Eine Stadt ist vieles - vor allem aber Planung. So ist der Tenor einer recht leidenschaftlich geführten Diskussion, die der Bildertanz wohl an mehreren Stellen und über Reutlingen hinaus im Internet angestoßen hat.
Eine Stadt ist vieles - vor allem aber Erfindung. Das ist eher
die These, die der Verfasser dieser Zeilen verfolgt. Kurzum: Jede Planung läuft
immer nur der Entwicklung hinterher.
Vielleicht hat ja die Menschheitsgeschichte im Garten Eden
begonnen, aber es sieht momentan so aus, dass sie eher in der Stadt endet als
auf dem Land. Dörfer, die Vorstufe zu dem, was wir Stadt nennen, gibt es seit
11.000 Jahren. Vor 7000 Jahren, nachdem die Menschheit bereits seit 120.000 Jahren die
Erde besiedelte, entstanden die ersten Städte. In den folgenden Jahrtausenden erlangten
sie selten eine Größenordnung in der Kategorie des heutigen Reutlingen, also mehr
als 100.000 Einwohner. Um 1800 lebten - weltweit - gerade einmal drei Prozent
der Menschen in einer Stadt. Heute sind es mehr als 50 Prozent. Tendenz: steigend.
Und das ist alles andere als geplant, wahrscheinlich noch nicht einmal gewollt.
Der Wunsch nach Sicherheit ließ Burgen entstehen, aus denen
Städte wurden. Heilige Plätze, Flüsse und deren Mündungsgebiete, leicht
erreichbare Nahrungsquellen, wichtige Landwege - das waren Gründe für die
Entstehung von Städten. Städte bauten sich selbst. Und um die Zeit, als
Reutlingen entstand, war es eine Erfindung, nämlich die Dreifelderwirtschaft,
die es ermöglichte, mehr Menschen zu ernähren, ohne dass diese auch in der
Landwirtschaft beschäftigt sein mussten. In Europa verdoppelte sich zwischen
1000 und 1300 die Zahl der Menschen auf 70 Millionen. Geplant war das nicht.
Dahinter stand eine Erfindung, die den Ackerbau revolutionierte.
Der Schwarze Tod, die Pest, war es dann, die den Städten
immer wieder schwer zu schaffen machte, wahrscheinlich mehr als Kriege. Und die
Pest, war sie nicht ein Parade-Beispiel für fehlende Planung? Ganz bestimmt.
Die kam dann im Nachhinein - und vor allem auf der Basis von Erfindungen und
Entdeckungen auf dem Gebiet der Medizin. Diese mussten erst gemacht werden,
bevor die Planung einsetzte. Vorher war man machtlos.
Als dann die Industrielle Revolution mit all ihren
Innovationen über unser Europa, unser Land, unser Reutlingen hinwegfegte,
führte dies zu einer gewaltigen Landflucht. Die Städte wuchsen und wuchsen.
Ohne viel Planung, wie das Entstehen von Elendsvierteln belegte. Und als dann
Mitte des 20. Jahrhunderts der Autoverkehr alle Planungen zu bestimmen schien,
war diese keineswegs der Entwicklung voraus, sie lief ihr hinterher. Mehr noch:
Plötzlich drehte sich der Strom. Die Menschen wanderten ab in die Vororte. Und im
Gefolge der kommunalen Gebiets- und Verwaltungsreform, einem reinen
Planungsakt, wuchs Reutlingen zwar über die 100.000er Grenze hinaus, aber
deswegen eilte die Stadt noch lange nicht in ihren Planungen der Entwicklung
voraus. Wenn es heute heißt, dass 75 Prozent der Menschen in Deutschland
bereits in städtischen Umgebungen leben, dann deshalb, weil zum Beispiel Altenburg, ein Dorf, zur Stadt Reutlingen
gehört, seit 1972, seit der Gebietsreform. Davor war es Land - wie Oferdingen,
Bronnweiler oder Reicheneck.
Kein OB plante in den siebziger Jahren den Untergang der
Textilindustrie, der in unserer Stadt einen bis heute nicht bewältigten
Strukturwandel auslöste, oder den ab 1981
deutlichen Niedergang der Bruderhaus Maschinenfabrik, auf deren Gelände die
Stadthalle steht und nun der Kulturplatz errichtet wird. Die Planung kam immer
später.
Heute - und daraus beziehen die Planer offenbar ihr Selbstverständnis
- ist so viel geplant, dass man meinen könnte, dass die Planung der Entwicklung
vorauseilt. Reutlingen war nie eine Hochburg der Kultur, aber eine Stadthalle
und eine neue Tonne sollen dies nun richten. Wenn wir uns da nicht ganz
gewaltig irren. Denn ein Blick in die Geschichte zeigt: Zuerst kam der Glaube -
und dann die Kirchen, die mit ihren Bauten das Bild einer Stadt mehr prägten und
deren Entwicklung stärker bestimmten als jede andere kommunale Einrichtung.
Andererseits gibt es eine Fülle von Beispielen, in denen die
Kultur tatsächlich den Primat in der Entwicklung einer Stadt übernommen hat -
unterstützt von genialer Planung. Die Kultur ersetzt den Glauben. Aber Kultur
ist wie der Glaube nicht Zerstreuung, wie sie uns in der Stadthalle die
Comedians bieten, sondern Konzentration, Intensität, Kreativität, Urbanität. Kurzum:
eine innere Größe, zu der uns ja eigentlich der Architekt unserer Stadthalle
führen möchte und das mit der Philharmonie auch gelingt. Die Philharmonie ist älter
als die Halle, beide sind zu wenig, um das Kulturverständnis einer Stadt zu
prägen. Da muss viel mehr nachkommen, aber das ist keine Frage der Planung, sondern
der Entwicklung, einer Signalwirkung. Und zur Ehrenrettung der Planer sei hier
auch gesagt, dass es in Reutlingen schon Menschen gibt, die diese Signalwirkung
auslösen wollen. Was aber fehlt, ist das Nachfassen, das Auffassen, die
Befreiung aus dem Mittelmaß.
Bilbao war eine Industriestadt im Niedergang. Dann kam das
Guggenheim-Museum - und die Stadt blühte auf. Nicht nur wegen des Gebäudes,
sondern vor allem wegen dessen Inhalt. Der Glaube an die Welt der Bücher ließ
in Seattle eine Bibliothek entstehen, die seitdem nicht nur Architekten inspiriert.
Die Rheinpromenade in Düsseldorf und das Hafenviertel prägen heute das Image
dieser schuldenfreien Landeshauptstadt. Die Opera von Sidney, 1973 eröffnet,
hat das Image dieser Stadt komplett verändert. Das sind natürlich besonders
spektakuläre Beispiele, denen Reutlingen niemals wird folgen können. Sie hier
anzuführen, ist also unfair. Wirklich?
Haben wir nicht auch eine tolle Bücherei? Ganz bestimmt. Warum
aber ist sie dann momentan geschlossen? Haben wir nicht eine erstklassige Stadthalle?
Der Meinung kann man durchaus sein. Warum aber macht sie Sommerpause? (Jedenfalls sind da - laut Homepage - gewaltige Zeitlöcher im Programm)
Reutlingen schrumpft. Das ist sicherlich nicht geplant. Im
Vergleich zu 2011 wohnen bei uns in
diesem Jahr 800 Menschen weniger. Das ist gegen den allgemeinen Trend. Es fehlt
an Gewerbesteuern. Das ist bestimmt auch nicht geplant.
In Wirklichkeit läuft Reutlingen der Entwicklung nach wie
vor hinterher. Natürlich hört das niemand gerne, weder in der Verwaltung, noch
im Stadtrat. Aber im Gefolge des Antrags auf Auskreisung wird über die
Entwicklung der Stadt Reutlingen heftig diskutiert werden. Hoffentlich ohne
Rücksicht auf irgendwelche Eitelkeiten. Am Ende dieses Prozesses werden wir
wissen, wo wir wirklich stehen. Und das ist ein verdammt guter Plan. Raimund
Vollmer
Bildertanz-Fotos: RV (2015)
Bildertanz-Fotos: RV (2015)
5 Kommentare:
Reutlingen schrumpft nicht, im Gegenteil: Reutlingen hat gerade edrst erstmalig die 113.000 Einwohner-Grenze überschritten. Stand Juli 2015: 113.016 Einwohner.
http://www.reutlingen.de/de/Leben-in-Reutlingen/Unsere-Stadt/Daten-und-Fakten/Einwohnerzahl
Danke für den aktuellen Stand. Ich bin u.a. nach den Zahlen wie zum Beispiel der UNO vorgegangen, die für 2012 von 112.735 ausgingen und für 2013 110.681 ausweisen. Und für März 2015 wurden bei "Orte in Deutschland" noch 111.357 Einwohner angegeben. Da per definitionem Einwohner alle Menschen sind, die hier wohnen, aber nicht unbedingt Bürger sind, schätze ich mal, dass der Anstieg bis Juli auch dem Zustrom an Flüchtlingen zuzuordnen ist. So sehr wir die Flüchtlinge willkommen heißen, sollten wir uns doch irgendwie an einem generischen Wachstum orientieren - eines, das auf bewussten Entscheidungen von Menschen basiert. Darüber sagt leider die Statistik nichts. Vielleicht irre ich mich ja - und bin für jede Korrektur dankbar. Bloß glaube ich nicht, dass Reutlingen an sich momentan von der "Landflucht" profitiert.
Reutlingen - Mitte mit Betzingen und Sondelfingen etwa 75 Tsd. Einwohner.
Ob sich die Bürger von den Stadtbezirken so als "richtige" Reutlinger,
ja als Großstädter sehen?
67 + 11,5 + 6,5 Tsd.= 85000.
Schätzen kann fehlen!
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