Samstag, 4. März 2017

Reutlingen, die Stadt, die hoch hinaus will...




So stellte man sich 1970 die Silhouette von Reutlingen vor. BildertanzQuelle: RS
2017: "Im Sinne der 'Stadt der kurzen Wege' und der Verkehrsvermeidung gilt es, funktionsgemischte Baugebiete (Wohnen, Arbeiten, Versorgung, Erholung usw.) mit einer urbanen Bebauungsdichte auszuweisen. Hiermit verbindet sich auch die Chance, die Silhouette Reutlingens insgesamt großstädtischer zu gestalten."

Beschlussvorschlag der Stadt Reutlingen, Finanz- und Wirtschaftsdezernat/Baudezernat, das den Bezirksgemeinderäten im Rahmen einer Einladung der CDU vom 2. Februar 2017 ins Reutlinger Rathaus übersendet wurde. Der Vorschlag sollte in der Sitzung vom 31. Januar 2017 öffentlich beraten werden, was nicht der Fall gewesen ist. Der Beschlussvorschlag gilt dennoch als öffentlich.

Was ist eine "großstädtische" Silhouette und andere unzeitgemäße Fragen eines kleinen Vorort-Journalisten
Wo erhebt sich die "großstädtische" Silhouette, die sich Reutlingen mit der Entwicklung einer neuen Wohnungsbaupolitik geben will? Was ist das überhaupt? Das sind zwei der vielen Fragen, die ein Beschlussvorschlag des Baudezernats aufwirft, über den hoffentlich in den nächsten Wochen noch trefflich gestritten werden wird.
Tief versteckt in all den Themen, die eine neue Wohnungsbaupolitik behandeln muss, stellt sich mit diesem Beschlussvorschlag die Frage aller Fragen: Welche Stadt wollen wir eigentlich haben? Wir, die Bürger, die sich nicht hinter Experten und deren präfaktischen Vorgaben verstecken können. Wir, die wir ohne Kontakt zu einheimischen oder gar fremden Investoren sind. Wir, die wir in dieser Stadt wohnen und leben, ohne sie zu kontrollieren und zu regieren. Welche Stadt wollen wir?
Eine Stadt, deren Inneres "bespielt wird", wie es einer, der auf "Events" setzt, kürzlich benannte? Eine Stadt, in der Essen und Trinken, Shoppen und Chillen die wichtigsten Freizeitangebote sind? Eine Stadt, die mit allem, was sie hat und tut, aufs rein Funktionale reduziert wird, gleichsam maschinentauglich ist bis ins Vergnügen hinein? Ist das unser Verständnis von Großstadt, "unserer" Stadt? Wahrscheinlich nicht. Hoffentlich nicht.
Aber bekommen wir in den nächsten Jahren eine Silhouette, die uns genau diese triste Realität als grandiose Utopie vorgaukelt?
Wir, die Bürger dieser Stadt, müssen höllisch aufpassen. 
Vor fünf Jahren kämpften Stadtrat und Stadtverwaltung mit der Vision einer Stadt, die kaum noch wächst, überaltert und zu verdorren schien. Jetzt strotzt sie plötzlich voller Zukunftslust, Wagemut und träumt sich übermütig auf 120.000 bis 180.000 Einwohner. Investoren schauen wohlwollend auf diese Stadt und auf sich selbst. Sie wissen: Hier lässt sich was holen. Und deshalb wollen sie vor allem hoch hinaus. Denn bei kaum vermehrbarem Grund und Boden liegt die Lösung in der Luft.  Verdichtung nennt sich dies, wenn Häuser sich zur Silhouette einer Steilküste konfigurieren.
Wo wird er sich bilden, dieser großstädtische, wolkentastende Schattenriss vor der majestätischen Kulisse der Schwäbischen Alb? Wird dies bereits in den Vororten des Nordraums geschehen, in denen vor allem gewohnt wird und bislang Einfamilienhäuser mit ihren Gärten den Charakter bilden? Werden dort die Wohnblöcke zu Wohnklötzen gestaut? Solche Visionen gab es schon einmal, 1970, als Architekten aus unserem Reutlingen die eiskalte Stadt der Zukunft machen wollten, eine Stadtmaschine. Damit wollte man wohl der Stadtflucht entgegenwirken, dem Wunsch der Menschen, in die Vororte zu ziehen, die man sich dann durch Eingemeindung reihenweise einverleibte.

Reutlingen - wie hättest Du Dich verändert, wenn dieser Alptraum am Albrauf aus den siebziger Jahren wahr geworden wäre?  BildertanzQuelle: RS

Die Idee ist heute dieselbe. Eine alternde Bevölkerung im Kopf, Menschen, die ein Single-Dasein führen, auch Alleinerziehende, die ganz besonders auf engmaschine Versorgungseinrichtungen angewiesen sind, brauchen Infrastrukturen, wie sie nur ein hoher Verdichtungsgrad liefern kann. So und nicht anders können die Gedanken fürsorglicher Stadtverwaltungen und Stadträte sein. Zudem muss alles bezahlbar sein. Rationale Argumente, die - wenn sie in ihrer Trsotlosigkeit verwirklicht werden - am Ende doch nur Einsamkeit und Anonymität erzeugen.
Die Menschen werden, um versorgt zu sein, also im Zuge eines demographischen und sozialen Wandels die Vororte verlassen und zurück in die Innenstädte drängen. Damit werden die Vororte frei, um sie als Wirtschaftsgebiete zu nutzen. Hier werden in Vororten wie Altenburg, bis zu acht Kilometer von der Stadtmitte entfernt, vorzugsweise ein- und zweistöckige Industrie-Flachbauten stilbildend sein. Dies Ambitionen suggerieren jedenfalls die Prüfvorschläge zu einem neuen Flächennutzungsplan, der dann in den nächsten Jahren zu einem Bauleitplan sublimiert werden wird. "Wolkenkratzerle" des Wohnens wird es hier nicht geben. Dass es in den siebziger Jahren mal solche Versuche gegeben hat, davon legt Oferdingen ein Zeugnis ab, Altenburg hat es mit viel Kraftaufwand verhindern können, Orschel-Hagen nicht.
Aber es soll ja eine Stadt der kurzen Wege entstehen - und die sind in den Vororten noch nie gegeben gewesen. Trotz Bus und vordem Straßenbahn. Kurze Wege gibt es allein in der Innenstadt, dem wahren Zentrum der Nachverdichtung. Darauf scheint sich auch das Augenmerk der Reutlinger Stadtverwaltung zu konzentrieren. Da, wo wenig Platz ist, will man Wohnplatz schaffen - am besten sogar in der Kombination mit Arbeit. Und dies kann nur gelingen, wenn man in die Höhe geht. Hieraus wird sich denn auch die neue Silhouette der Stadt erheben. Dafür sprechen mehrere Indizien.  Wie zum Beispiel die geforderte Zahl der Stellplätze je Wohnung. Das ist ein Instrumentarium wie geschaffen für die Stadtplaner. Nicht  mit deren Verschärfung, sondern mit deren Milderung locken sie die Investoren. 
Bislang galt überall im Stadtgebiet: 1,25 Stellplätze je Wohneinheit. Schlecht für Hochhäuser, die ja auf engstem Raum entstehen sollen. Denn der Preis für einen einzigen Stellplatz kann in der Innenstadt Reutlingens 40.000 Euro kosten, wenn er - wie bei Hochhäusern geradezu zwingend erforderlich - in einer  Tiefgarage errichtet wird. Das macht das Wohnen nicht gerade bezahlbarer.
In Hamburg, um eine andere Großstadt zu nennen, sind es - wenn überhaupt noch - 0,8 Stellplätze je Wohnung, also hier ist man bereits sehr viel großzügiger gegenüber Bauherrn und Bauherrinnen. In einer anderen Großstadt, nehmen wir Berlin (dreißigmal größer als RT), gibt es seit zwanzig Jahren gar keine Verpflichtung mehr. In Baden-Württemberg ist die Stellplatzverordnung jedoch noch bindend, allerdings kann man sich als Bauherr - unter bestimmten Bedingungen - freikaufen.
Doch man fragt sich schon, wie lange diese Baubestimmung wohl noch halten wird - angesichts des Anstiegs der Einwohnerzahlen in den Städten. Reutlingen will jedenfalls neugewonnene Flexibilität nutzen und in der Stadtmitte, die im Umkreis von einem Kilometer zum Marktplatz sich erstreckt, die Verpflichtung auf 0,80 Stellplätze senken. Wer im Umkreis von fünf Kilometern vom Marktplatz bauen will, muss auch nur noch einen Stellplatz je Wohnung nachweisen. In Altenburg, Oferdingen und vielen anderen Orten am Rande des RT-Universums wird es dann bei 1,25 Stellplätze bleiben.Warum sollte man es ausgerechnet dort ändern, wo am meisten Platz auf der Straße für Autos ist? (Die Logik dahinter ist natürlich vollkommen klar, oder?)
Die Stadt setzt aber noch auf einen Faktor, den sie in gewisser Weise selbst in der Hand hat. Sie erwartet ein verändertes Verkehrsverhalten der Bürger. Je näher sie an der Innenstadt sind, desto weniger brauchen und wollen sie ein eigenes Auto - vor allem dann, wenn der Arbeitsplatz um die Ecke ist und alle anderen Einrichtungen des täglichen Lebens auch. "Urbane Quartiere" nennt sie das. In ihnen bekommen Lebensmittelgeschäfte wieder eine Zukunft. Den Rest besorgt der öffentliche Nahverkehr, der in einem verdichteten Raum sich auch wunderbar kurz takten und wirtschaftlich nutzen lässt. Hinzu kommt die Elektromobilität, die mit ihren Bikes schon jetzt andere Maßstäbe setzt.
Wer in der Nähe einer Haltestelle lebt, die vier Fahrten je Stunde bietet, bekommt auf seine Stellplatzverpflichtung einen Abschlag von 20 Prozent. Weitere, mehr sozialpolitische Maßnahmen bieten weitere Abschläge je Stellplatz. Und zusätzliche Ausnahmen sind in der Pipeline.
So konzentriert sich alles auf die Innenstadt, die Industrie wird in die Außenbezirke verlagert. Das ist also eine komplette Umkehrung der Nachkriegsentwicklung, als die Menschen zum Wohnen in die Vororte drängten.Damals konnte man es nicht verhindern. Jetzt kehrt sich der Trend um.
So wirkt das alles auch zeitgemäß. Die Frage ist nur: Wie lange? Der alte Trend begann in den 50er Jahren, wurde durch die Flüchtlingssituation noch verschärft, als ganz schnell Wohnraum geschaffen werden musste. Er dauerte fast ein halbes Jahrhundert. Der neue Trend ist noch sehr jung. Wird er die nächsten 50 Jahre bestimmen?
 Berlin im Januar 2017: Stellplätze für Hochhäuser - (und Kräne für den Bau des Schlosses) Bildertanz-Quelle: RV

Auf jeden Fall wird dieser Trend das Stadtbild radikal verändern. In den siebziger Jahren hatte man die Illusion, durch Hochhaussiedlungen die Wohnprobleme zu lösen. Wie man sich das in Reutlingen vorstellte, zeigen uns die Entwürfe, die uns ein lieber Freund zugeschickt hat. Es sind Horrorvorstellungen.
Wahrscheinlich hat heute keiner der Architekten solche Scheußlichkeiten im Sinn. Solche Wohnmaschinen wären der Garant dafür, dass der Trend sehr schnell zu Ende wäre. Das ändert aber nichts daran, dass der Charme von Hochhäusern begrenzt ist. Eigentlich sind sie sogar das genaue Gegenteil jener Urbanität, die man sich wünscht. Schade, dass in dem Beschlussvorschlag nicht steht, wie hoch die Hochhäuser sein dürfen. Da sie aber die Faktoren sein werden, die unserer Silhouette das Großstädtische geben werden (was soll es sonst sein?), dürfen wir nicht unbedingt damit rechnen, dass sie unsere Stadt lebenswerter machen.
In Berlin, wo es seit zwei Jahrzehnten keine Stellplatzverordnung gibt, weiß man inzwischen, dass der Bau von Hochhäusern die Silhouette verändert und weiter verändern wird - und bedauert dies schon, trauert dem alten Stadtbild insgeheim nach.
Raimund Vollmer

 

Bildertanz-Quelle:

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…


Vielen Dank, dass Sie wieder einmal dieses Thema aufgegriffen haben, ja es aufgreifen mussten. Ich habe Ihren Beitrag zum Anlass genommen (bin gerade in Reutlingen), mir einmal wieder den Band 2004 der Reutlinger Geschichtsblätter zu Gemüte zu führen. Ich kann nur jedermann empfehlen, diese Bestandsaufnahme des Wandels des Stadtbildes von Reutlingen einmal zu lesen. Es ist ein Sündenregister der Stadtverwaltung - und für mich das erschreckende daran ist, dass ich bis heute nicht erkennen kann, dass sich im Grundsatz bei den Verantwortlichen im Denken und Handels etwas geändert hätte. Man nehme nur die Maßnahmen in der Katharinenstraße, oder die unter ganz maßgeblichen Einfluss der Stadt Reutlingen stehende GWG reisst entlang der Alteburgstraße bis zu Ebertstraße eine ganze Straßenfront (ohne Not) ab und errichtet Bürogebäude in einer Zeit, in der alle händeringend bezahlbaren Wohnraum fordern anstatt die Mittel zweckgemäß in Wohnraum zu investieren. Das ist ein Skandal. Für mich ist erschreckend, dass bei den Verantwortlichen praktisch kein Lernprozess zu erkennen ist, der darauf hindeutet, dass die Fehlentwicklungen der Vergangenheit sich nicht mehr wiederholen. Armes Reutlingen.

H. R.