Eine ziemlich verfahrene Situation
Eine kleine Betrachtung von Raimund Vollmer
Auskreisung - ein Thema, das uns ärgert. Immer wieder der Kommentar: "Als hätten wir nichts Wichtigeres zu tun..." Nun hat der Reutlinger Stadtrat mit 30 von 40 Stimmen entschieden, dass der Antrag auf Auskreisung gestellt wird. Das ist sein gutes Recht. Aber es wäre seine Pflicht gewesen, uns, den Bürgern, zu sagen, welche politische Perspektive er damit verbindet. Das ist nicht geschehen. Und das müsste uns eigentlich ganz schön erschrecken; tut es aber nicht. Darüber müssten wir noch entsetzter sein. Das sind wir aber auch nicht, weil wir politisch komplett abgestumpft sind.
"Manchmal habe ich, wie jeder Mensch, Angstträume, und einer meiner wachen Angstträume ist, dass es eine bürokratische Gesellschaft geben wird, mit einem höchsten Thron, auf dem niemand mehr sitzt", schrieb 1992 der Heidelberger Philosoph Hans-Georg Gadamer (1990-2002). Das scheint für Stadt und Kreis Reutlingen nicht zu stimmen. Die Oberbürgermeisterin Barbara Bosch und der Landrat Thomas Reumann stehen so eindeutig an der Spitze ihrer Bürokratien, dass die Horrorvorstellung von einem leeren Thron völlig abwegig erscheint. Die beiden führen sogar ein fast schon genial inszeniertes Nah- und Fernduell um die Macht, um die Finanzen, um die Kompetenzen. Es geht um unser Wohl, so heißt es. Dabei müsste es uns eigentlich sehr unwohl werden, wenn wir nicht politisch komplett abgestumpft wären.
Zu jener Zeit, als der Kreis und die Stadt Reutlingen sich zuletzt von Grund auf neu ordneten, bei der kommunalen Gebiets- und Verwaltungsreform in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, sorgte sich der Soziologe Ralf Dahrendorf 1929-2009) um eine "Demokratie ohne Freiheit", um eine Welt in der Anpassung alles und eigener Wille nichts ist. "Der Staat, der von selbst läuft, ist in einem gefährlichen Zustand", schrieb er 1972. Die Verfahren, das Prozedere bestimmt alles und gibt es füre alles. Übertragen auf Reutlingen hatte man in den Jahrzehnten seit der Kommunal- und Gebietsreform den Eindruck, dass Stadt und Kreis genau auf diesen gefährlichen Zustand zusteuerten. Alles lief wie geschmiert. Die beiden an der Spitze stritten sich - so die Wahrnehmung von uns Bürgern - allenfalls darum, wer in der Presse die bessere Figur abgab. Uns hätte eigentlich auffallen müssen, dass ihre Entscheidungsräume immer enger wurden. Dass wir als Bürger nur noch den vorherbestimmten und kontrollierten Abläufen der Verwaltung folgen, hätten wir merken müssen, wenn uns genau diese Prozesse nicht politisch komplett abgestumpft hätten.
Das Thema Auskreisung rüttelt nun alles auf. An den Stammtischen in der Stadt und im Kreis wird kräftig, heftig und deftig diskutiert. Es werden Zahlen gewälzt und Fakten gezählt, es wird auf- und abgerechnet, es wird ausgeteilt und umverteilt, es wird dogmatisiert und dramatisiert, es wird komplifiziert und simplifiziert. Es herrscht rasender Stillstand - um Formalien, wie jetzt der Kreistag in seiner jüngsten Sitzung bewies. Eine inhaltliche Diskussion, um die es ja vor allem gehen müsse, wolle er und der Verwaltungsausschuss nicht, soll unser aller Reumann als Leiter der Sitzung erklärt haben. Ob vor oder nach der Einleitung eines Gesetzgebungsverfahrens, das der Landtag durchzuführen hat, über die Lage im Restlandkreis befunden werden soll, sei der Abstimmungspunkt. Und so wurde entschieden, dass alle Fakten vorher geklärt sein müssen, bevor die von uns gewählten Landtagsabgeordneten sich an die Spitze des Verfahrens stellen dürfen. Eine seltsame Diskussion, über die sich einer der Kreisräte und Bürgermeister so ereifern konnte, dass er offensichtlich türknallend den Saal verließ. Dass wir uns über solches Verhalten kaum aufzuregen vermögen, zeigt, dass wir politisch komplett abgestumpft sind.
Vielleicht hat der Philosoph Hans-Georg Gadamer doch recht, wenn er meint, dass an der Spitze der Bürokratie niemand mehr ist. Es herrscht das Verfahren und nur noch das Verfahren. Das ist dann Demokratie ohne Freiheit.
Bildertanz-Quelle:Tanja Wack (2005)
3 Kommentare:
Bei der Lektüre der Gutachtertexte über das Für und Wider der Auskreisung sollte man daran denken: Nicht alles was zählt, wird auch gezählt. Und nicht alles, was gezählt wird, zählt.
Wenn der finanzielle Vorteil nicht maßgeblich ist, dann scheint es mir, dass es seitens der Stadt auch um Eitelkeit, Egoismus und
Ehrenkäsigkeit geht. Das bayrisch-Seehofersche mia san mia ist in Reutlingen
angekommen. Und das ist für einen Kreisbewohner völlig unverständlich.
Und wenn es zu der Auskreisung kommt, müssen VORHER alle Punkte der
Zusammenarbeit oder Nichtzusammenarbeit geregelt sein. Der Landrat sollte
keine Katze im Sack kaufen!
Mag ja alles so sein, lieber H.B.. Aber als Bürger des Kreises und der Stadt Reutlingen interessiert mich, ob die beiden in Zukunft ihre Herausforderungen meistern können. Und zwar die Herausforderungen der Zukunft - und nicht die der Vergangenheit. Da herrschte doch weitgehend Stillstand. Leider sprechen weder Stadt noch Kreis über die Zukunft, so dass ich mich frage, wie wir diese Themen auf die Tagesordnung bekommen. Mit dem Verfahren um die Auskreisung besteht wenigstens die Chance, dass die Damen und Herren der Politik endlich darüber sprechen müssen. Ich fürchte nur, dass das die Bürger gar nicht interessiert. Die gucken nur nach den Zahlen. Egal, ob vorher oder nachher.
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