London in der Neuzeit. Bildertanz-Quelle: Alfred Betz
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
»London ist prächtiger, glanzvoller denn je. Doch was es an Glanz gewann, verlor es an Wohnlichkeit und Malerischem.«
A. St. John Adcock (1864-1930), englischer Dichter und Schriftsteller[1]
Die Frage kam vom Podium und mit der Autorität eines
Professors, der außerdem nicht an irgendeiner kleinkarierten Uni lehrt,[2] sondern
an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich tätig ist. Er stand
neben dem Pult, schaute ins Publikum und schmetterte den Weckruf in die
Rotunde: "Wer will schon nach Mönchengladbach?" Lachen. Verlegenheit.
Irritation.
Mönchengladbach - Zentraler Omnibusbahnhof Bildertanz-Quelle: Raimund Vollmer
Ja, wer kennt überhaupt diese Großstadt am Niederrhein, 30
Kilometer von Düsseldorf entfernt? Ich zucke jedenfalls zusammen. Ich kannte
diese kreisfreie Stadt mit dem Kennzeichen MG, habe zwischen 1961 und 1966 dort
gelebt, bin hier zur Schule gegangen, zuerst noch Volksschule, dann zum
Stiftisch-Humanistischen Gymnasium, das nicht nur baulich, sondern auch vom
schrulligen "Lehrkörper" her mehr an den Rühmann-Film "Feuerzangenbowle"
erinnerte als an irgendeine Bildungsreform. Es war eine altmodische,
altsprachliche "Penne". Nur für Jungen. Das Ziegel-Gemäuer wäre jetzt
140 Jahre alt geworden, doch 1977 entschied man sich für einen Neubau, der 1981
eingeweiht wurde. In Gladbach nahm ich
erstmals den Namen Reutlingen zielbewusst zur Kenntnis, weil "meine"
Borussia 1965 gegen den SSV um den Einzug in die Bundesliga kämpfte.
Mönchengladbach - Zentraler Omnibusbahnhof Bildertanz-Quelle: Raimund Vollmer
Und dann kannte ich die Stadt auch noch, weil ich hier 14
Monate meines Volontariats ableisten durfte - besonders betreut von zwei herrlich
schrulligen Redakteuren, die unglaublich viel Geduld mit mir hatten. 1000 Jahre
wurde damals die Stadt alt, und ich durfte während der Feiertage darüber
täglich eine Sonderbeilage machen. Es war eine Stadt wie Reutlingen, nicht
überragend schön, aber auch nicht überragend hässlich. Keine Weltstadt, keine
Geldstadt, eine Arbeitsstadt. Die Textilindustrie spielte eine wichtige Rolle -
wie in Reutlingen, war aber mit 150.000 Einwohner schon damals eine Großstadt.
Das war Gladbach erst recht, als 1975 die Nachbarstadt Rheydt im Rahmen der
Gemeindereform dazukam. Zwei Großstädte wurden da miteinander verknüpft, aber
nicht verschmolzen. Bis heute ist MG die einzige Stadt in Deutschland, die zwei
Hauptbahnhöfe hat. 40.000 Diesel sind hier gemeldet, aber in Sachen Umwelt hat
die Stadt wohl alles im Griff.
Ich war dort, wieder dort. Vor fünf Jahren bei schönstem Sonnenschein - und war entsetzt. Schlimmer ging's nimmer. So war mein Eindruck, und ich schwor, in der nächsten Zeit nicht mehr meine Wahlheimat Reutlingen zu kritisieren. Aber wenigstens meine Eindrücke über MG habe ich dann hier im Bildertanz mit einer Fotoreportage zu dokumentieren versucht. Prompt gab es heftige Schelte. Nicht von den Reutlingern, sondern von den Gladbachern, die meinen Beitrag mit ihrem Facebook-Auftritt verlinkt hatten. Ich bekam mein Fett weg. Die Gegenwehr kam aus der Tiefe ihrer Seele, nicht aufgesetzt, nicht besserwisserisch, fern jeglicher Arroganz. Die Menschen an der Niers, ihrer Echaz, wollten eigentlich nur zeigen, wie sehr sie ihre Stadt lieben - über alle Hässlichkeiten und Scheußlichkeiten hinweg.
Irgendwie hat mich das nicht mehr losgelassen - vor allem,
wenn ich durch die Stadt ging, in der ich seit 36 Jahren wohne, also durch Reutlingen. Ich bin hier
nicht aufgewachsen, ich bin hier nicht zur Schule gegangen, ich habe hier nicht
meinen Beruf gelernt. Und die Geschichte dieser Stadt interessiert mich erst wirklich
seit zwölf Jahren. Doch bis zur Seele dieser Stadt und ihrer Umgebung bin ich
erst in den letzten drei Jahren vorgedrungen, als ich angefangen habe, nicht
nur Bilder zu sammeln, sondern auch Erinnerungen, Erlebnisse - durch die Gespräche mit Zeitzeugen. Die
Menschen sind der unaufdringliche Glanz dieser Stadt mitsamt ihren anliegenden
und umliegenden Dörfer und Gemeinden.
Jede Stadt hat eine innere Identität, eine Seele, die durch
nichts zerstört werden kann - noch nicht einmal durch das Flächenbombardement im
2. Weltkrieg. Und diese Seele atmet durch die Menschen, ihre Erinnerungen, ihre
Erlebnisse, aber auch ihre Ideen und Projektionen. Es sind nicht die Funktionen,
die einer Stadt das Leben geben. Es ist auch nicht die Wirtschaftskraft. Beides
sind nur die Drohkulissen eines Wandels, der zumeist keine Rücksicht auf die
Seele der Stadt nimmt und sich über alles hinwegsetzt.
Seit 250 Jahren definieren wir allen Fortschritt durch
Technik und Ökonomie. Achten Sie mal darauf! Lauschen Sie den Argumenten der
Politik, alles verengt sich zu Begriffen wie Globalisierung und Digitalisierung.
Letzteres ist gerade das mächtigste Zauberwort des Fortschritts, bei dem alles
zur App wird. Aber insgeheim wirst du das Gefühl nicht los, dass die, diese
Begriffe benutzen, gar nicht wissen, worüber sie reden. Sie leben zumeist in
den Komfortzonen ihrer Wohlstandsverträge. Sie reden nicht aus der Position existentieller
Betroffenheit. Doch nur aus dieser tief empfundenen Betroffenheit entsteht die
Seele einer Stadt, ihre Identität. Und sie entsteht nicht über Nacht, sie wird
auch nicht durch Werbung und Marketing gemacht. Die haben nur eine
Alibi-Funktion. Eine Seele lässt sich nicht verkaufen.
Der Begriff des Fortschritts kommt ursprünglich nicht aus
Technik und Ökonomie, sondern aus dem Sozialen, sagt der Philosoph Hans Jonas (1903-1993)
in seinem hochgeschätzten Buch "Das Prinzip Verantwortung".[3] Er ist übrigens in Mönchengladbach geboren ist
und hat 1923 auf "meinem" Stift. Hum. Gym. sein Abitur gemacht. (Entschuldigung,
aber ein bisschen musste ich jetzt damit angeben.)
Damit kein Missverständnis entsteht: Es geht nicht darum,
Technik und Wirtschaft zu verurteilen, sondern darum, deutlich zu machen, dass
beide sinnlos sind ohne den Menschen, ohne uns. Wir - so würde der Rheinländer
sagen - sind "die Seele vons Janze".
Und es war dann dieser Professor, der mit seinem Gladbacher Weckruf
genau diese Seele in den Mittelpunkt
stellte, wobei er den Begriff nicht ein einziges Mal verwendete, brauchte er
auch nicht, denn er verkörperte sie. Sein Name: Dietmar Eberle, ein
Österreicher. Er sprach auf dem von der Stuttgarter Zeitung veranstalteten
Kongress "Stadt der Zukunft - Zukunft der Stadt". Hier war er nach Meinung der Zuhörer der mit
Abstand beste Redner, den man an den beiden Kongresstagen zu hören bekam.
Ich bin dann nach seinem Vortrag zu ihm hingegangen und habe
ihn gefragt, warum er ausgerechnet Mönchengladbach erwähnt habe. "Das war
Zufall", erklärte er mit. Er kannte diese Stadt eigentlich gar nicht. Sie
war nur eine Chiffre für all das, was man in den letzten Jahrzehnten unseren
Städten angetan hat. Er hätte auch genauso gut fragen können: Wer will schon
nach Reutlingen?
Zentral war sein Satz: "Wir müssen alles in Frage
stellen, was wir in den letzten 50 bis 70 Jahren gemacht haben." Eine Aussage,
bei der die Teilnehmer erst einmal schlucken mussten. Denn für die 150 anwesenden
Profis, alle schon längere Zeit im Beruf, ging es um Eingemachte, auch ums
Selbstverständnis. Und der Professor, Jahrgang 1952 und renommierter Architekt,
hat ebenfalls an dieser Vergangenheit kräftig mitgewirkt. 10.000 Wohnungen hat
er in all den Jahren gebaut, erfährt man von ihm im Internet.
"Wir verzetteln uns überall", meint er, weil wir
"wahnsinnig viele Bedürfnisse vermischen". Wir - das sind für ihn nicht
nur die Profis, das sind für ihn vor allem die Mitglieder der "Mittelstandgesellschaft",
die bislang in Westeuropa ihre Bedürfnisse definierten, ohne sie zu
reflektieren. Ja, denke ich, wir haben unsere Ansprüche noch nicht einmal
sauber kategorisiert. Alle Widersprüche stehen ungeklärt nebeneinander. Jeder
mischt mit. Jeder meint mit. Jeder verneint mit, was er - zumeist gedankenlos -
an anderer Stelle bejaht.
Bildertanz-Quelle: CBV |
Wir sind gefangen in unseren eigenen Widersprüchen und
nageln uns mit Wonne daran gegenseitig fest. Ein Beispiel: "Wir möchten
gerne im Grünen wohnen und leben", sagt Professor Eberle, doch wir lieben
vor allem mittelalterliche Städte, die in ihrer Blüte "mit Abstand die
höchste Dichte" besaßen, ohne übrigens Hochhäuser zu besitzen. Mehr noch: Die beliebteste
Stadt der Welt ist Paris. Hier leben 21.000 Menschen pro Quadratkilometer. In
Reutlingen sind es 1300. In Mönchengladbach sind es 1500. (Da fragt man sich,
warum wir unbedingt Hochhäuser benötigen. Paris hat entsprechende Projekte
gestoppt - auch weil die Menschen dagegen sind.)
Eberle weiß, worauf es in den Städten ankommt - auf die
"Atmosphäre". Er ist davon überzeugt, dass es eine "Relation
gibt zwischen Dichte und Atmosphäre", je dichter, desto besser, wobei er allerdings gerade bei der Nachverdichtung
höchste Sorgsamkeit verlangt, weil sie das Potential hat, die Seele einer Stadt
zu verändern. Eberle: "Es wird schlecht nachverdichtet." Und dann
kommt noch ein Knaller: "Am unbeliebtesten sind die Quartiere der letzten
50 Jahre."
Härter kann man es kaum formulieren. Was macht man mit diesen
Quartieren?
Vielleicht war es sein österreichischer Akzent, der es ihm
erlaubte, dem Publikum die Leviten zu lesen, ohne dass sie es ihm übelnahmen. Vielleicht
waren die versammelten Profis bereit, nur dann Kritik anzunehmen, wenn sie von außen
kommt. Vielleicht waren sie auch zu verspießert und verbiestert in ihren
eigenen Meinungen, um von sich aus über ihren eigenen Schatten zu springen. Solange
wir selbst nicht das Geschäft der Kritik betreiben, wird auch nichts grundsätzlich
besser werden. Wir werden nur optimieren, nachverdichten, nachvernichten. Vielleicht
sind wir aber auch nur nicht souverän genug. Dieser Professor aber war es auf
jeden Fall.
"Wir können unendlich viel über Qualitäten reden",
meint er, aber "eigentlich geht es um Quantitäten." Dazu gehört zum
Beispiel die Erkenntnis, dass in Deutschland 60 Prozent der Menschen in Dörfern
und Mittelstädten unter 50.000 Einwohner leben, fast 80 Prozent sogar in
Städten unter 100.000. Die Megacities sind selbst im Reich der Mitte nicht der
Wohnraum für die Mehrheit. Eberle: "Nur 28 Prozent der Chinesen leben in
Städten." Also - dieses Gerede um die Verstädterung der Welt relativiert
sich da. Ja, denkst du, Reutlingen wäre ohne die Eingemeindungen in den
siebziger Jahren immer noch keine Großstadt. Solche Entwicklungen, zumeist von
oben und im Namen der Wirtschaftlichkeit sanktioniert, verfälschen die
Statistiken mehr, als dass sie helfen. Und ob die angekündigte
Wirtschaftlichkeit je erreicht wurde, ist mehr als fraglich.
In der Tat - wir müssen über Quantitäten reden.
Dazu gehören nach Meinung von Eberle auch steuerliche
Aspekte. Wenn zum Beispiel in Deutschland 90 Prozent aller privat gekauften
Immobilien über 50 Jahre abgeschrieben werden, dann ist das widersinnig. Denn
die Funktion eines Gebäudes, einer Wohnung wandelt sich mit der Zeit, oftmals
sogar radikal - auch, weil wir älter werden. Deshalb seine Forderung nach
Nutzungsneutralität beim Bau neuer Gebäude.
1910 betrug die Lebenserwartung 36 Jahre, 2017 sind es 80-90 Jahre. Im Jahr
2100 könnten es 150-200 Jahre sein. Dann werden möglicherweise 12 Milliarden
Menschen auf der Erde leben. Wer weiß, wo die Mehrheit dieser Menschen leben werden.
Tatsächlich in der Stadt, wie heute getan und gedacht wird, oder wie bislang
eher im ländlichen Raum. Wie sehr verändert unsere längere Lebenszeit unser
Wohnverhalten? Sind Pflegeheime unsere große Zukunft? Oder was geschieht hier?
Was für Ideen haben wir - wenigstens mal für die nächsten 20, 30 Jahre? Wie
werden wir wohnen, wenn Familien sich immer weniger aus der Herkunft konfigurieren,
sondern aus dem Augenblick, aus einem Lebensabschnitt, als Patchwork? Was ist
mit dem Begriff Heimat, der wieder unverkrampft benutzt werden kann, ohne an
Blut und Boden zu denken, an Nationalsozialismus, Vertreibung und Verlust.
Das waren Fragen, die mir spontan in der Nachbetrachtung
seines Vortrages in den Sinn kamen. Und ich bin sicher, jeder von uns hat einen
Sack voll Fragen, die eigentlich einer Antwort bedürfen. Doch vielen Profis -
so könnte man meinen - sind schon die Fragen zu schlimm, als dass sie diese überhaupt
stellen, geschweige denn beantworten. Dabei kommt es wirklich nicht auf diese
an: "Was in 60,70 oder 80 Jahren ist, das können wir nicht mehr sicher
sagen."
Aber für das nächste halbe Jahrhundert gibt es schon ein
paar Big Points. Die Verdichtung ist dabei wahrscheinlich das wichtigste Thema.
Und da kommt es nach Meinung von Eberle vor allem auf die "fußläufige
Erreichbarkeit" an. Wir sind es also selbst, die der Stadt Beine machen
müssen. Die Zukunft definiert sich also weitaus weniger durch Fahrräder, Bus
und Bahn - egal, welche Antrieb sie haben. Alles ist in erreichbarer Nähe - und
wenn man bedenkt, dass "etwa 60 bis 65 Prozent der Baumasse einer Stadt
allein den Wohnbauten zufällt", dann liegt auch genau hier die
Verantwortung der Stadtplaner. Und denen gibt er eine ganz besondere Aufgabe.
Nicht aus der Sicht der Bewohner, sondern der Passanten müssen unsere Städte
gestaltet werden. Bei den Wohnungen selbst soll man auf Nutzungsneutralität
achten, weil sich hier die Anforderungen im Laufe der Jahrzehnte ändern. Aber
die Ausstrahlung eines Viertels, eine Stadtbezirks, wie sie der Fußgänger
erlebt, ist viel, viel wichtiger. Der englische Dichter A. St. John Adcock hat
es in den zwanziger Jahren, also vor bald 100 Jahren, beim Gang durch das damals
neu gestaltete Geschäfts- und Wohnviertel Holborn, ganz in der Nähe der City of
London, wunderschön formuliert: "Jeder, der durch Holborn bummelt, kann
diese neuen Gebäude sehen und bewundern, die hier in den letzten Jahren
emporgeschossen sind. Aber ich würde gerne ein halbes Dutzend der größten
Häuser hergeben, wenn sie mein wären, um in der Lage zu sein, eine der
Nebenstraßen, die Brooke Street wiederherzustellen mitsamt dem Haus, in dem (der
Dichter Thomas) Chatterton starb."
Ja, beim Gang durch seine Stadt wird aus dem Einwohner, dem
Bewohner, nicht etwa nur ein Fußgänger, sondern er wird zum Bürger, der ja
eigentlich die Seele einer Stadt sein sollte. Und vielleicht geht es ihm dann beim
Spazieren durch Reutlingen so, wie Adcock vor 100 Jahren: "Ich habe so viel
über das verschwundene London gelesen, dass ich manchmal mich selbst fast davon
überzeugen könnte, ich hätte persönliche Erinnerungen an Straßen und Ecken, obwohl
ich ja genau weiß, dass sie lange vor meiner Geburt aufgehört haben zu
existieren."
Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer/Sammlung, Alfred Betz (London)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen