Samstag, 7. September 2013

Eine Fahrt in die Vergangenheit: Warum ich Reutlingen plötzlich wunderschön finde

Mönchengladbach vor 40 Jahren - Foto aus meiner Zeit als Volontär

Wenn einer eine Reise tut - Ausflug nach Mönchengladbach
Von Raimund Vollmer

Im Juli 1973 begann ich in Mönchengladbach meine Ausbildung zum Redakteur bei der Westdeutschen Zeitung. Dieses Volontariat brachte mich zurück in eine Stadt, in der ich zwischen 1961 und 1966 bereits gelebt hatte. Dort war ich noch ein paar Monate zur Volksschule gegangen. Nachdem ich damals die Aufnahmeprüfung, die in NRW verpflichtend war, bestanden hatte, durfte ich ab Herbst 1961 das Stiftische Humanistische Gymnasium besuchen. Es war eine Penne wie aus der Feuerzangenbowle, ebenfalls nur für Jungen. Die Lehrer waren genauso verschroben, genauso liebenswert wie in dem Rühmann-Streifen. Und das Treppenhaus war ebenso wuchtig wie in dem Film. Die Schulbänke hatten noch Löcher und Klappen für Tintenfässer, es war alles so, wie man es in seinem Leben nie vergisst. Doch das Gymnasium gibt es schon lange nicht mehr. Es wurde durch einen Neubau ersetzt. Nur noch zwei Säulenheilige erinnern an die alte Schule.
Der Neubau meines Gymnasiums. Bald Gesamtschule
Die Säulenheiligen: Überbleibsel des Altbaus

Wir kamen vom Land, einer Kleinstadt im Münsterland. Dies war meine erste Großstadt. Und ich weiß noch, als meine Mutter mit uns durch die Hindenburgstraße ging, dass ich zutiefst geschockt war. Es war alles so groß, so verwirrend, so viele Menschen überall. Aber die Angst legte sich schnell. Durch das Fahrrad, dort ein ganz selbstverändliches Fortbewegungsmittel, wurde die Welt sehr schnell sehr viel überschaubarer. Meine Klassenkameraden kamen von überall her. Und mit dem Fahrrad kamst du überall hin.
Das Münster: grell bis ins Kapitell
In der Krypta: Altar unter Milchglas
Kurz bevor wir nach Düsseldorf, genauer nach Erkrath, weiterzogen, begegnete mir zum ersten Mal bewusst der Name Reutlingen. Ja, ich hatte sogar im Schulatlas nachgesehen, wo dieser Ort genau lag. Denn meine Liebe zu Borussia Mönchengladbach war erwacht, Borussia Dortmund, der Verein meiner Geburtsstadt, war an die zweite Stelle gerückt. Und 1965 hatte Mönchengladbach als Westdeutscher Meister der Regionalliga die einzigartige Chance in die erste Bundesliga aufzusteigen. Es gab nur einen echten ernstzunehmenden Gegner: der SSV Reutlingen. Und nach dem 1:1 im Hinspiel hatten wir in Gladbach einen Riesenrespekt vor den Schwaben. Da auch noch Günter Netzer in der Straße, in der wir wohnten, in der Staufenstraße, seine Freundin hatte, wuchs meine Sympathie für die Borussia ins Grenzenlose. Immerhin konnte ich den Star fast jeden Tag sehen.
Umso glücklicher war ich Jahre später, also 1973, dass mich die Zentralredaktion in Düsseldorf als Volontär nach Mönchengladbach schickte. Bald merkte ich, dass das "Lokale" die schönste Aufgabe im Journalismus ist. Das Glück wollte es, dass in dieser Zeit die Stadt 1000 Jahre alt wurde und ich sollte dazu an mehreren Tagen eine Sonderausgabe machen, zudem gab es damals den Katholikentag und die WM 1974, die ja immerhin mit Heynckes, Vogts, Wimmer und Bonhof vier Weltmeister aus Gladbach produzierte. Sogar beim Bundespräsidenten Scheel war ich gewesen, hatte alles mitnehmen dürfen. Es war eine tolle Zeit, und ich hatte mit Wolfgang Wirsig einen phantastischen Volontärsvater. Er hat mir unendlich viel beigebracht.
Die Hindenburgstraße: verramschte Einkaufsmeile
All diese Erinnerungen und vieles mehr überwältigten mich, als ich diese Woche für zwei Tage in Mönchengladbach war. Und es hätte ein so schöner Besuch sein können, wenn ich nicht völlig entsetzt gewesen wäre über die Veränderungen, die diese Stadt in den vergangenen 40 Jahren durchgemacht hat. 1973 war Mönchengladbach eine Stadt mit rund 150.000 Einwohnern, heute sind es nach der Fusion (1975) mit der Nachbarstadt Rheydt rund 255.000 Bürger. (MG ist übrigens die einzige Stadt in Deutschland, die zwei Hauptbahnhöfe hat.)
Wenn du zurückkommst in eine Stadt, in der du mal zur Schule gegangen bist, in der du deinen Beruf gelernt hast, dann willst du natürlich sehen, was sich verändert hat. Du willst die Straße sehen und das Haus, in dem du einmal wohntest. Es war fast wie früher. Dann gehst du weiter - und nichts ist mehr vertraut.
Haus Westland. Im mittleren Teil habe ich 1973/74 gerabeitet
 Die alte Pfarrkirche wird gerade in eine "Citykirche" (wie die Nikolaikirche in RT) umgebaut, okay. Auch die Katholiken sind nicht mehr jeden Sonntag dabei, du selbst ja schon lange nicht mehr. Aber das alte Münster, diese wunderschöne, schlichte Basilika romanischen Ursprungs, die werden sie doch erhalten haben. Ja, sie ist noch da. Aber was hat man aus ihr, vielmehr in ihr gemacht?



Die Säulenköpfe wurde mit grellem Oker bepinselt, statt Bänke nur noch Stühle, in der Krypta hat man die Fenster mit Glasschmuck ausgestattet, der überhaupt nicht dazu passt. Den Altar in der Krypa, um den du jeden Freitag in aller Herrgottssfrüh gestanden bist, haben sie unter Milchglashaube versteckte. Es wirkt alles wie ein riesengroßes Sammelsurium.
Hier war das Stadttheater, abgerissen
Nun gut, denkst du, das ist Sache der Kirche. Die Stadtväter werden sicherlich einen besseren Geschmack haben.

Doch es kam noch viel schlimmer. Das Stadttheater, ein Produkt der Nachkriegszeit, stand jahrelang leer und wurde jetzt abgerissen. Irgendwelche Einkaufsarkaden sollen da entstehen, eine Großbaustelle, gegen die unsere Reutlinger Stadthalle sich geradezu winzig ausmacht. Die Hindenburgstraße, die Einkaufsmeile von Mönchengladbach, ist eine einzige Aneinanderreihung von Geschäften, die eigentlich keiner braucht. Ramsch, Ramsch und Fast Food. Vielleicht übertreibe ich hier, aber so kam es bei mir an.
Und dann als Krönung näherst du dich deinem früheren Arbeitsplatz: dem Haus Westland, dem ein riesiger Platz vorgeschaltet ist, auf dessen anderer Seite der Hauptbahnhof steht. Dieses Gebäude, das du früher als belanglos betrachtet hast, ist jetzt das schönste Gebäude am Platz.
Gewaltige Haltestellen bilden den zentralen Omnibusbahnhof, gegen den unser ZOB geradezu grazil wirkt. Und dem Haus Westland haben sie eine Fassade verpasst, gegen die unser Rathaus jeden Schönheitspreis gewinnt.
Natürlich hat Mönchengladbach noch ein paar Schönheiten wie die die Kaiser-Friedrich-Halle, die jederzeit mit den Pfullinger Hallen konkurrieren könnte. Und der Wasserturm ist nach wie vor eine Wucht. Aber all das sind Gebäude, die in einem Abstand von der City liegen.





Ich freue mich, wenn ich heute durch Reutlingen laufen darf. Und wenn ich versucht bin, über irgendetwas zu meckern, was ich da sehe, dann denke ich an Mönchengladbach - und schweige. Jedenfalls vorerst.
(Beim Betrachten der Fotos habe ich übrigens den Eindruck, dass ich alles viel zu schön fotografiert habe...)












2 Kommentare:

Hans-Martin Hebsaker hat gesagt…

Hallo Raimund,

was die im Stadtbild erfolgten Veränderungen angeht, sprichst Du mir aus der Seele, auch wenn bei mir die "Blickrichtung" bezüglich Reutlingen genau "umgekehrt" ist. Ich glaube, dass Veränderungen (im negativen, neutralen und positiven Sinne) vor Allem dann so richtig bewusst werden, wenn man im Wesentlichen "von der Erinnerung zehrt", und man dann bei "gelegentlichen Besuchen" von den zwischenzeitlich erfolgten Veränderungen (leicht übertrieben) geradezu "erschlagen" wird.

Ich bin in Reutlingen geboren und aufgewachsen und habe der Stadt dann 1977 mit 25 Jahren beruflich bedingt den Rücken gekehrt. Bei den Besuchen bei der (noch vorhandenen) Verwandtschaft schaffe ich es dann meist nicht, auch die Innenstadt zu durchwandern. Mein "Auszug" ist jetzt 36 Jahre her - ein Zeitraum, in dem (und davor) auch Reutlingen in seinem Erscheinungsbild gewaltige Veränderungen erfahren hat.

Man denke an die 1974 eingestellte Straßenbahn, bei der ich mich insbesondere an den Schaffner erinnere, der am Karlsplatz die Weiche zwischen der Linie 1 nach Betzingen und der Linie 2 zum Hauptbahnhof von Hand mit einer großen Stange umlegte.

An der Honauer Bahn entlang der Panoramastraße durfte ich um 1960 auf dem Weg zur Matthäus-Beger-Schule (die sich damals noch gegenüber der St.Wolfgang-Kirche befand) noch täglich dem Schrankenwärter an der Walter-Rathenau-Straße beim Kurbeln zusehen, wobei sich mit lautem Bim-Bim zuerst die Schranken hier und dann in Sichtweite jene an der Sommerhalde (oder umgekehrt in Abhängigkeit von der Fahrtrichtung des Zuges) schlossen.

Die Tübinger Straße reichte noch bis zum Tübinger Tor, und der damals schon sehr rege Verkehr auf der B28 nach Tübingen musste am beschrankten Bahnübergang am Westbahnhof noch den Zügen den Vortritt lassen.

Etwas weiter östlich wurde die Gustav-Werner'sche Fabrik noch mit auf Rollschemeln aufgebockten Güterwagen versorgt. Dies war besonders gut aus dem Wartezimmer des damals dort ansässigen Zahnarztes Ritterbusch zu verfolgen, der mir auch heute noch in schmerzlicher Erinnerung ist ;-).

Die Echaz in Reutlingen konnte man nicht nur sehen, sondern auch schon von Weitem riechen. Sie schillerte in allen Farben. Dafür gab's keine Fische. Heute ist sie an einigen Stellen zu einer richtigen Erholungs-Oase geworden.

Der "Marktplatz" war damals noch "Parkplatz" (zumindest dann, wenn kein Wochenmarkt war). Und nach alten Läden von damals wie dem Spielwaren-Schuler, dem Bäcker Reicherter und dem J.J.Fehl daneben, dem Reebmann etwas oberhalb des heutigen Bäckers Berger, dem Eisen-Knapp, dem Listhaus oder dem Keim hält man heute vergeblich Ausschau (gibt es eigentlich den HAUX noch?).

In der Oberamteistraße gab es damals noch den Nudel-Nedele, bei dem man live zusehen konnte, wie der Maultaschenteig plattgewalzt wurde. Und die frische Milch holte man noch in blechernen Milchkannen beim Milcher (vom Katzensteg aus an der Ecke Ringelbach-/Heinestraße).

Der Kocher (damals noch das volle Erdgeschoss belegend) und der Knödler waren damals DIE Buchgeschäfte in der Stadtmitte. Und im Kino neben dem Knödler gab es ganz aktuell den Science-Fiction-Film "1984", eine Jahreszahl, die damals noch in ferner Zukunft lag (jetzt liegt sie fast 30 Jahre in der Vergangenheit).

Und und und ...

So, Raimund, wie es Dir heute mit Reutlingen geht, geht es mir heute mit München. Nach fast 30 Jahren "vor Ort" (das ist länger, als ich in Reutlingen lebte), ist HIER jetzt mein "Zuhause". Trotzdem wird Reutlingen immer meine "Heimatstadt" bleiben.

Viele Grüße
Hans-Martin

Raimund Vollmer hat gesagt…

Lieber Martin,
Danke für Deine Anmerkungen. Ich kann deine Gefühle sehr gut verstehen. (Aber ansonsten habe ich mir versprochen, mal vorerst zu schweigen.) Bis 1960 hieß übrigens Mönchengladbach München-Gladbach. Dadurch dass wir häugig in NRW umzogen, habe ich keine wirkliche Heimatstadt dort, Städte sind für mich eher Epochen. Die längste Epoche ist für mich Reutlingen. Am 12. September sind es 32 Jahre her, dass ich hierherzog. Nun ist für mich Heimat dort, wo meine Kinder aufgewachsen sind. Das wird wohl für den Rest meines Lebens so bleiben.
Herzlichst
Raimund