In seinem Buch "The Invention of Paris" beschreibt Eric Hazan die Stadtgeschichte als einen Kampf zwischen dem "Spirit of Place" und dem "Spirit of Time". Seitdem ich mich in dieses Buch hineinlese mit all seinen Geschichten über Paris und den Veränderungen in den letzten 200 Jahren, sehe ich unseren Bürgerpark mit anderen Augen. Welcher Spirit dominiert hier, der des Platzes oder der der Zeit? Ich frage mich, wo sind all die Geschichten, die sich an diesem Platz - einem Zentrum der Industrie und des Sozialen, dem Bruderhaus - ereignet haben? Da steht noch das Krankenhäusle als letztes Relikt. Ich weiß nicht, ob es sich als "Spirit of Time" wohlfühlt in dieser fremden Umgebung, die einen irgendwie nicht recht zu lokalisierenden "Spirit of Place" ausstrahlt. Vielleicht ist diese Unbestimmtheit auch der Grund, warum es sich noch nicht den gastronomischen Ansprüchen hingegeben hat - in einer Art Selbstbestimmungsrecht. Alles ist so glatt an diesem Platz, auf dem ein paar schnurgerade Bäume inzwischen mehr Geschichte geschrieben haben als alles andere, was sich hier tut. Da ist dieser Brunnen, der erst in der Dunkelheit seine Wirkung entfaltet - auf diesem Nachtschattengelände. Die Skaterbahn ist gefangen in ihrem eigenen Glück, eine Insel, die ihren "Spirit" erst mit der Zeit entwickeln wird - dann, wenn die Kinder und Jugendlichen, die sich hier tummeln, längst erwachsen sind und sich an ihre Kindheit erinnern. Dann erst entwickelt sich der "Spirit of Time". Ob es dann allerdings noch die Skaterbahn geben wird, in zwanzig, dreißig Jahren? Auf jeden Fall wird dann ein anderer Platz längst verschwunden sein, der des Zentralen Omnibus-Bahnhofs, des ZOB. Wir vom Bildertanz waren immer erstaunt, welche hohen Clickraten wir erzielten, wenn wir Bilder vom gar nicht mal so alten ZOB auf der Karlstraße zeigten. Er war hässlich wie die Nacht, ungemütlich, unangenehm, aber voller Erinnerungen. Der "Spirit of Time" hat den "Spirit of Place" überlebt. Er besteht heute nur noch aus Asphalt und Streifengrün. Große Erinnerungen erzeugt dieses Stück Karlstraße nicht, Durchgangsstation zur Wilhelmstraße und Kaufhof, der als Merkur mehr Erinnerungen besitzt als all das, was er in den letzten 20 Jahren war.
Es ist an der Zeit, dass wir unsere Stadt wieder besetzen - nicht mit Events, sondern mit Erinnerungen. Wir müssen uns unser Reutlingen neu erfinden.
Raimund Vollmer
Bildertanz-Quelle: Raimund Vollmer (Fotos vom 29. September 2017)
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