Samstag, 23. Mai 2020
Freitag, 22. Mai 2020
Freitag, 8. Mai 2020
Corona und der Tag der Befreiung
1990: »Ich glaube aber, wenn Sie von politischer
Macht sprechen: Der muss man sich rigoros entziehen.«
Rolf Liebermann (1910-1999), Schweizer Komponist und Intendant[1]
Vielleicht nicht ganz so unzeitgemäße Betrachtungen von Raimund Vollmer
Heute ist der 8. Mai 2020. 75 Jahre nach Kriegsende, das ich
um sieben Jahre verpasst habe. In den fünfziger Jahre deuteten allenfalls noch
ein paar aufgeräumte Trümmergrundstücke und versandete Bombentrichter auf die
Bombardierungen hin. Wir Kinder genossen in dieser Zeit eine beispiellose
Freiheit. Man ließ uns allein. Und da es genug von uns gab, haben wir uns
gegenseitig erzogen - was fehlte, wurde uns mit elterlicher Strenge und Güte
beigebracht. Zu sehr war den Erwachsenen bewusst, durch welches Unheil sie
hatten in den zwölf Jahren Nationalsozialismus haben gehen müssen. Angerichtet
hatte es vor allem die Generation unserer Großeltern, die durch zwei Weltkriege marschieren mussten.
Ich habe eine wunderbare Kindheit und Jugend erlebt, auch
wenn wir lernen mussten, mit der Bombe zu leben. Und wenn ich mich mit meinen
Altersgenossen unterhalte, egal, aus welcher Gegend Westdeutschlands, dann ist
es ihnen sehr ähnlich gegangen. Ein Atomkrieg war zwar jederzeit vorstellbar,
aber doch abstrakt. Auf jeden Fall war die Welt der Kinder deutlich getrennt
von der Welt der Erwachsenen, die genau damit beschäftigt waren, das Leben zu
meistern. "Atomkrieg" haben wir nie gespielt. Mein Vater gönnte mir
noch nicht einmal Spielpistolen, die man doch als Cowboy dringend benötigte. Er
ließ mich mit leeren Cowboygürtel herumlaufen (bis es ihm selbst zu dumm
wurde).
Um mehr als 60 Prozent war 1945 die Wirtschaft geschrumpft.
"Wir hatten nichts, gar nichts", sagte mir gestern ein befreundeter
alter Herr, der das Ende des Krieges in Stuttgart als damals sechsjähriger Bube
erlebte. (Bevor sich irgendjemand aufregt: wir haben telefoniert.) Ich wollte
von ihm wissen, was er davon hält, wenn unsere Bundeskanzlerin von dem
stärksten Eingriff seit 1945 spricht. Die Situation war überhaupt nicht
vergleichbar, was ja unsere Kanzlerin auch nicht behauptet hatte. 1945 war für
sie und ist es auch für uns eine Zäsur, in das, was folgte, wurde meine
Generation der Babyboomer und des Wirtschaftswunders hineingeboren. Die Epoche,
in der wir aufwuchsen, Eltern und jetzt Großeltern wurden, neigt sich nun ihrem
Ende entgegen. Es war eine Zeit, in der es - was meine Generation anbelangt -
doch so etwas wie Urvertrauen zu Staat und Gesellschaft gab. Kritik, auch schon
einmal heftig und leidenschaftlich formuliert, gehörte dazu.
Ich hatte eigentlich immer das Gefühl, in Freiheit zu leben.
Ganz, ganz selten - und umso erschrockener war ich dann auch - habe ich kalte
Macht gespürt. Sie kam dann stets aus dem Verborgenen, nannte nicht ihre wahren
Beweggründe. Sie versteckte sich, tarnte sich. Als Mensch, der es gewohnt war
mit offenem Visier zu kämpfen, war ich dann fassungslos - und ich glaube, es
hat mich auch schwer verletzt.
Was sehr und wie wenig ich darauf vorbereitet war, habe ich
dann vor genau zehn Jahren erfahren. Am 9. Mai 2010 wurde ich für fast drei
Wochen in ein künstliches Koma gelegt. Die Erinnerungen an die Zeit des
Wiederaufwachens und der Genesung gehören heute zu den kostbarsten Erfahrungen
meines Lebens. Ich habe mehrere Lektionen lernen müssen. Mir wurde sehr
nachdrücklich bewusst, wie wichtig mir Freiheit ist. Meine Pfleger haben mir zu
verstehen gegeben, dass ich diesem Freiheitsgefühl auch im Koma sehr stark
Ausdruck gegeben hätte. Die Menschen im Universitätsklinikum Tübingen habe ich
in allerbester Erinnerung. Sie waren für mich niemals das Gesundheitssystem,
das nun im Rahmen der Corona-Pandemie als besonders schützenswert gilt, sie
waren einfach Menschen. Sie waren Menschen, die nichts anderes taten, als
anderen Menschen zu helfen.
Nun erwacht die Welt gerade ebenfalls aus einer Art
künstlichem Koma. Was folgt, ist dann das sogenannte Durchgangssyndrom, das
mich auch voll erwischt hat und mir erschreckende, aber auch erheiternde Träume
bescherte. Sie sind mit heute noch so gegenwärtig wie vor zehn Jahren.
Das Problem ist nur: Ich konnte damals nicht unterscheiden,
was Traum und was Wirklichkeit war. Das voneinander zu trennen, war richtig
harte Arbeit. Zum Glück hat mich die Wirklichkeit zurückgeholt - mitsamt
meinen Erinnerungen an eine wunderbare
Kindheit, an ein Leben in Freiheit und Frieden.
Bevor es nun schnulzig wird, kehre ich zurück zu diesem 8.
Mai 1945, dem offiziellen Kriegsende, jedenfalls aus westlicher Sicht.
Mehr als 40 Interviews habe ich seit zehn Jahren zum Thema
Kriegsende und Nachkriegszeit geführt. Mit Menschen, die damals Kinder oder
Jugendliche waren, darunter waren auch damalige Soldaten. Unendlich viele
Erzählungen und Gedanken habe ich mit meiner Kamera aufnehmen dürfen - von
Menschen, die hier aufgewachsen sind oder die das Schicksal hierher verschlagen
hat. "Tag der Befreiung" hat keiner den 8. Mai genannt, sondern -
ganz ohne Arg - als "Tag des Umsturzes". Sie sprachen auch vom
"Feind", nicht vom Befreier. In ihnen lebt in ihren Erzählungen eine
ganz andere Zeit, eine ganz andere Prägung. Natürlich würde keiner von ihnen
der Rede unseres damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäckers anlässlich
des 40. Jahrestages des Kriegsendes widersprechen, als er den 8. Mai zum
"Tag der Befreiung" deklarierte. Denn im Nachhinein war es dies ja
auch. Aber vor 75 Jahren war es vor allem "Umsturz", zwar nicht von
uns selbst herbeigeführt, sondern von außen, durch die Alliierten. Man kann
also sagen: Dass wir seitdem in Frieden und Freiheit leben dürfen, ist nicht
unbedingt unser Verdienst.
Mir gehen diese Gedanken deshalb durch den Kopf (und ich
hoffe, dass sie nicht als unbotmäßig angesehen werden), weil ich glaube, dass
die Begrenzung auf das Jahr 1945 zu kurz greift, um die Pandemie zu erfassen, dass
der Horizont doch deutlich weiter gefasst werden muss, eigentlich auf die
letzten 250 Jahre, in der Abermillionen von Menschen ihr Leben gelassen haben,
um uns dieses Leben in Freiheit zu ermöglichen. Diese Freiheit und die ihr
zugrundeliegenden Menschenrechte sind
das größte Geschenk, das diese Menschen uns gegeben haben. Und dass sie dies
getan haben, war bestimmt nicht für sie persönlich vernünftig, aber unglaublich
wichtig für uns als Menschheit. Den Fortbestand eines Gesundheitssystems, überhaupt
irgendeines Systems, hatten sie eher nicht im Sinn. Es ging ihnen um uns - als
Menschen.
Wir haben in der Zeit der Corona-Pandemie geduldet, dass Freiheitsrechte
eingeschränkt wurden, ob dies nun geschah, um uns vor uns selbst zu schützen
oder das Gesundheitssystem vor uns, ist dabei gleichgültig. Tatsache ist, dass
wir es getan haben und mit uns tun ließen. Nun hoffen wir darauf, dass diese
Rechte im selben Maße wiederhergestellt werden, wie wir sie vor der
Corona-Krise hatten. Das sind wir nicht nur uns schuldig, unseren Kindern und
Enkelkindern, das sind wir all den Menschen schuldig, die ihr Leben gelassen
haben dafür, dass wir in dieser Freiheit leben dürfen.
In diesen letzten sechs Wochen war jeder Tag eine Epoche.
Alles geschah auf Sicht. Wir haben die Möglichkeiten und die Grenzen von
Wissenschaft, Technik und Politik gesehen. Wir müssen das, was wir erlebt
haben, nun in Perspektive setzen - persönlich und gemeinschaftlich. Vor allem
aber souverän. Wir sind vor uns selbst voll in der Verantwortung.
Der 8. Mai ist der Tag der Befreiung. Dahinter steht kein politischer Auftrag, sondern ein ganz persönlicher.
Bildertanz-Quelle:
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