Eine kleine Polemik gegen die Anmaßung von Wissen
Da baut sich was zusammen...
Von Raimund Vollmer
Die Verödung der Innenstädte und Vororte durch Betonwüsten -
niemand konnte sie und wollte sie aufhalten. Was in den sechziger und siebziger
Jahre mit der Brachial-Gewalt der Stadtparlamente als zukunftsweisend errichtet
wurde, hat mehr zur Stadtflucht beigetragen als alles andere. Das Leben
verschwand aus den Innenstädten und wurde eingefroren in der durchgeplanten Wohnotonie
der Reihen-Bauten in den Vororten. Die Stadt avancierte zum rein funktionalen
Verwaltungsraum, überwacht von einer Bürokratie, die in der Gleichförmigkeit
das bequemste Mittel ihrer Herrschaft und deren totaler Absicherung sah.
Aber dort, wo Menschen wohnen, lässt sich das Leben auf
Dauer nicht unterkriegen. Die monotonen Reihenhäuser wurden individualisiert,
bekamen Erker und Gauben, gaben durchaus dem Kleinbürgerlichen den Freiraum
zurück. Die durchgerasterten Gärten verwandelten sich nach und nach in Kleinode.
Selbstverständlich vollzog sich die
Rückeroberung des verwalteten Raumes stets im Rahmen des baupolizeilich Erlaubten.
Hier, in den zur totalen Unselbständigkeit eingemeindeten Dörfern, lebte es
sich - trotz allem. In der Innenstadt shoppte und jobbte es sich.
Auf klammheimliche Art und Weise hatten sich die Bürger an
ihren Stadträten und den ihnen einflüsternden Stadtverwaltungen gerächt. Die
Vororte sind bis heute die Plätze eines still geführten, verborgenen Machtkampfes.
Dabei geht es letztlich um die Frage: Wer hat die Hoheit über die Stadt? Ist es
das Planen, oder ist es das Leben? Es ist bis heute der Urkonflikt zwischen der
Verwaltung und ihrer Organe auf der einen Seite und den Bürgern und deren individuellen
Initiativen auf der anderen Seite. Gewinner gibt es keine - zum Glück, möchte
man fast sagen. Denn sonst wäre alles viel, viel schlimmer. Wir hätten in
Reutlingen längst die Banlieues, die sich jeglicher Kontrolle entziehen. Wir
hätten längst die Favelas, in denen sich die Menschen vollends allein überlassen
sind. Alles wäre außer Kontrolle - nicht nur das Ungeplante. die Favelas,
sondern auch (und ganz besonders) das Geplante, die Banlieues.
Reutlingen ist eine Stadt des Patts. Bürger und Verwaltung,
zu deren exekutiven Macht auch das Stadtparlament gehört, stehen sich selbstbewusst
gegenüber. Das hat bislang das Schlimmste verhindert. Das Rathaus, das vor 50
Jahren eingeweiht wurde, war von Anfang an für eine Großstadt geplant, die mehr
als 100.000 Einwohner zählen würde. Oberbürgermeister Oskar Kalbfell schien zu
ahnen, vieleicht sogar schon zu wissen, dass eine Gebiets- und
Verwaltungsreform auf die Städte zurollen würde. So errichtete er der Zukunft
eine Hochburg aus Beton und Asbest. Heute steht die Zukunft von damals unter
Denkmalschutz. Und das ist in gewisser Weise ganz gut so. Denn dieses Rathaus
erinnert die Bürger allein durch seine Präsenz daran, was sie nicht wollen -
nicht diese Art von altlastigem Zentralismus und von ungebremster Planung. Unser
Rathaus ist nicht das Weiße Haus der Großstadt Reutlingen, kein verehrungswürdiger
Ort der durch die Bürger legitimierten Macht, sondern eher ein steifer Ort der
Gegenmacht zum Bürgerwillen.
Als sogar der Kultur ein Supermarkt der medialen
Kommerzialisierung errichtet werden sollte, schritten die Bürger ein und verhinderten
das Kultur- und Kongresszentrum, das KuK. Eine Strategie war gescheitert. Der
Oberbürgermeister wurde abgewählt. Er hatte seine Macht überschätzt und die der
Bürger unterschätzt.
Die neue Strategie, unendlich viel erfolgreicher, kam von
seiner Nachfolgerin. Statt alle Karten offen auf den Tisch zu legen wie ihr
Vorgänger, ging sie schrittweise vor. Sie pokerte die Bürger äußerst geschickt zu
ihrem Ziel. Was vorher zentral an einem Punkt versammelt war, eben in diesem
KuK, wurde nun auf mehrere Standorte verteilt - und zwar so, dass Bürger und
Parlament immer das Gefühl haben konnten, sie hätten das letzte Wort. Wir
wurden - um in der Sprache der politischen Sozialpädagogik zu sprechen - immer
mitgenommen. Plötzlich war das Patt aufgelöst. Und als die Bürger dann mit dem
Ergebnis konfrontiert wurden. waren sie tief gespalten. Die einen waren entsetzt,
die anderen begeistert. Die Stadthalle polarisierte.
Schon war das Patt wieder da. Diesmal aber zwischen der
Bürgerschaft. So ließ sich gut regieren. Man musste nur die Bürgerschaft
spalten. Der Stummelsteg über den Ledergraben ist ein weiteres Beispiel dafür. Mit
dem Bau von Hochhäusern wird es weitergehen. Ebenso die Frage nach der
Auskreisung Reutlingens. Wir Bürger sind schwer damit beschäftigt, das Für und
Wider der städtischen Planungen abzuwägen - ohne darüber wirklich abzustimmen.
Divide et impera! Teile und herrsche! So geht unsere Stadt ins 21. Jahrhundert.
Die Frage ist nun, welche Vorstellung vom 21. Jahrhundert haben
denn unsere Stadtverwaltung und deren Stadträte? Manchmal könnte man meinen,
dass sich die Herrschaften in eine Zeit zurückbeamen möchten, in der Reutlingen
eine Freie Reichsstadt war. Unabhängig und stolz, störrisch und bockig, durch nichts
und niemanden klein zu kriegen. Friedrich List ließ vor bald zwei Jahrhunderten
die Stadtmauern mitsamt Türmen und Toren niederlegen, nun sind wir dabei, uns
neue Stadttore und Stadtmauern zu errichten - durch Hochhäuser und andere
Klotzbauen. Sie sollen uns nach außen von allem ländlich-württembergischen schützen.
Endlich gehört die Achalm der Stadt, sie ist nicht mehr der Vorposten fremder
Feudalherren.
Nach innen werden die glattpolierten Bauten der Moderne alles
Museale und Verschnörkelte in unserer Stadt in den Schatten stellen. Schon können
wir beim Gang durch die Rahausstraße ahnen, wie massive Bauten uns und die Innenstadt einengen
werden. Da kommt auf uns die neue GWG zu, die sich zusammen mit der Nordsternpyramide
und der Stadthalle machtvoll Respekt verschaffen. Dieses Ensemble wirkt fast
schon drohend. Ergänzt um ein zukünftiges Hochhaushotel wird dieses Ambiente das
Tübinger Tor und seine Mauerhauszeile zu Postkartenkitsch degradieren. Ja, wir
bekommen unsere Puppenstubenstadt. Fürs Gemüt. Und der Bürgerpark gewährt uns
den notwendigen Auslauf. Alles ist geplant. Alles ist managebar. Alles steht
stramm - wie das neue, das zukünftige "Stuttgarter Tor", das die
Stadt nach Norden abgrenzt. Damit wir wissen, wie weit sich die Kernstadt Reutlingen träumt, wird ein
drittes Tor auf dem ehemaligen Gelände von Max-Moritz hochgezogen. Und der Rest?
All die Vororte, die Reutlingen erst zahlenmäßig zu einer Großstadt gemacht haben?
Werden sie entmündigt und zur Ausbeutung freigegeben?
Nein, so muss es nicht kommen. Man hat bloß den Eindruck,
dass das, was uns nach und nach an Planung präsentiert wird, genau darauf
hinausläuft - auf die Vision einer Stadt, die für ihre Verwaltung da ist - und
nicht umgekehrt. "Anmaßung von Wissen" hat dies der Nobelpreisträger Friedrich
von Hayek genannt. Das wäre eine sehr gefährliche Entwicklung, und man fragt
sich, warum würde eine Verwaltung wohl genau diesen Weg einschlagen?
Eigentlich gibt es dafür nur einen Grund: die Angst vor dem Kontroll-Verlust,
die Angst vor den Entwicklungen, die dieses zerrissene Jahrhundert nimmt und
uns, die Bürger, so unberechenbar machen. Ja, es klingt paradox: trotz Big Data
wussten die Regierungen auf allen Ebenen des politischen Geschehens noch nie wo
wenig über uns wie jetzt. So baut sich Reutlingen eine Burg, aber ob wir uns
darin als Bürger fühlen dürfen oder nur als Einwohner gezählt werden, hängt
letzten Ende von uns selbst ab. Wir dürfen das Leben nicht den Planern
überlassen.
1 Kommentar:
Sehr geehrter Herr Vollmer,
ich bin mit dem allermeisten völlig auf Ihrer Linie, den Anstoß zu Ihren Ausführungen gab wohl der Artikel in der "Zeit". Ja, Reutlingen ist natürlich spröder, solange man nicht mit Reutlingen "warm" geworden ist, kann man auch den möglicherweise vorhandenen Charme der Stadt nicht erkennen. Aber in einem Artikel der Stuttgarter Zeitung habe ich entnommen, dass eine gute Stadtentwicklung nur dann gelingen kann, wenn man die Regel "Geschichtslosikeit führt zu Gesichtslosigkeit". Und daran krankt Reutlingen eben in äußerst hohem Maße.
Ihr Hermann Rieker
Kommentar veröffentlichen