Samstag, 16. April 2016

Der Krieg der Dächer (2): Die Zweiteilung des Marktplatzes:






Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer (aktuell)


Flachdach versus Steildach - am Beispiel unseres Marktplatzes
Von Raimund Vollmer
Damit die Position klar ist: Flachdach steht für das Progressive, steht für links. Steildach steht für das Reaktionäre, steht für rechts. So dachte man in der Welt der Architektur vor 100 Jahren. Aufs heftigste abgelehnt wurde damals die Moderne. Den Menschen stand der Sinn nach dem Völkischen, nach dem Historischen - bis in die Antike hinein. "Im Steildach sahen sie den architektonischen Inbegriff deutscher Lebensform", schreibt Klaus Englert in einer Rezension des Buches "Kleinstadt, Steildach, Volksgemeinschaft" von Gerhard Fehl. "Der Einsatz für diese (deutsche Lebensform) war gekoppelt an die Abwehr angeblich 'undeutscher Einflüsse' wie den Maschinen-Kult im amerikanischen Städtebau oder die Großindustrie mit ihren Rationalisierungsmaßnahmen". Stimmungsarchitektur nennt Englert diese Hinwendung zum Steildach. Das Flachdach war allenfalls bei Industriebauten gelitten - und da auch nur mit Vorbehalt, weil Fabriken ja Ausdruck der Moderne, Symbole für Rationalität und Produktivität waren.
Nach dem Ersten Weltkrieg war das industrielle Reutlingen indes vor allem noch Steildach, also stinkkonservativ - architektonisch gesehen und wunderbar zu beobachten am Marktplatz. Aber bei der Wende zu den 30er Jahren begann auch das Flachdach seinen Siegeszug. Begonnen hatte alles mit dem neuen Hallenbad, ein Flachdachbau, der 1929 eingeweiht wurde und die Alte Kelter, ein Steildach, verdrängt hatte. Mit dem Abriss des Gasthauses Ochsen, einem Steildach, eroberte das Steildach in den frühen dreißiger Jahren den Marktplatz. Ersetzt wurde das Gasthaus durch den Flachdachbau der Sparkasse, bei der die Ideen des Bauhauses wohl Pate gestanden hat. Aber das war's dann. Der "Krieg der Dächer" schien wohl erst einmal an Reutlingen mehr oder weniger vorüberzugehen. 

Richtung Tübinger Tor: Wo das Flachdach gesiegt hat...

So richtig hat dann erst der zweite Weltkrieg dem Flachdach in Reutlingen den Weg freigebombt. Nun gab es kein Halten mehr. Dabei kam Reutlingen zumindest mit ihrer Einkaufsmeile noch ganz gut weg, die sich im Unterschied zu vielen andern Städten ihren Steildach-Charakter hat erhalten oder wiederherstellen können. Doch in der südlichen Hälfte des Marktplatzes triumphiert für alle Zeiten das Flachdach. Der Bau des Rathauses markiert hier den Höhepunkt. Das scheint nun unerschütterlich so zu bleiben. Das Rathaus steht gar unter Denkmalschutz. So stehen sich nun zwei Fronten gegenüber -  mit dem Effekt, dass man von den Flachdächern aus vor allem auf die Steildächer schaut und umgekehrt. 


Richtung Gartentor: Wo sich das Steildach behauptet hat


Das Steildach hat indes in letzter Zeit Dachboden gutgemacht. Das Textilhaus Haux, als Flachdach nach dem Krieg wiederaufgebaut, schmückt heute ein Steildach, auf dem übrigens einmal ein Dachterrassencafé geplant war. Leider ist es nicht dazu gekommen. Geändert haben sich inzwischen die Besitzverhältnisse. Heute ist hier das Textilhaus Zinser, das übrigens im steildachigen Tübingen seinen Hauptsitz hat - in einem Flachdach-Gebäude, etwas außerhalb der Altstadt. Und so ist es auch in Reutlingen. Dass das Spendhaus in den achtziger Jahren noch in eine Steildachumgebung postmodern eingebettet wurde, hat man vergessen. Im Umfeld der Stadthalle dominiert das Flachdach - bis in den Neubau der GWG hinein.
Nach 100 Jahren könnte man ja wieder mal neu denken.

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