„Charley“, sagt der Vollmer zu mir und runzelt die Stirn. Er steht im Türrahmen meines Büros. Sein Blick geht über all die Papierstapel, die sich in den letzten Monaten bei mir angehäuft haben. Zeitungen, Zeitschriften, Pressemappen und anderes nicht minder vergängliches, zumeist ebenso unverdauliches, auf jeden Fall immer unverderbliches Zeug türmen sich rund um meinen Schreibtisch. „Es wird Zeit, dass du mal aufräumst, oder willst du dich hier verbarrikadieren – vor mir und der Wirklichkeit?“
Ich blicke um mich und denke: „Keine schlechte Idee.“ Das mit der Barrikade, nicht mit dem Aufräumen. Aber das kann ich natürlich nicht sagen. So antworte ich: „Weißt du, Chef, am Chaos erkennt man den guten Journalisten.“ Kaum ist mir dies rausgerutscht, fällt mir ein, dass Vollmers Büro immer blitzsauber aufgeräumt sein möchte. „Und an Büros wie deinem erkennt man den guten Chef“, setzte ich deshalb schnell nach. Vollmer murrt und knurrt kurz. Dann setzt er sich auf einen der Zeitungsstapel. „Weißt du“, sagt er, „von mir aus kannst du soviel Material sammeln, wie du willst. Die besten Geschichten schreibt sowieso das Leben.“ – „Jawohl, Herr Oberlehrer“, denke ich und nicke scheinheilig.
„Warte mal, ich muss dir etwas erzählen“, springt der Chef vom Bildertanz plötzlich auf, verschwindet aus meinem Büro und kommt eine Minute später mit einer Flasche Lemberger und zwei Viertelegläser zurück. „Bei Dir ist es irgendwie gemütlich“, erklärt er, während er die Flasche entkorkt und uns beiden einschenkt. Wir prosten einander zu.
„Ich muss dir etwas erzählen, was ich gestern gehört habe“, beginnt nun der Vollmer. „Eine junge Frau von der Schwäbischen Alb“ – das ist die Gegend, von der wir wissen, die direkt nach dem Ende der Welt anfängt – „war noch nie weiter weg von zuhause als vielleicht Stuttgart. Kürzlich hat sie etwas Geld geerbt und beschloss, die große weite Welt zu besuchen.“ Er nimmt einen großen Schluck, ich eifere ihm nach. Dann setzt er fort: „Dieses Mädchen wollte unbedingt New York sehen, Manhattan, die Wolkenkratzer, Freiheitsstatue. Du weißt, was ich meine.“ Natürlich weiß ich es. Und ich weiß auch, dass dort die besten Zeitungen gemacht werden. Der Vollmer sitzt gerade auf solch einem Stapel. „Aber New York ist doch gefährlich“, werfe ich ein, „gerade für ein junges Mädchen.“ Vollmer nickt. „Dessen war sich diese Schwäbin auch bewusst. Deshalb hatte sie auch im Plaza-Hotel gebucht.“ – „Das muss dann aber schon eine gute Erbschaft gewesen sein“, unterbreche ich meinen Chef. Doch er redet weiter: „Auf jeden Fall betritt sie am Abend des ersten Tages den Aufzug, um nach unten in die Lobby zu fahren. Die Tür des Aufzugs ist schon fast geschlossen, als sich plötzlich ein Kerl hineinzwängt. Völlig vermummt, im grauen, hässlichen Jogginganzug, offensichtlich von dunkler Hautfarbe. Unsere Schwäbin ist zu Tode erschrocken. Für sie ist klar. Das ist ein Raubüberfall. Als der Typ sie anspricht und brummend fragt: „Down?“ wirft sich die junge Frau sofort auf den Boden. Bloß keinen Widerstand zeigen, alles tun, was der Räuber sagt. Doch schon ist der Aufzug unten angekommen. Die Tür öffnet sich, der Kerl verschwindet. Unsere Schwäbin ist froh, dass sie noch einmal davongekommen ist.“
„Nette Geschichte“, sage ich und lächele ein wenig. Doch Vollmer meint nur: „Warte, sie ist noch nicht zu Ende.“ Er füllt unsere Gläser nach. „Also“, setzt er fort, „zwei Tage später reist die Schwäbin wieder ab. Sie geht zur Kasse und will zahlen. Daraufhin meint der Hotelangestellte: ‚Ihre Rechnung ist bereits bezahlt. Dann habe ich noch einen Brief für Sie.’“ Jetzt bin ich gespannt wie ein Flitzebogen: „Und was stand drin in dem Brief?“ Vollmer genießt diesen Augenblick vor der Pointe. Er grinst kurz, nimmt einen Schluck, setzt langsam das Glas ab und schaut mich dann mit gespieltem Ernst an. „Das Mädchen macht den Brief auf und liest. ‚Dies war die lustigste Szene, die ich je erlebt habe. Danke.’ Und dann kam die Unterschrift. Da stand tatsächlich ‚Will Smith.’“
Ich pruste los und ein paar Spritzer Rotwein landen auf einem Stapel Wall Street Journal. „Ist das wirklich wahr?“ frage ich. Und Vollmer antwortet mit einer Gegenfrage: „Bin ich ein guter Journalist oder nicht?“
Am nächsten Tag habe ich dann mein Büro aufgeräumt.
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