Sonntag, 10. Januar 2016

2016: Das Reutlinger Rathaus wird 50 Jahre alt - Hätte es damals eine Volksabstimmung gegeben...


... dann stünde heute am Marktlatz ein anderer Gebäudekomplex, oder? Das Bild entstand bei der Grundsteinlegung.

Von Raimund Vollmer 

Bei der Grundsteinlegung im Jahr 1963 ahnte Oberbürgermeister Oskar Kalbfell wohl kaum, dass dieser Neubau ein halbes Jahrhundert später wegen dessen Gestaltung immer noch in der Bevölkerung umstritten sein würde.  Aber der Stadtrat hatte es im höchsten Einvernehmen mit der Stadtverwaltung, die ja mit damals 450 Mitarbeitern in dem neuen Komplex residieren sollte, so beschlossen - und Demokratie ist in Deutschland immer zuerst repräsentative Demokratie. Kommunale Selbstverwaltung heißt bei uns niemals - wie in den USA - "kommunale Selbstregierung". Die Verwaltung steht an erster Stelle. Entscheidungen fallen von oben nach unten. Bürgerentscheide werden nicht so gerne gesehen. Dabei wird landauf, landab mit dem Scheitern der Weimarer Republik argumentiert. Ist das wirklich gerechtfertigt? 1975 - als die kommunale Neugliederung gerade in ihre Schlussphase ging - heißt es in der Frankfurter Allgemeine Zeitung über die Weimarer Republik: "Doch in keiner der Volksabstimmungen triumphierten die Radikalen, und in der zweiten Volkswahl des Reichspräsidenten erhielt Hindenburg gegen Hitler die absolute Mehrheit. Der Rückblick auf Weimar rechtfertigt nicht schlüssig das Nein zu Volksabstimmungen." Tatsächlich geht es um Macht - und wie der FAZ-Artikel vor 40 Jahren andeutet -, es geht vor allem um die Macht der Parteien. "Festen Fuß fassten die Parteien in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, das sich vom öffentlichen Dienst über die vielen öffentlich-rechtlichen Einrichtungen bis in die Wirtschaft ausbreitet mit den Staatsbetrieben, den Landesbanken, den unzähligen kommunalen Betrieben." (FAZ, 3.5.1975, Alfred Rapp: "Herrschen die Parteien über die Wähler?")

Ob sich in Reutlingen die Bürger per Volksentscheid für die dann realisierte Architektur entschieden hätten, ist mit Sicherheit fraglich. Sie hatten bestimmt nicht so "klare", gradlinige Vorstellungen wie der sich um Modernität bemühende Stadtrat unter der Führung seines hoch angesehenen und direkt gewählten OBs. Kalbfell war zwar erstmals von der französischen Besatzungsmacht am 20. April 1945 zum Oberbürgermeister ernannt (also nicht gewählt) worden, aber er wurde dann mit großen Mehrheiten von der Bevölkerung immer wieder im Amt bestätigt. 1973 trat er zurück, als die Spuren des Alters wohl nicht mehr zu übersehen waren,. Da galt er als der dienstälteste OB im Land.
Es war die Zeit der kommunalen Verwaltungs- und Gebietsreformen, in denen die Bürger in den Dörfern letztlich in Befragungen und Anhörungen, die einen ziemlich offiziellen Anstrich bekamen, mehrheitlich darstellen konnten, ob sie einer Eingemeindung nach Reutlingen zustimmen würden. Letztlich folgten die Bürger den wohl allein bindenden Vorgaben der Gemeinderäte in den Ortschaften, die sich nach viel Au und Weh für die Eingemeindung entschieden hatten. Die Bürger ahnten, dass es dazu keine Alternative gab. Außer der Zwangseingemeindung (Beispiel: Rübgarten 1975 und Pliezhausen).
Bei uns herrscht eben die kommunale Selbstverwaltung und nicht die kommunalen Selbstregierung. Vielleicht hat es zuletzt so etwas auf Landesebene bei der Gründung des Landes Baden-Württemberg gegeben.
Denn Baden-Württemberg ist das einizige Land, das durch einen Volksentscheid (1951) entstanden ist, und dessen Bestehen durch einen weiteren Volksentscheid (1971) zwanzig Jahre später bestätigt wurde.

Bildertanz-Quelle:Richard Wagner (Foto)

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…


Lieber Herr Vollmer,

was sich so einfach und glatt liest, war so einfach nicht. Zum einen, im Grundgesetz gab es einen Artikel, der die Neugliederung des Südwestens (Baden, Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern)erleichterte, zum anderen gab es Politiker (eine derartige Spezies gibt es heute nicht mehr) die es faustdick hinter der Ohren hatten und souverän ihren Überzeugungen (die heutigen haben zumeist nur noch Attitüden) folgten. Gebhard Müller, Reinhold Maier, Leo Wohleb waren Schwergewichte und Schlitzohren, die im heutigen Politikbetrieb Seltenheitswert haben.