"Keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der Bürger nicht imstande ist, selbst vor die Haustür zu treten und nachzusehen, was es gibt."
Gottfried Keller (1819-1890), Schweizer Schriftsteller
Unsere Stadt
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Seit den achtziger Jahren heißt es immer wieder von unseren
amerikanischen Freunden, dass Europa ein Museum sei. "Was ist daran
schlimm?", fragte sich 2006 der britische Starjournalist Philip Stevens
und befand: "Ich mag Museen". Er arbeitet seit 1983 bei einem
erzkapitalistischen Blatt, bei der Financial Times in London. Man kann ihm also
nicht unbedingt vorwerfen, sozialromantisch zu sein oder gar
fortschrittsfeindlich. Und so sagt er auch, dass die modernsten Architekten
oftmals die schönsten Museen bauen. Sie bauen sie, weil sie mit den Museen
zurückkehren können in die Nähe der Künste, denen sie sich oftmals zu sehr
entfernt haben, weil sie zu stark die Nähe zur Macht suchten. Und die Politik
unterstützt sie dabei, weil sie so das Alte durch das Moderne sicher umhüllt
weiß.
In Reutlingen könnte man mit einer gehörigen Portion
Spitzfindigkeit feststellen, dass die
schönsten Museen sogar in den schönsten Altbauten sind. Museum im Museum. Das
Alte schützt das Alte. Das Heimatmuseum, das Naturkundemuseum, das Kunstmuseum
im Spendhaus, das nächstes Jahr sogar 500 Jahre alt wird. Bei uns sind Alt und
Neu schön brav getrennt. Denn alles, was nach dem Krieg hier an Künsten neu
entstanden ist, bekommt einen modernen Bau: die Württembergische Philharmonie
hat die Stadthalle, die sie ansonsten mit den profanen Künsten wie den
Comedians teilen muss. Die "Tonne", eine Bühne mit avantgardistischen
Ambitionen, bekommt nun ihr modernes Spiegel-Kabinett. Hier sind allerdings
nicht die Spiegel im Inneren, sondern im Außenbereich. Jeder, der sich dem
neuen Theater nähert, sieht sich selbst bereits auf einer Bühne.
Der Augenblick zählt. Das ist das Konzept unserer auf den
Eventpunkt gebrachten Stadt.
Darum kümmern sich unsere "klugen Köpfe", die mehr
mit Marketing beschäftigt sind als mit Kultur, ohne wohl auch nur zu ahnen,
dass Marketing mehr mit Künstlichkeit zu tun hat als mit Kunst und Kultur.
Darum kümmert sich das Stadtmarketing, das ehrlicherweise
nichts anderes vorgibt zu sein als das, was der Name schon sagt.
Darum kümmert sich insbesondere aber alles, was politischen Macht
hat. Die Verwaltung, der Stadtrat, die Oberbürgermeisterin und ihre
Dezernenten.
Der Eventpunkt wird auch am Ende der neuen Kulturkonzeption
stehen, weil alles andere subversiv sein könnte, nicht kontrollierbar - und
somit nicht vermarktbar. Deshalb stürzt man sich in den Augenblick, einer hermetisch
von allem anderen Einflüssen abgeschirmten Zeitkapsel, die man hin und her
stoßen kann.
Auch ein Museum lässt sich weihnachtlich vermarkten: Bildertanz-Quelle Raimund Vollmer |
Die Spannung zwischen Alt und Neu, die elementar ist für
jegliche Form von Kultur, wird weder gesehen noch gewagt. Dabei zeigt ja gerade
die Resonanz, die wir hier mit unseren Bildertanz-Beiträgen erzeugen, wie sehr
diese Spannung in der Bevölkerung gelebt wird. Immer dann, wenn wir zwischen
gestern und heute vergleichen, ist die Resonanz besonders hoch, nicht nur
quantitativ, sondern auch interaktiv. Kultur lebt aus der Kritik. Das gibt ihr
die Dynamik, da wird aus Vergangenheit Geschichte und aus Zukunft Phantasie.
Kürzlich rühmten sich die Vertreter einer Partei, die sich
durch eine große demokratische Tradition auszeichnet, der schönen Gebäude, die
es in Reutlingen gibt, Gebäude, die eine Perlenkette bilden, der Kultur dienen,
die ja nach den Ausführungen unserer Oberbürgermeisterin Barbara Bosch zu den
zwei Punkten gehört, die in Baden-Württemberg als eine besondere Stärke unserer
Stadt empfunden werden. Der andere Punkt ist die Wirtschaft.
Und so inszenierte diese Partei ihre Vorschläge für eine
Kultur auch an einem Ort der in unserer Kultur ein Niemandsland darstellt: im
"Industriemagazin". Es reflektiert in seiner Vorstufe zu einem Museum
am stärksten die Wirtschaftskraft und Innovationsfreude einer Region, die sich
das seit Mitte des 19. Jahrhunderts in eine Industriestadt wandelte. Das
Gebäude an der Eberhardstraße gehört allerdings nicht zu den optischen
Attraktionen Reutlingens. Etwas daraus zu machen, was auch der Geschichte
dieser Arbeiterstadt gerecht wird, wäre das mit Abstand wichtigste kommunale
Kultur-Projekt. Eigentlich müsste die Errichtung eines adäquaten
Industrie-Museums auch die vornehmste Aufgabe unserer Wirtschaft sein, die - so
Frau Bosch - sieben Weltmarktführer auf der Reutlinger Gemarkung weiß. Spürbar
ist da nichts. Da hätten IHK und Handwerkskammer doch längst initiativ werden
müssen. Sollte man meinen...
Statt Parkplatz (wie auf diesem Bild) nun Bürgerpark mit Skatebahn. Bildertanz-Quelle: Dimitri Drofitsch |
Das Museum für Konkrete Kunst, in dem ja das Moderne innen
und das Alte, das historische Fabrikgebäude der Firma Wandel, die äußere Hülle darstellt,
bietet sich medial als "Schaulager" an, ist sowohl Kunsthalle als
auch Lager und damit wohl mehr ein Konzept der Unentschiedenheit für die
ausgestellten Schenkungen. Dieses Indifferente zeigt sich auch in der Art und
Weise, wie man seine Künstler referenziert. Dass Werke des Künstlers Hartmut
Böhm zum Bestand der Sammlung gehören, findet keine Erwähnung im internationalen
Ausstellungsverzeichnis der Wikipedia. Dasselbe gilt für François Morellet, der
2016 verstarb. Weiter habe ich gar nicht recherchieren wollen.
Ein Ort zur Welt, Merkmal einer jeden echten Großstadt, ist
Reutlingen nicht, muss es auch nicht sein, möchte es aber nach dem Willen der
Verwaltungsoberhäupter sein. Dazu gehört mehr als nur digitale Schautafeln, die
- wie von einer Partei vorgeschlagen - am Bahnhof und anderen Stätten der
Ankunft auf das kulturelle Angebot der Stadt hinweisen. Und man fragt sich
schon im Stillen, was privilegiert einen dann auch Teil dieser Werbung zu sein
- oder ist diese Art der Werbung bereits das Kulturkonzept? Die Digitalisierung
ersetzt die Kultur - im Zeitalter der Smartphones ist dann die Kultur zum
Display freigegeben.
Hört man der Politik genau zu, dann ist mit Kultur vor allem
eine "Angestellten-Kultur" gemeint, eine institutionell verankerte
und geregelte Kultur, eine offizielle Kultur. Alles, was von hier stammt und nicht
aus dem städtisch oder staatlich gefüllten Fressnapf isst, hat kaum Bedeutung,
geht unter in der höflichen Erwähnung, die auch nicht unbedingt gewährt ist.
Zwei bundesweit tätige Künstler, keine Superstars des
Entertainments, aber durchaus gefragt, erzählten kürzlich, dass sie sich um
Engagements in Reutlingen nicht mehr bemühen. Sie stammen von hier, leben sogar
hier. Aber den Kulturstandort halten sie - im Unterschied zu unserer OB - nicht
für "bemerkenswert". Nein, wer institutionell nicht gebunden ist und
wird, erlebt in Reutlingen keine städtische Aufmerksamkeit, allenfalls mal als Kulisse
für die eigene PR.
Vielleicht ist dies in anderen Städten nicht anders.
Vielleicht gibt es auch gar keine Lösung aus dem Dilemma einer Politik, die
eigentlich gar nicht wissen kann und auch nicht wissen muss, was Kunst und
Kultur ist. Das ist institutionell nicht ihr Job. Das ist unser Job. Wir, die
Bürger, müssen vor die Haustür treten und sagen, was uns gefällt, was uns
anregt, was uns aufregt, was uns und unsere Stadt weiterbringt, auf was wir
stolz sind. Dies macht erst eine Stadt zu unserer Stadt und eine Kultur zu
unserer Kultur.
Die Kunst der Kultur liegt in der Kontroverse, nicht in der
Konserve. Wer Reutlingen kritisiert, wird kassiert - als Querulant, als
Miesmacher, als Störfaktor. Da diese vor allem in den sozialen Medien
anzutreffen sind, gelten sie fast schon als ein öffentliches Ärgernis. Dabei
ist mit Sicherheit auch die Facebook-Präsenz der Bildertanzes gemeint. Ehrlich
gesagt, kenne ich keine andere Seite, in der so viel Kritik geäußert wird wie
bei uns im "Bildertanz". Zu uns kommen die Leute, um zu sehen, was ist.
Wir sind keine Tageszeitung. Uns gibt's einfach nur. Über uns ärgert man sich, über
uns freut man sich. Wir sind neugierig - und wahrscheinlich viel moderner als die,
die uns als Gestrige apostrophieren und in eine sinistere Ecke stellen wollen, in
der sie vielleicht selbst schon stehen.
Deswegen nehme ich mal an, dass wir vornehmlich gemeint sind,
wenn die sozialen Medien den Unbill unserer OB erregen. Im GEA, der gestern ein
Weihnachtsgespräch mit unserer OB veröffentlichte, gab es keine
Leserkommentierung zu diesem Beitrag - im Unterschied zum Bildertanz-Facebook,
wo wir diesen Artikel verlinkt haben. Nach den "Likes" zu urteilen,
stieß der Inhalt dieses Beitrags weder im GEA auf Zuspruch, noch die Verlinkung
bei uns. Dabei haben etwa 2500 Menschen diesen Link über unsere Seite
wahrgenommen. Das zeugt nicht von besonderer Aufmerksamkeit. Die Interaktivität
ist sogar eher erbärmlich angesichts der Bedeutung eines solchen Beitrags. Eigentlich
müssten die Jahresschlussgedanken unseres Oberhauptes auf mehr Resonanz stoßen.
Wahrscheinlich fehlt es da an Authentizität. Die Menschen
spüren, dass sie sich in ihrer Auseinandersetzung mit der Stadt letzten Endes
einem PR-Konzept unterwerfen sollen, das durchsetzt sein wird von Euphemismen,
von Schönfärbereien. Wenn das dann auch noch das Ergebnis einer Kulturkonzeption werden
soll, dann "Gute Nacht". Das geht nicht gut.
Es ist unsere Pflicht als Bürger herauszutreten und zu
sagen, was uns an Kultur wichtig ist. Das kann und darf die Politik nicht
vorgeben. Das ist unser Recht, das ist unsere Freiheit. Und dieses Recht nehmen
wir grundsätzlich wahr, nicht unter den klinischen Konditionen von Umfragen,
die dem Zweck dienen, eine Marke zu kreieren. Brauchen wir wirklich so etwas
wie eine "Bären-Marke"? Wenn wir sie bräuchten, hätten wir sie schon
längst. Selbst der Begriff "Tor zur Schwäbischen Alb" wurde eher ironisch
referenziert - und wurde erst dadurch authentisch.
Wer sich unter künstlichen Bedingungen eine Marke zurechtschustert,
die gleichsam über allem schwebt, steht im Verdacht, dass er keine Bürger will,
sondern Einwohner, Konsumenten der öffentlichen und privaten Angebote. Er sieht
in uns nicht Herrschaftssubjekte, sondern Herrschaftsobjekte. Wahrscheinlich
ist die Politik sich dieser Gefahr nicht bewusst, aber sie ist dieser
Versuchung in einem ungeheuren Maße ausgesetzt. Sie stellt sich über uns.
"Alle Macht ist unheilbar", sagte Reinhold
Schneider (1903-1958), ein Schriftsteller aus Baden, der zum Widerstand gegen
den Nationalsozialismus gehörte. "Die Macht hat die Tendenz, sich zu
verabsolutieren, sich von ihrem Inhalt zu lösen und sich selbst zum Wert zu
machen", meinte einer der bedeutendsten Lyriker und Autoren Deutschlands,
Günter Eich (1907-1972). Er war "unbelehrbar der Meinung", dass Macht
gar "eine Institution des Bösen" sei. Der Maler Joseph Beuys
(1921-1986) meinte einmal: "Wählt nie wieder eine Partei! Alle! Jeder!
Wählt die Kunst, d.h. euch selbst! Alle! Jeder!"
Bei einer Wahlbeteiligung von 25 Prozent, über die unsere
OB, die ja keiner Partei angehört, 2011 wiedergewählt wurde, scheinen wir der
Politik keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Bei der Kultur aber geht es
um das Eingemachte, um das, was wichtiger ist als Wirtschaft und Technik. Es geht
um uns selbst. Das wollen wir nicht irgendwelche fremden Gutachtern und deren Befragungstechniken überlassen.
Wir möchten in einer Stadt leben,
von der wir sagen können, das
ist "unsere Stadt". Mir wäre das Marke genug. "Zuhause sind wir
weltberühmt", heißt unser Slogan. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die
Menschen
mit diesem Gefühl, mit diesem Anspruch hier täglich im "Bildertanz"
zusammenkommen - auch wenn wir damit nur zur Subkultur dieser Stadt
gehören: Wir
mögen diese Stadt, sonst würden wir sie nicht mit so viel Freude, Spaß
und Selbstironie kritisieren.
Bildertanz-Quelle:
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