Sonntag, 23. August 2015

Reutlingen zwischen Planung und Entwicklung...


Eine Stadt ist vieles - vor allem aber Planung. So ist der Tenor einer recht leidenschaftlich geführten Diskussion, die der Bildertanz wohl an mehreren Stellen und über Reutlingen hinaus im Internet angestoßen hat.
Eine Stadt ist vieles - vor allem aber Erfindung. Das ist eher die These, die der Verfasser dieser Zeilen verfolgt. Kurzum: Jede Planung läuft immer nur der Entwicklung hinterher.
Vielleicht hat ja die Menschheitsgeschichte im Garten Eden begonnen, aber es sieht momentan so aus, dass sie eher in der Stadt endet als auf dem Land. Dörfer, die Vorstufe zu dem, was wir Stadt nennen, gibt es seit 11.000 Jahren. Vor 7000 Jahren, nachdem die Menschheit bereits seit 120.000 Jahren die Erde besiedelte, entstanden die ersten Städte. In den folgenden Jahrtausenden erlangten sie selten eine Größenordnung in der Kategorie des heutigen Reutlingen, also mehr als 100.000 Einwohner. Um 1800 lebten - weltweit - gerade einmal drei Prozent der Menschen in einer Stadt. Heute sind es mehr als 50 Prozent. Tendenz: steigend. Und das ist alles andere als geplant, wahrscheinlich noch nicht einmal gewollt.
Der Wunsch nach Sicherheit ließ Burgen entstehen, aus denen Städte wurden. Heilige Plätze, Flüsse und deren Mündungsgebiete, leicht erreichbare Nahrungsquellen, wichtige Landwege - das waren Gründe für die Entstehung von Städten. Städte bauten sich selbst. Und um die Zeit, als Reutlingen entstand, war es eine Erfindung, nämlich die Dreifelderwirtschaft, die es ermöglichte, mehr Menschen zu ernähren, ohne dass diese auch in der Landwirtschaft beschäftigt sein mussten. In Europa verdoppelte sich zwischen 1000 und 1300 die Zahl der Menschen auf 70 Millionen. Geplant war das nicht. Dahinter stand eine Erfindung, die den Ackerbau revolutionierte.
Der Schwarze Tod, die Pest, war es dann, die den Städten immer wieder schwer zu schaffen machte, wahrscheinlich mehr als Kriege. Und die Pest, war sie nicht ein Parade-Beispiel für fehlende Planung? Ganz bestimmt. Die kam dann im Nachhinein - und vor allem auf der Basis von Erfindungen und Entdeckungen auf dem Gebiet der Medizin. Diese mussten erst gemacht werden, bevor die Planung einsetzte. Vorher war man machtlos.
Als dann die Industrielle Revolution mit all ihren Innovationen über unser Europa, unser Land, unser Reutlingen hinwegfegte, führte dies zu einer gewaltigen Landflucht. Die Städte wuchsen und wuchsen. Ohne viel Planung, wie das Entstehen von Elendsvierteln belegte. Und als dann Mitte des 20. Jahrhunderts der Autoverkehr alle Planungen zu bestimmen schien, war diese keineswegs der Entwicklung voraus, sie lief ihr hinterher. Mehr noch: Plötzlich drehte sich der Strom. Die Menschen wanderten ab in die Vororte. Und im Gefolge der kommunalen Gebiets- und Verwaltungsreform, einem reinen Planungsakt, wuchs Reutlingen zwar über die 100.000er Grenze hinaus, aber deswegen eilte die Stadt noch lange nicht in ihren Planungen der Entwicklung voraus. Wenn es heute heißt, dass 75 Prozent der Menschen in Deutschland bereits in städtischen Umgebungen leben, dann deshalb, weil zum Beispiel Altenburg, ein Dorf, zur Stadt Reutlingen gehört, seit 1972, seit der Gebietsreform. Davor war es Land - wie Oferdingen, Bronnweiler oder Reicheneck.
Kein OB plante in den siebziger Jahren den Untergang der Textilindustrie, der in unserer Stadt einen bis heute nicht bewältigten Strukturwandel auslöste, oder  den ab 1981 deutlichen Niedergang der Bruderhaus Maschinenfabrik, auf deren Gelände die Stadthalle steht und nun der Kulturplatz errichtet wird. Die Planung kam immer später.
Heute - und daraus beziehen die Planer offenbar ihr Selbstverständnis - ist so viel geplant, dass man meinen könnte, dass die Planung der Entwicklung vorauseilt. Reutlingen war nie eine Hochburg der Kultur, aber eine Stadthalle und eine neue Tonne sollen dies nun richten. Wenn wir uns da nicht ganz gewaltig irren. Denn ein Blick in die Geschichte zeigt: Zuerst kam der Glaube - und dann die Kirchen, die mit ihren Bauten das Bild einer Stadt mehr prägten und deren Entwicklung stärker bestimmten als jede andere kommunale Einrichtung.
Andererseits gibt es eine Fülle von Beispielen, in denen die Kultur tatsächlich den Primat in der Entwicklung einer Stadt übernommen hat - unterstützt von genialer Planung. Die Kultur ersetzt den Glauben. Aber Kultur ist wie der Glaube nicht Zerstreuung, wie sie uns in der Stadthalle die Comedians bieten, sondern Konzentration, Intensität, Kreativität, Urbanität. Kurzum: eine innere Größe, zu der uns ja eigentlich der Architekt unserer Stadthalle führen möchte und das mit der Philharmonie auch gelingt. Die Philharmonie ist älter als die Halle, beide sind zu wenig, um das Kulturverständnis einer Stadt zu prägen. Da muss viel mehr nachkommen, aber das ist keine Frage der Planung, sondern der Entwicklung, einer Signalwirkung. Und zur Ehrenrettung der Planer sei hier auch gesagt, dass es in Reutlingen schon Menschen gibt, die diese Signalwirkung auslösen wollen. Was aber fehlt, ist das Nachfassen, das Auffassen, die Befreiung aus dem Mittelmaß.
Bilbao war eine Industriestadt im Niedergang. Dann kam das Guggenheim-Museum - und die Stadt blühte auf. Nicht nur wegen des Gebäudes, sondern vor allem wegen dessen Inhalt. Der Glaube an die Welt der Bücher ließ in Seattle eine Bibliothek entstehen, die seitdem nicht nur Architekten inspiriert. Die Rheinpromenade in Düsseldorf und das Hafenviertel prägen heute das Image dieser schuldenfreien Landeshauptstadt. Die Opera von Sidney, 1973 eröffnet, hat das Image dieser Stadt komplett verändert. Das sind natürlich besonders spektakuläre Beispiele, denen Reutlingen niemals wird folgen können. Sie hier anzuführen, ist also unfair. Wirklich?
Haben wir nicht auch eine tolle Bücherei? Ganz bestimmt. Warum aber ist sie dann momentan geschlossen? Haben wir nicht eine erstklassige Stadthalle? Der Meinung kann man durchaus sein. Warum aber macht sie Sommerpause? (Jedenfalls sind da - laut Homepage - gewaltige Zeitlöcher im Programm)
Reutlingen schrumpft. Das ist sicherlich nicht geplant. Im Vergleich zu  2011 wohnen bei uns in diesem Jahr 800 Menschen weniger. Das ist gegen den allgemeinen Trend. Es fehlt an Gewerbesteuern. Das ist bestimmt auch nicht geplant.
In Wirklichkeit läuft Reutlingen der Entwicklung nach wie vor hinterher. Natürlich hört das niemand gerne, weder in der Verwaltung, noch im Stadtrat. Aber im Gefolge des Antrags auf Auskreisung wird über die Entwicklung der Stadt Reutlingen heftig diskutiert werden. Hoffentlich ohne Rücksicht auf irgendwelche Eitelkeiten. Am Ende dieses Prozesses werden wir wissen, wo wir wirklich stehen. Und das ist ein verdammt guter Plan. Raimund Vollmer
Bildertanz-Fotos: RV (2015)

5 Kommentare:

Alumagnet hat gesagt…

Reutlingen schrumpft nicht, im Gegenteil: Reutlingen hat gerade edrst erstmalig die 113.000 Einwohner-Grenze überschritten. Stand Juli 2015: 113.016 Einwohner.

Alumagnet hat gesagt…

http://www.reutlingen.de/de/Leben-in-Reutlingen/Unsere-Stadt/Daten-und-Fakten/Einwohnerzahl

Raimund Vollmer hat gesagt…

Danke für den aktuellen Stand. Ich bin u.a. nach den Zahlen wie zum Beispiel der UNO vorgegangen, die für 2012 von 112.735 ausgingen und für 2013 110.681 ausweisen. Und für März 2015 wurden bei "Orte in Deutschland" noch 111.357 Einwohner angegeben. Da per definitionem Einwohner alle Menschen sind, die hier wohnen, aber nicht unbedingt Bürger sind, schätze ich mal, dass der Anstieg bis Juli auch dem Zustrom an Flüchtlingen zuzuordnen ist. So sehr wir die Flüchtlinge willkommen heißen, sollten wir uns doch irgendwie an einem generischen Wachstum orientieren - eines, das auf bewussten Entscheidungen von Menschen basiert. Darüber sagt leider die Statistik nichts. Vielleicht irre ich mich ja - und bin für jede Korrektur dankbar. Bloß glaube ich nicht, dass Reutlingen an sich momentan von der "Landflucht" profitiert.

Anonym hat gesagt…

Reutlingen - Mitte mit Betzingen und Sondelfingen etwa 75 Tsd. Einwohner.
Ob sich die Bürger von den Stadtbezirken so als "richtige" Reutlinger,
ja als Großstädter sehen?

Anonym hat gesagt…

67 + 11,5 + 6,5 Tsd.= 85000.
Schätzen kann fehlen!