Samstag, 11. November 2017

Die Seele einer Stadt - Reutlingen und andere Metropolen



London in der Neuzeit. Bildertanz-Quelle: Alfred Betz

Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

»London ist prächtiger, glanzvoller denn je. Doch was es an Glanz gewann, verlor es an Wohnlichkeit und Malerischem.«

A. St. John Adcock (1864-1930), englischer Dichter und Schriftsteller[1]


Die Frage kam vom Podium und mit der Autorität eines Professors, der außerdem nicht an irgendeiner kleinkarierten Uni lehrt,[2] sondern an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich tätig ist. Er stand neben dem Pult, schaute ins Publikum und schmetterte den Weckruf in die Rotunde: "Wer will schon nach Mönchengladbach?" Lachen. Verlegenheit. Irritation.
 Mönchengladbach - Zentraler Omnibusbahnhof  Bildertanz-Quelle: Raimund Vollmer

 Ja, wer kennt überhaupt diese Großstadt am Niederrhein, 30 Kilometer von Düsseldorf entfernt? Ich zucke jedenfalls zusammen. Ich kannte diese kreisfreie Stadt mit dem Kennzeichen MG, habe zwischen 1961 und 1966 dort gelebt, bin hier zur Schule gegangen, zuerst noch Volksschule, dann zum Stiftisch-Humanistischen Gymnasium, das nicht nur baulich, sondern auch vom schrulligen "Lehrkörper" her mehr an den Rühmann-Film "Feuerzangenbowle" erinnerte als an irgendeine Bildungsreform. Es war eine altmodische, altsprachliche "Penne". Nur für Jungen. Das Ziegel-Gemäuer wäre jetzt 140 Jahre alt geworden, doch 1977 entschied man sich für einen Neubau, der 1981 eingeweiht wurde. In Gladbach nahm  ich erstmals den Namen Reutlingen zielbewusst zur Kenntnis, weil "meine" Borussia 1965 gegen den SSV um den Einzug in die Bundesliga kämpfte.
Und dann kannte ich die Stadt auch noch, weil ich hier 14 Monate meines Volontariats ableisten durfte - besonders betreut von zwei herrlich schrulligen Redakteuren, die unglaublich viel Geduld mit mir hatten. 1000 Jahre wurde damals die Stadt alt, und ich durfte während der Feiertage darüber täglich eine Sonderbeilage machen. Es war eine Stadt wie Reutlingen, nicht überragend schön, aber auch nicht überragend hässlich. Keine Weltstadt, keine Geldstadt, eine Arbeitsstadt. Die Textilindustrie spielte eine wichtige Rolle - wie in Reutlingen, war aber mit 150.000 Einwohner schon damals eine Großstadt. Das war Gladbach erst recht, als 1975 die Nachbarstadt Rheydt im Rahmen der Gemeindereform dazukam. Zwei Großstädte wurden da miteinander verknüpft, aber nicht verschmolzen. Bis heute ist MG die einzige Stadt in Deutschland, die zwei Hauptbahnhöfe hat. 40.000 Diesel sind hier gemeldet, aber in Sachen Umwelt hat die Stadt wohl alles im Griff.
Also: Warum nicht nach Mönchengladbach?

 Dietmar Eberle, Architekturprofessor in Zürich

Ich war dort, wieder dort. Vor fünf Jahren bei schönstem Sonnenschein - und war entsetzt. Schlimmer ging's nimmer. So war mein Eindruck, und ich schwor, in der nächsten Zeit nicht mehr meine Wahlheimat Reutlingen zu kritisieren. Aber wenigstens meine Eindrücke über MG habe ich dann hier im Bildertanz mit einer Fotoreportage zu dokumentieren versucht. Prompt gab es heftige Schelte. Nicht von den  Reutlingern, sondern von den Gladbachern, die meinen Beitrag mit ihrem Facebook-Auftritt verlinkt hatten. Ich bekam mein Fett weg. Die Gegenwehr kam aus der Tiefe ihrer Seele, nicht aufgesetzt, nicht besserwisserisch, fern jeglicher Arroganz. Die Menschen an der Niers, ihrer Echaz, wollten eigentlich nur zeigen, wie sehr sie ihre Stadt lieben - über alle Hässlichkeiten und Scheußlichkeiten hinweg.
Irgendwie hat mich das nicht mehr losgelassen - vor allem, wenn ich durch die Stadt ging, in der ich seit 36 Jahren wohne, also durch Reutlingen. Ich bin hier nicht aufgewachsen, ich bin hier nicht zur Schule gegangen, ich habe hier nicht meinen Beruf gelernt. Und die Geschichte dieser Stadt interessiert mich erst wirklich seit zwölf Jahren. Doch bis zur Seele dieser Stadt und ihrer Umgebung bin ich erst in den letzten drei Jahren vorgedrungen, als ich angefangen habe, nicht nur Bilder zu sammeln, sondern auch Erinnerungen, Erlebnisse -  durch die Gespräche mit Zeitzeugen. Die Menschen sind der unaufdringliche Glanz dieser Stadt mitsamt ihren anliegenden und umliegenden Dörfer und Gemeinden.
Jede Stadt hat eine innere Identität, eine Seele, die durch nichts zerstört werden kann - noch nicht einmal durch das Flächenbombardement im 2. Weltkrieg. Und diese Seele atmet durch die Menschen, ihre Erinnerungen, ihre Erlebnisse, aber auch ihre Ideen und Projektionen. Es sind nicht die Funktionen, die einer Stadt das Leben geben. Es ist auch nicht die Wirtschaftskraft. Beides sind nur die Drohkulissen eines Wandels, der zumeist keine Rücksicht auf die Seele der Stadt nimmt und sich über alles hinwegsetzt.
Seit 250 Jahren definieren wir allen Fortschritt durch Technik und Ökonomie. Achten Sie mal darauf! Lauschen Sie den Argumenten der Politik, alles verengt sich zu Begriffen wie Globalisierung und Digitalisierung. Letzteres ist gerade das mächtigste Zauberwort des Fortschritts, bei dem alles zur App wird. Aber insgeheim wirst du das Gefühl nicht los, dass die, diese Begriffe benutzen, gar nicht wissen, worüber sie reden. Sie leben zumeist in den Komfortzonen ihrer Wohlstandsverträge. Sie reden nicht aus der Position existentieller Betroffenheit. Doch nur aus dieser tief empfundenen Betroffenheit entsteht die Seele einer Stadt, ihre Identität. Und sie entsteht nicht über Nacht, sie wird auch nicht durch Werbung und Marketing gemacht. Die haben nur eine Alibi-Funktion. Eine Seele lässt sich nicht verkaufen.
Der Begriff des Fortschritts kommt ursprünglich nicht aus Technik und Ökonomie, sondern aus dem Sozialen, sagt der Philosoph Hans Jonas (1903-1993) in seinem hochgeschätzten Buch "Das Prinzip Verantwortung".[3]  Er ist übrigens in Mönchengladbach geboren ist und hat 1923 auf "meinem" Stift. Hum. Gym. sein Abitur gemacht. (Entschuldigung, aber ein bisschen musste ich jetzt damit angeben.)
Damit kein Missverständnis entsteht: Es geht nicht darum, Technik und Wirtschaft zu verurteilen, sondern darum, deutlich zu machen, dass beide sinnlos sind ohne den Menschen, ohne uns. Wir - so würde der Rheinländer sagen - sind "die Seele vons Janze".
Und es war dann dieser Professor, der mit seinem Gladbacher Weckruf genau diese Seele  in den Mittelpunkt stellte, wobei er den Begriff nicht ein einziges Mal verwendete, brauchte er auch nicht, denn er verkörperte sie. Sein Name: Dietmar Eberle, ein Österreicher. Er sprach auf dem von der Stuttgarter Zeitung veranstalteten Kongress "Stadt der Zukunft - Zukunft der Stadt".  Hier war er nach Meinung der Zuhörer der mit Abstand beste Redner, den man an den beiden Kongresstagen zu hören bekam.
Ich bin dann nach seinem Vortrag zu ihm hingegangen und habe ihn gefragt, warum er ausgerechnet Mönchengladbach erwähnt habe. "Das war Zufall", erklärte er mit. Er kannte diese Stadt eigentlich gar nicht. Sie war nur eine Chiffre für all das, was man in den letzten Jahrzehnten unseren Städten angetan hat. Er hätte auch genauso gut fragen können: Wer will schon nach Reutlingen?
Zentral war sein Satz: "Wir müssen alles in Frage stellen, was wir in den letzten 50 bis 70 Jahren gemacht haben." Eine Aussage, bei der die Teilnehmer erst einmal schlucken mussten. Denn für die 150 anwesenden Profis, alle schon längere Zeit im Beruf, ging es um Eingemachte, auch ums Selbstverständnis. Und der Professor, Jahrgang 1952 und renommierter Architekt, hat ebenfalls an dieser Vergangenheit kräftig mitgewirkt. 10.000 Wohnungen hat er in all den Jahren gebaut, erfährt man von ihm im Internet.  
"Wir verzetteln uns überall", meint er, weil wir "wahnsinnig viele Bedürfnisse vermischen". Wir - das sind für ihn nicht nur die Profis, das sind für ihn vor allem die Mitglieder der "Mittelstandgesellschaft", die bislang in Westeuropa ihre Bedürfnisse definierten, ohne sie zu reflektieren. Ja, denke ich, wir haben unsere Ansprüche noch nicht einmal sauber kategorisiert. Alle Widersprüche stehen ungeklärt nebeneinander. Jeder mischt mit. Jeder meint mit. Jeder verneint mit, was er - zumeist gedankenlos - an anderer Stelle bejaht.
Bildertanz-Quelle: CBV
Wir sind gefangen in unseren eigenen Widersprüchen und nageln uns mit Wonne daran gegenseitig fest. Ein Beispiel: "Wir möchten gerne im Grünen wohnen und leben", sagt Professor Eberle, doch wir lieben vor allem mittelalterliche Städte, die in ihrer Blüte "mit Abstand die höchste Dichte" besaßen, ohne übrigens Hochhäuser zu besitzen. Mehr noch: Die beliebteste Stadt der Welt ist Paris. Hier leben 21.000 Menschen pro Quadratkilometer. In Reutlingen sind es 1300. In Mönchengladbach sind es 1500. (Da fragt man sich, warum wir unbedingt Hochhäuser benötigen. Paris hat entsprechende Projekte gestoppt - auch weil die Menschen dagegen sind.)
Eberle weiß, worauf es in den Städten ankommt - auf die "Atmosphäre". Er ist davon überzeugt, dass es eine "Relation gibt zwischen Dichte und Atmosphäre", je dichter, desto besser, wobei er allerdings gerade bei der Nachverdichtung höchste Sorgsamkeit verlangt, weil sie das Potential hat, die Seele einer Stadt zu verändern. Eberle: "Es wird schlecht nachverdichtet." Und dann kommt noch ein Knaller: "Am unbeliebtesten sind die Quartiere der letzten 50 Jahre."
Härter kann man es kaum formulieren. Was macht man mit diesen Quartieren?
Vielleicht war es sein österreichischer Akzent, der es ihm erlaubte, dem Publikum die Leviten zu lesen, ohne dass sie es ihm übelnahmen. Vielleicht waren die versammelten Profis bereit, nur dann Kritik anzunehmen, wenn sie von außen kommt. Vielleicht waren sie auch zu verspießert und verbiestert in ihren eigenen Meinungen, um von sich aus über ihren eigenen Schatten zu springen. Solange wir selbst nicht das Geschäft der Kritik betreiben, wird auch nichts grundsätzlich besser werden. Wir werden nur optimieren, nachverdichten, nachvernichten. Vielleicht sind wir aber auch nur nicht souverän genug. Dieser Professor aber war es auf jeden Fall.
"Wir können unendlich viel über Qualitäten reden", meint er, aber "eigentlich geht es um Quantitäten." Dazu gehört zum Beispiel die Erkenntnis, dass in Deutschland 60 Prozent der Menschen in Dörfern und Mittelstädten unter 50.000 Einwohner leben, fast 80 Prozent sogar in Städten unter 100.000. Die Megacities sind selbst im Reich der Mitte nicht der Wohnraum für die Mehrheit. Eberle: "Nur 28 Prozent der Chinesen leben in Städten." Also - dieses Gerede um die Verstädterung der Welt relativiert sich da. Ja, denkst du, Reutlingen wäre ohne die Eingemeindungen in den siebziger Jahren immer noch keine Großstadt. Solche Entwicklungen, zumeist von oben und im Namen der Wirtschaftlichkeit sanktioniert, verfälschen die Statistiken mehr, als dass sie helfen. Und ob die angekündigte Wirtschaftlichkeit je erreicht wurde, ist mehr als fraglich.
In der Tat - wir müssen über Quantitäten reden.
Dazu gehören nach Meinung von Eberle auch steuerliche Aspekte. Wenn zum Beispiel in Deutschland 90 Prozent aller privat gekauften Immobilien über 50 Jahre abgeschrieben werden, dann ist das widersinnig. Denn die Funktion eines Gebäudes, einer Wohnung wandelt sich mit der Zeit, oftmals sogar radikal - auch, weil wir älter werden. Deshalb seine Forderung nach Nutzungsneutralität beim Bau neuer Gebäude.
1910 betrug die Lebenserwartung  36 Jahre, 2017 sind es 80-90 Jahre. Im Jahr 2100 könnten es 150-200 Jahre sein. Dann werden möglicherweise 12 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Wer weiß, wo die Mehrheit dieser Menschen leben werden. Tatsächlich in der Stadt, wie heute getan und gedacht wird, oder wie bislang eher im ländlichen Raum. Wie sehr verändert unsere längere Lebenszeit unser Wohnverhalten? Sind Pflegeheime unsere große Zukunft? Oder was geschieht hier? Was für Ideen haben wir - wenigstens mal für die nächsten 20, 30 Jahre? Wie werden wir wohnen, wenn Familien sich immer weniger aus der Herkunft konfigurieren, sondern aus dem Augenblick, aus einem Lebensabschnitt, als Patchwork? Was ist mit dem Begriff Heimat, der wieder unverkrampft benutzt werden kann, ohne an Blut und Boden zu denken, an Nationalsozialismus, Vertreibung und Verlust. 
Das waren Fragen, die mir spontan in der Nachbetrachtung seines Vortrages in den Sinn kamen. Und ich bin sicher, jeder von uns hat einen Sack voll Fragen, die eigentlich einer Antwort bedürfen. Doch vielen Profis - so könnte man meinen - sind schon die Fragen zu schlimm, als dass sie diese überhaupt stellen, geschweige denn beantworten. Dabei kommt es wirklich nicht auf diese an: "Was in 60,70 oder 80 Jahren ist, das können wir nicht mehr sicher sagen."
Aber für das nächste halbe Jahrhundert gibt es schon ein paar Big Points. Die Verdichtung ist dabei wahrscheinlich das wichtigste Thema. Und da kommt es nach Meinung von Eberle vor allem auf die "fußläufige Erreichbarkeit" an. Wir sind es also selbst, die der Stadt Beine machen müssen. Die Zukunft definiert sich also weitaus weniger durch Fahrräder, Bus und Bahn - egal, welche Antrieb sie haben. Alles ist in erreichbarer Nähe - und wenn man bedenkt, dass "etwa 60 bis 65 Prozent der Baumasse einer Stadt allein den Wohnbauten zufällt", dann liegt auch genau hier die Verantwortung der Stadtplaner. Und denen gibt er eine ganz besondere Aufgabe. Nicht aus der Sicht der Bewohner, sondern der Passanten müssen unsere Städte gestaltet werden. Bei den Wohnungen selbst soll man auf Nutzungsneutralität achten, weil sich hier die Anforderungen im Laufe der Jahrzehnte ändern. Aber die Ausstrahlung eines Viertels, eine Stadtbezirks, wie sie der Fußgänger erlebt, ist viel, viel wichtiger. Der englische Dichter A. St. John Adcock hat es in den zwanziger Jahren, also vor bald 100 Jahren, beim Gang durch das damals neu gestaltete Geschäfts- und Wohnviertel Holborn, ganz in der Nähe der City of London, wunderschön formuliert: "Jeder, der durch Holborn bummelt, kann diese neuen Gebäude sehen und bewundern, die hier in den letzten Jahren emporgeschossen sind. Aber ich würde gerne ein halbes Dutzend der größten Häuser hergeben, wenn sie mein wären, um in der Lage zu sein, eine der Nebenstraßen, die Brooke Street wiederherzustellen mitsamt dem Haus, in dem (der Dichter Thomas) Chatterton starb."
Ja, beim Gang durch seine Stadt wird aus dem Einwohner, dem Bewohner, nicht etwa nur ein Fußgänger, sondern er wird zum Bürger, der ja eigentlich die Seele einer Stadt sein sollte. Und vielleicht geht es ihm dann beim Spazieren durch Reutlingen so, wie Adcock vor 100 Jahren: "Ich habe so viel über das verschwundene London gelesen, dass ich manchmal mich selbst fast davon überzeugen könnte, ich hätte persönliche Erinnerungen an Straßen und Ecken, obwohl ich ja genau weiß, dass sie lange vor meiner Geburt aufgehört haben zu existieren."


[1] Essays of To-Day, März 1923(George G. Harrap, Hrsgb.), A. St. John Adcock: "Some London Memories"
[2] Die Idee der Universität - Versuch einer Standortbestimmung, Springer-Verlag 2013, Klaus M. Meyer-Abich: "Die Idee der Universität im öffentlichen Interesse", Seite 35
[3] Hans Jonas, Frankfurt 1979: „Das Prinzip Verantwortung“
Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer/Sammlung, Alfred Betz (London)

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