Mittwoch, 16. Februar 2011

Die Wilhelmstraße: Dereinst die längste Theke der Stadt


Wo einst Beckenwirtschaften sich aneinander reihten,
später von einheimischen Kaufleuten und deren Geschäften verdrängt wurden,


... sind jetzt Filialbetriebe großer Ketten zuhause:
in Reutlingens Wilhelmstraße.
Bildertanz-Quelle: Richard Wagner/Manfred Leippert


»Betrat man im 18. Jahrhundert die Stadt durch das Stuttgarter Tor, stieß man nahezu in jedem Haus auf Beckenwirtschaften. Den Bäckern, die zahlenmäßig in diesem Stadtviertel überwogen, gehörte oft nur der vierte Teil des Hauses, in dem sie außer dem Backofen kaum mehr als eine Stube und Küche hatten.
Ließ man den Nikolaiplatz hinter sich, nahm die Dichte der Beckenwirtschaften zwar etwas ab, aber Durst brauchte man hier auch nicht zu leiden. Erst hinter dem Marktplatz wurden die Einkehrmöglichkeiten rar. Es scheint so, als ob die obere Wilhelmstraße erst im 19. Jahrhundert von Wirten entdeckt worden wäre.
Die einzigen Gasthöfe, die im 17. Jahrhundert nicht am Marktplatz standen, befanden sich in der Wilhelmstraße. Es waren die beiden, während des 30jährigen Krieges entstandenen Gasthöfe "Pflug" am unteren Tor und "Linde" am Lindenbrunnen.
Nach einer Welle von Gaststättenöffnungen in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, die auch die Wilhelmstraße überflutete, begann sich der Wert der Wilhelmstraße als Geschäftsstraße im heutigen Sinne erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemerkbar zu machen, nicht zuletzt auf Kosten des Marktplatzes, des Hauptumschlagplatzes für Waren aller Art, der im 19. Jahrhundert infolge der Verlagerung der meisten Handelsgüter auf die Geschäfts- und Warenhäuser viel an seiner Bedeutung verlor. Im 20. Jahrhundert verdrängten die Geschäfte die Wirtschaften fast völlig aus der Wilhelmstraße.
Aus der großen Zeit des Reutlinger Haupthandelsgegenstandes Wein sind einige wenige Bäckereien in der Wilhelmstraße übriggeblieben, deren Ursprung oft bis zum großen Stadtbrand 1726 und noch weiter zurückreicht.«

Reutlinger Geschichtsblätter, 1978 - ein überaus vortreffliches Buch.

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