Bürgern gewählt worden mit dem Ziel, vor allem die Stadtverwaltung zu kontrollieren und zu helfen, die Politik der Stadt mitzugestalten. Aber da gibt es auch noch den Bürgermeister, der ebenfalls direkt gewählt wurde und zugleich Chef der Verwaltung ist, die zu kontrollieren der Gemeinderat aufgerufen ist. Der Pfullinger Bürgermeister  fühlt sich für alles zuständig. Er reißt die totale Kontrolle an sich, aber offenbar nicht die Verantwortung. Kontrolle ist die Basis seiner Macht. 


Schon haben wir den Salat. 

In Pfullingen meint der Bürgermeister, dass er der Chef des Ganzen sei - er leitet die Sitzungen des Gemeinderates und herrscht über die Verwaltung. Und wenn er klug ist, was eine der herausragenden Tugenden eines Bürgermeisters sein sollte, dann überstrapaziert er niemals seine Position. Denn dann kann es sein, dass es nicht mehr um die Inhalte geht, sondern um Macht als Eigenwert.

Genau das ist momentan in Pfullingen eingetreten - mit  dem Ergebnis, dass die Bürger ihm nun das Vertrauen entziehen. Jedenfalls muss man so die Unruhe in dieser doch sonst so beschaulichen Stadt interpretieren. 
 

Ein Bürgermeister besitzt wie der Gemeinderat eine formale Autorität, die beiden durch die Gesetze und Gemeindeordnung zugesichert wird. Was die Protagonisten selbst mitbringen müssen, ist die natürliche Autorität - das, was sie an Ideen, an Persönlichkeit, an Geisteshaltungen, an Ethos in die Entscheidungsfindungen einbringen. Und das führt, wenn gelebt, meistens dazu, dass eine Gemeinde sehr lebendig wirkt und auch ist, ganz bestimmt auch eine motivierte Verwaltung besitzt und selbst ein Bademeister seinem Job gerne nachgeht, nach bestem Wissen und Gewissen.

In meiner Anfangszeit als Journalist durfte ich einmal das 1000jährige Bestehen einer Stadt begleiten. Und auf der Titelseite der Beilage zum Jubiläum waren der Oberbürgermeister, ein Fußballspieler (Jupp Heynkes) und ein hoher Kirchenvertreter verewigt. Tödlich beleidigt war der Stadtdirektor, der Chef der Verwaltung, der nicht dazu gehörte. Er fühlte sich herabgesetzt. In Baden-Württemberg wäre dieser Faux-pas niemals passiert. Denn dort war seit eh und je der Chef der Verwaltung auch der Chef des Parlamentes. In Nordrhein-Westfalen, wo ich meinen Beruf erlernte, war das nach dem Krieg nicht so. Es war britische Besatzungszone, es herrschten britische Gepflogenheiten. Ich persönlich fand diese Teilung sehr, sehr gut, weil es auch formal die Grenzen der Macht sichtbar werden ließ. Der Bürgermeister war Chef des Parlamentes, der Stadtdirektor Chef der Verwaltung. Eine klare Trennung. Den Kommunen ging es gut, niemand kam auf dumme Gedanken. So war das jedenfalls in meiner Wahrnehmung.


Klar: In einem solchen Gefüge ist der Stadtdirektor nicht so wichtig wie der Bürgermeister - jedenfalls im Ansehen der Bevölkerung, aber auch formal: der erste Mann in der Stadt war der Bürgermeister. Hier in Baden-Württemberg belegt er in einer Person die erste und die zweite Person, wobei er wahrscheinlich die Verwaltung an die erste Stelle rücken möchte. Jedenfalls kommt es einem in Pfullingen so vor.

In Reutlingen sah das auch mal viele Jahre so aus. Die Verwaltung bestimmte das, zu dem die Räte zustimmen sollten. Das ist anders geworden, so mein Eindruck. Hier versteht sich inzwischen der Oberbürgermeister eher als Integrator, was zeigt, wie sehr es auf die natürliche Autorität ankommt.

Ein guter Bürgermeister sollte auf seine Integrität achten. Das ist die einzige Macht, die er wirklich besitzt. Sie ist ihm Inhalt und Selbstwert. Die Bürger reden dann mit Achtung von ihm - auch in den "sozialen Medien". 

P.S. Man sollte als Politiker eins nie vergessen: Auch Macht ist eine Energie, die sich verbraucht. 
Bildertanz-Quelle:RV