„Charley“, sagt der Vollmer zu mir, „was sagst Du eigentlich zum Ölpreis?“ Erschrocken fahre ich zusammen. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie sich der Chef in mein kleines Büro hineingeschlichen hatte. Nun steht er hinter mir und schaut mir über die Schulter direkt auf meinen Bildschirm. Zum Glück sieht dort alles dienstlich aus. Windows. Word. Web.
Ich sitze gerade an einem Bericht über einen sehr berühmten Sack Reis in Peking. Schon seit Monaten beobachte ich dort per Webcam alle Aktionen rund um diesen Sack. Doch ist er bislang ebenso wenig umgefallen wie das ebenso berühmte Fahrrad, das daneben steht. Im Rahmen einer Langfriststudie wollte ich feststellen, welche Auswirkungen der Sturz beider Zufallsgeneratoren auf unsere Welt, unser Klima und das Leben nach dem Tod aller Menschen hat.
Doch nun bringt mich der Vollmer auf eine andere Idee. Ich drehe mich um. „Du“, sage ich zu meinem Chef, „das ist jetzt aber mal eine richtig gute Frage.“ Vollmer wird etwas unruhig. Denn Lob von meiner Seite ist er nicht gewohnt. Deshalb setze ich auch sofort nach. „Weißt du“, erkläre ich ihm, „ich frage mich nämlich seit 20 Jahren, seit ich zum ersten Mal von der Chaostheorie gehört habe, warum die Wissenschaftler in aller Welt unbedingt wissen wollen, ob und wie sehr das Umkippen eines Sacks Reis oder eines Fahrrads in Peking das Weltgeschehen verändert.“ Der Vollmer schaut etwas irritiert. Ich glaube, er befürchtet, dass nun eine Situation entsteht, in der er wieder einmal auf die Schippe genommen wird, ohne es zu merken. „Raimund“, säusele ich deshalb mit meinem ganzen Charme, während mir zugleich der Schmeichel-Speichel links und rechts die Mundwinkel hinunterfließt, „viel wichtiger ist die Frage, was passiert, wenn der Sack Reis oder das Fahrrad nicht umkippen?“ Das „Nicht“ betone ich dabei ausgesprochen fett gedruckt. Der Chef ist jetzt so fasziniert, dass er noch nicht einmal weiß warum. Aber irgendetwas muss er doch sagen. „In der Tat“, starrt er mich an und mimt dabei den Intellektuellen, „das ist ein epochaler Perspektivwechsel, aber was hat das mit meiner Frage nach dem Ölpreis zu tun?“ – „Raimund“, erkläre ich ihm mit sanftem Unterton, „allein die Tatsache, dass der Ölpreis wieder gestiegen ist, obwohl sich – wie die Webcam nachweist – weder der Sack Reis noch das Fahrrad in irgendeiner Form bewegt haben, sollte uns sehr zu denken geben.“ – „Aha.“ Vollmers Gesichtsausdruck ähnelt jetzt sehr stark dem Sack Reis in Peking. Ich weiß, dass ich ihn jetzt so weit habe, um meine Sensation zu platzieren. „Ich befürchte“, schaue ich ihm tief in die Augen, „dass wir es hier mit einer Verschwörung zu tun haben. Die OPEC beherrscht nicht nur den Ölmarkt, sie hat inzwischen auch den Markt für Reis und Fahrräder unter ihrer Kontrolle.“ – Endlich weiß der Raimund, warum er fasziniert ist. „Stimmt, es herrscht weltweit Mangel an Reis. Und bei dem Ölpreis müssen wir bald alle auf Fahrräder umsteigen.“ Der Chef ist nun völlig von sich überzeugt. Doch schon packt ihn der Zweifel: „Was können wir dagegen tun?“ – „Chef“, antworte ich ihm, „ich hätte da schon einen Vorschlag, aber der würde etwa 10.000 Euro kosten.“ – „Mehr nicht?“ – „Bekomme ich das Geld?“ – „Bekommen wir die Story?“ – Ich nicke. – „Okay, und was machst du mit dem Geld?“ – „Ich fliege nach Peking.“ – „Aha, du willst doch bloß auf meine Kosten eine Weltreise machen.“ – „Aber nein doch, Chef“, antworte ich treuherzig – „Was dann?“ – „Um die OPEC zu brechen, muss irgendjemand endlich mal nach Peking und den Sack Reis und das Fahrrad umstoßen…“
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