Freitag, 7. August 2015

Die Wiedergebut der Wilhelmstraße - Ein Märchen aus der Zukunft


 Ab morgen fährt die Straßenbahn wieder, die man hier noch als "Schwebebahn", als "Aushängestück" im oberen Teil des Rolltreppenkomplex erkennen kann. 

Von Raimund Vollmer
Es war einmal in Reutlingen. Da gab es eine Wilhelmstraße, aber das ist nun schon lange her. Es war eine lebendige Straße, die jedoch eines Tages anfing, dahinzusiechen. Einer der  Hauptgründe, warum viele inhabergeführte Geschäfte aufgaben und die Räume vor allem an Ketten weitervermieteten, waren die Nachfolgeprobleme. Niemand aus der Familie des Inhabers wollte das Geschäft übernehmen - schon gar nicht angesichts liberalisierter Öffnungszeiten, langen Nächte und anderen Aktionen.
Das war übrigens ein Thema, das ab 2015 auch in der oberen Wilhelmstraße die Geschäftsleute sehr stark beschäftigte. Hier gab es zwar noch viele inhabergeführte Läden, hier war die Welt - entsprechend den romantischen Vorstellungen der Bürger - noch in Ordnung. Dass die Kunden, die sich in dieser hochpreisigen Fußgängerzone (ein bis heute hässlicher Begriff) aufhielten, aber auch immer älter wurden, stellte ein weiteres "Nachfolgeproblem" dar.
Eigentlich wurde die obere Wilhelmstraße nur noch zweimal im Jahr wachgeküsst - im Herbst, beim Weindorf, und im Winter, beim Weihnachtsmarkt? Das war traurig.
Auch der Weibermarkt, der nicht unbedingt zu den großen Umsatzträgern gehörte und mit viel Aufwand, Liebe und Geschmack renoviert wurde, hatte nur zweimal im Jahr sein Wiedererweckungserlebnis.
Die Situation war fast schon paradox: 
Je schöner und idyllischer die Wilhelmstraße und ihre Kreuzungen am Marktplatz, am Weibermarkt/ Marienkirche/Oberamteistraße und am Lindenbrunnen wurden, desto weniger wurde dieses Arrangement akzeptiert - als eine charmante Einkaufsmeile mit alteingesessenen Geschäften. Die Stadt hatte sogar darauf achten müssen, dass die Wilhelmstraße am Ende nichts anderes mehr war als eine reine Fressmeile - bestimmt von Straßenlokalen, in denen Menschen saßen, die sich nur noch mit und über Smartphones unterhielten. Aus der Wilhelmstraße wurde die Wirelessstraße. Was die Smartphones über QR-Codes beim Bummeln entlang der Schaufenster gesammelt hatten, wurde dann bei einer Tasse Café in aller Ruhe im Internet recherchiert und dort geordert. Wenn man dann nach Hause kam, war die Ware bereits da. Drohnen sei Dank.

Natürlich war es einfach bei dieser Entwicklung auf einen äußeren Feind zu verweisen. Zum Beispiel auf Metzingen, deren Outlet-City für uns, die Kunden, konkurrenzlos günstig zu sein schien - bis hin zu den Parkgebühren. Amazon war auch nicht gerade ein Glücksbringer für den stationären Handel. Sollte dieser nun auch - wie das Internet - rund um die Uhr geöffnet sein, an sieben Tagen in der Woche? Wobei im Hintergrund ein Lieferservice ablaufen sollte, der den Kunden die Ware nach Hause brachte - bis hinauf auf die Alb? Ja, so war es gekommen. Glücklicherweise waren dies selbstfahrende Sprinter, so dass man wenigstens die Fahrerkosten sparen konnte. 
Trotzdem: Inhabergeführte Geschäfte konnten dies kaum durchhalten. Und auch den Ketten ging der Atem aus. Das System der Einzelhändler, das das 20. Jahrhundert prägte, war zerstört.
Hinzu kam, dass mit der Aufgabe der inhabergeführten Geschäfte, die Eigentümerschaft über die Häuser in der Wilhelmstraße wechselte. Ein schleichender Prozess, der bereits in den achtziger Jahren begonnen hatte und dessen Auswirklungen wir beim Gang durch die Straßen und Plätze seit der Jahrtausendwende immer deutlicher spürten. Menschen erbten die Gebäude, die gar nicht mehr in Reutlingen wohnten - und denen eigentlich die Verkaufskultur reichlich egal war. Sie wollten hohe Mieten kassieren. Ihr gutes Recht.
Was blieb, waren dann - so die große Angst - irgendwann nur noch Einkaufscentren. Doch dann wurde aus der Wilhelmstraße in den kommenden zwanzig, dreißig Jahren ein einziger überdachter Lichthof, eine komplett durchgestylte "Streetmall", eine überdimensionierte Müller-Galerie. Die Eigentumsverhältnisse an den einzelnen Gebäuden waren in einer Investorengemeinschaft zusammengefasst worden, an der jeder Eigentümer Aktien in Höhe des eingebrachten Vermögens hielt. Gemanagt wird seitdem das Ganze von einem kleinen Team, das für die Corporate Identity verantwortlich ist, für die Besetzung der Läden, für die Instandhaltung, für das Weindorf und den Weihnachtsmarkt. Wegen der Überdachung gab es auch am Heiligen Morgen keinen Ärger mehr. Die Sprinter brachten dann die Besoffenen über den Hinterausgang Museumsstraße nach Hause.
Dabei war die Wilhelmstraße selbst komplett privatisiert. Für einen Betrag, der alle Schulden der Stadt Reutlingen tilgte, wurde die Straße von den Investoren gekauft. Sie wurde anschließend umbenannt in die WWWW-Allee. WWWW steht dabei für WorldWideWirelessWilhelm, weil diese Art der Totalkommerzialisierung zum ersten Mal hier realisiert wurde.
Dahinter steht seitdem die Wiedergeburt des Einzelhandels, ja, sogar der inhabergeführten Geschäfte - und das, obwohl die Ware hier jeden Preisvergleich mit dem Internet oder Outlet-Citys standhält. Wie konnte das gelingen? Ganz einfach. Viele kamen ja früher in die Wilhelmstraße, um sich über die Produkte informieren und beraten zu lassen, die man dann im Internet orderte. Diese Beratung ist nun nicht mehr kostenlos. Wer die WWW-Streetmall betritt, muss für 20 Euro einen Sult-Schein erwerben. Das Wort ist eine Verballhornung des englischen Begriffs für Beratung, Consulting. Den kann der Bürger nun in jedem Geschäft einlösen, dessen Beratungskompetenz er in Anspruch nimmt. Es gibt dazu unterschiedliche Modelle. Was das richtige für einen Konsumenten ist, muss jeder selbst herausfinden, wobei hier die Beratung selbstverständlich kostenlos ist.
Das Modell wird inzwischen überall eingesetzt. Auch in Metzingen, wo es allerdings nicht ganz so erfolgreich ist. Der Outlet-City fehlt der Charme der Wilhelmstraße. Allerdings gibt es einen Wermutstropfen: Amazon hat still und heimlich Aktien von der WWWW AG erworben. Sie wird demnächst mitteilen, dass sie dabei die Sperrminorität erreicht hat.
Aber es war leider auch hier so. Die Amerikaner mussten uns zeigen, wie man aus Romantik Geld macht. So hatten sie es ja schon vor über 100 Jahren in Hollywood mit den Grimms Märchen getan...

PS. Morgen ist in der WWWW-Mall ein Riesenfest. Zwischen Albtorplatz und Karlsplatz - also dem Bereich, der jetzt im Eigentum der WWWW ist - fährt wieder die Straßenbahn. Mit Original-Triebwagen. Doch das ist nun wirklich ein ganz anderes Märchen aus der Zukunft.

Bildertanz-Quelle: RV

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Lieber Herr Vollmer,

ob Märchen oder Satire, beide beinhalten Andeutungen und Aussagen, die aufwecken sollten. Wohin könnte sich dieser Abschnitt der Wilhelmstraße entwickeln. Will man das, wenn man nicht will, welche Rahmenbedingungen könnten das entsprechend beeinflussen. Ich hoffe, es wird als Weckruf aufgenommen und vielleicht ändert sich etwas. Viel Zeit dürfte aber nicht mehr sein.

Ihr Hermann Rieker

Raimund Vollmer hat gesagt…

Lieber Herr Rieker,
ich glaube nicht, dass irgendjemand in der Stadtverwaltung oder im Einzelhandel irgendwelche Weckrufe hört. Es werden nur teure Gutachter akzeptiert. Mainstreet (wie man ja die Wilhelmstraße in der Sprache dieser Experten nennen müsste) folgt dem Mainstream. Und der Mainstream fließt träge dahin. Alles andere wird ausgekreist.