Samstag, 27. Juni 2009

Gestern in Reutlingen: KAUM (W)ORTE DER IDENTIFIKATION


Ein Hauch von Blasiertheit lag schon über diesem Abend, als unter dem Titel "Orte der Identifikation" im Rahmen der Heimattage in einer Podiumsdiskussion im Foyer des Rathauses über Stadtentwicklung gesprochen wurde. Da wurde zuerst über den Begriff "Heimat" philosophiert, als könne man dieses wunderschöne Wort, das es so nur im Deutschen gibt und von den Nazis fast zu Tode vergewaltigt worden ist, auch jetzt, nachdem es endlich seine ursprüngliche Unschuld wiedergefunden zu haben scheint, nicht zur Ruhe kommen lassen. So möchte man nach anderthalb Stunde des Zuhörens in Anlehnung an Gertrude Stein widerborstig sagen: "Heimat ist Heimat ist Heimat." Punkt. Aus.
Aber die Moderatorin, die Fachjournalistin Amber Sayah, hatte nunmal das Thema "Heimat aus dem Blickwinkel der Stadtentwicklung und Architektur" zur Diskussion zu stellen. Und jeder musste dazu seinen Kommentar abgeben. Da war die Erste Bürgermeisterin Ulrike Hotz, bei deren Ausführungen man mitunter den Eindruck hatte, dass Stadtentwicklung etwas ist, das so an einem vorbeirauscht wie ihre Worte. Identifikation stiftete es nicht. Das was so abgehoben wie der Obertitel der Veranstaltung: "Orte der Identifiklation". Schon in ihrer Einführung hatte Hotz' Chefin, Oberbürgermeisterin Barbara Bosch, klargemacht, dass Stadtentwicklung in alle Richtungen gehen darf - nur nicht "rückwärts". Und das hat so manchen Zuhörer innerlich wütend gemacht.
Wer die Vergangenheit aussperrt, hat auch keine Zukunft. Ein geschichtsloses Reutlingen ist auch ein gesichtsloses. Vielleicht hat sie das alles gar nicht gemeint. Vielleicht haben wir sie nur gründlich mißverstanden. Vielleicht ist ihr Anliegen ein ganz anderes - und was dann bei Bosch & Hotz als Stadtentwicklung durchschimmerte, da hatte man den Eindruck, dass sie eine Stadt vor allem als eine sozialpädagogische Versorgungseinheit verstehen, in der alles von oben nach unten geregelt ist. (Übrigens einen "rückwärts" gewandteren Ansatz gibt es gar nicht.) Jedenfalls kamen die Außenbezirke, die man früher Dörfer nannte, gar nicht vor - und wenn doch, dann hießen sie Orschel-Hagen (Gartenstadt!!!) oder Betzingen (das mit seinen mehr als 10.000 Einwohnern eigentlich eine Kleinstadt ist).
Nun muss man sagen, dass mit Claus Maier, Prälat im Ruhestand, jemand auf dem Podium war, der als Altstadtbewohner das Ganze von unten nach oben betrachtete. Er liebt das städtische Umfeld. Und er nahm seinen Duz-Freund Karl-Heinz Walter, GWG-Geschäftsführer, mal ordentlich aufs Korn, indem er ihm die Bausünden der Vergangenheit vorwarf. Walter, sichtlich bemüht, sachlich zu bleiben, hätte hier durchaus mit mehr Leidenschaft kontern können. Es hätte der Veranstaltung, bei der keiner dem anderen wirklich wehtun wollte, mehr als gut getan. Walter betonte, dass es in der Nachkriegszeit zurerst einmal darum gegangen ist, Wohnraum für viele Menschen zu schaffen, für Menschen, die ihre Heimat verloren hatten, als Flüchtlinge hierher kamen. Architektonische Schönheit war da nicht gefragt. In Ordnung. Was aber fehlte, war dieses leidenschaftliche Plädoyer.
Vielleicht hätte dies einer wie Tillmann Marstaller ins Spiel gebracht. Fälschlich als Kulturwissenschaftler vorgestellt, beschäftigt sich der Freiberufler vor allem mit der Bewertung und dem Erhalt mittelalterlicher Bausubstanz. Und da hatte er für die Reutlinger eine gute Botschaft: Hier gäbe es weitaus mehr an mittelalterlichen Bauten als man vordergründig denken mag, allerdings seien die Bauten über das Statdgebiet verstreut. Sie ergeben kein einheitliches Bild - so wie der Marktplatz, der nichts anderes ist als ein Schmelztiegel der Geschichte. Vielleicht sollte man ihn auch so gestalten. Allerdings vermisst man hier den Hauch des Mondänen, der noch vor dem Krieg von dem Bürgerstolz des 19. Jahrhunderts kündete.
Zweckbauten dominieren. Natürlich war es dann schön zu hören, mit welcher Leidenschaft, mit welchen Sorgen und Ängsten, mit welcher Freude am Gestalten ein Investor wie Willi Schöller die Stadtentwicklung begleitet. Da kam Leben auf.
Keineswegs akademisch, sondern sehr nah am Leben waren auch die Ausführungen des Architekten Thomas Jocher. Irgendwie war da auch der Begriff Heimat wieder da - in seiner ursprünglichen Bedeutung. Es muss nicht alles schön sein, mittelalterlich aussehen, voller Fachwerk sein, aber es muss Leben ausstrahlen. Nicht die Anonymität der Großstadt, wie sie im 19. und 20. Jahrhundert entstand, sondern mit jener physischen Nähe, die wir in einer zunehmend virtualisierten Welt mehr denn je benötigen. Nun, wer in die Außenbezirke geht, in das, was man vormals Dörfer nannte, der spürt diese Nähe. Noch.
Trotz aller Kritik - hoffentlich gibt es solche Veranstaltungen auch im nächsten Jahr, wenn die Reutlinger Heimattage beendet sind. Die Stadt Reutlingen hatte ja gestern mit der Architektenkammer Baden-Württemberg einen Veranstaltungspartner, der sicherlich noch eine ganze Menge Würze in das Thema hineinbringen könnte. Sehr zum Nutzen der Stadt, ihrer Dörfer (denn erst deren Eingemeindung hat zu Beginn der siebziger Jahre aus Reutlingen eine Großstadt gemacht) und der Bürger, für die Reutlingen doch Heimat sein möchte. Oder nicht?
Bildertanz-Fotos: Jürgen Reich

1 Kommentar:

Werner Früh hat gesagt…

Lieber Raimund, die wirklichen Orte der Identifikation sind halt doch unsere Blogs, gell