Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Oder: Was wir uns hinter den Spiegel stecken sollten
Gehen wir ins Theater, weil uns das Gebäude so gefällt? - Kaufen
wir Eintrittskarten, weil wir die Finanzierung des Theaters erleichtern wollen?
- Muss ein Theater schön sein, um gute Aufführungen zu ermöglichen?
Eigentlich sollte das eine mit dem anderen nichts oder nur
wenig zu tun haben. Und doch wird momentan das neue, funkelspiegelneue Theater
der "Tonne" nur aus dieser Perspektive heraus geadelt und getadelt.
Dabei werden die Schauspieler, die hier - zusammen mit allen
anderen Beteiligten mit dem Regisseur,
dem Dramaturg, den Technikern - ihr Bestes geben, bei jeder Aufführung alles
daran setzen, dass wir vergessen, wo wir sind und wann wir sind. Sie wollen uns
mit allem, was sie können, in ihr Stück hineinziehen. Alles ist dunkel, nur die
Bühne leuchtet in ihre eigene Welt hinein. Für zwei Stunden wollen die Akteure unser
Inneres zum Klingen bringen. Und wenn sie und das Stück, das sie spielen, wirklich
gut sind, dann gelingt ihnen dies auch, egal, welche und wie viel Mittel ihnen
zur Verfügung stehen. Das war immer der Anspruch der "Tonne". Das ist
der Anspruch jedes Theaters. Und dieser Anspruch heißt letztlich Faszination
und Aufmerksamkeit.
Aber darum geht es in diesen Tagen nicht. Es geht um Geld
und Geschmack.
Es geht nicht um Kunst und Inhalte. Es geht nur um Form und
Gestalt. So war es bei der Stadthalle, so ist es nun auch bei der neuen Tonne.
Am Niveau der Württembergischen Philharmonie hat die nun fünf Jahre alte
Stadthalle nur wenig geändert. Das war schon vorher sehr hoch. So sagen uns die
Experten, die nun das, was sie hören, noch besser hören können. Das war uns Bürgern
sehr, sehr viel Geld wert. Es hat auch nicht das Niveau der Comedians erhöht,
die von auswärts kommen und ihre hiesige Fangemeinschaft um sich scharen. Die Spaßmacher
fühlen sich angesichts der majestätisch wuchtigen Hallenkraft allenfalls
ernster genommen.
Stadthalle und Tonne sind Prestigebauten, ob sie uns nun
gefallen oder nicht, ob uns das gefällt
oder nicht. Wenn sie dann kritisiert werden, dann muss man das akzeptieren. Der
eine gibt seinen Senf dazu, der andere übergießt alles mit Zuckerguss. Beides
kann dann schon mal ziemlich ungenießbar sein. Aber ertragen muss man es - eine Frage der Toleranz, aber auch ein
Zeichen für Weltläufigkeit.
Viel, viel spannender ist derweil die Frage, was wird aus
der Stadthalle, was wird aus der Tonne, wenn sich deren Charisma des Neuen
veralltäglicht hat?
Dann zeigt sich erst die Qualität - nicht nur der Künstler,
sondern auch des Publikums. Beide können, wie jüngst bei der
Auftaktveranstaltung zum Markenbildungsprozess, in perfekter Harmonie
zueinander stehen. Dieser Dienstagabend war eine gelungene Inszenierung des
Reutlingens, wie sich die Stadt unsere Stadt wünscht. Alles unter Kontrolle.
Selbst die Kritik, die an diesem Abend vor allem eine Kritik
an der Kritik war, besorgt man selbst.
Genau an diesem Punkt bröckelt die ganze Perfektion,
zerspringt der Spiegel, den man uns vorsetzen möchte.
Wir erleben momentan eine Inszenierung, die außerhalb von Theater
und Stadthalle stattfindet. Es ist die Inszenierung des Schönen, des Reinen und
des Guten. Dabei wird alles, was anderer Meinung ist, mit kalter Verachtung
bestraft. Um diese schöne, neue, heile Welt durchzusetzen, werden momentan alle
medialen Kanäle genutzt.
Der Nachteil dieser Strategie ist, dass sie ihr eigenes Ziel
vernichtet. So wird Reutlingen nie eine Großstadt. Vielleicht wird Reutlingen
eine Marke, aber eine, von der jeder weiß, dass sie reines Marketing ist.
Marketing ist stets weit entfernt von dem, was man Kunst
nennt. Marketing ist - im Gegensatz zum weitverbreiteten Vorurteil - noch nicht
einmal kreativ. Es ist weit entfernt von dem, was - so dürfen wir erwarten -
demnächst in der neuen "Tonne" alles zu sehen und zu hören sein wird. Hoffentlich
muss nun, um den Aufwand zu rechtfertigen, die "Tonne" nicht dem
Marketing geopfert werden. Es wäre das Ende der Kreativität und der Kunst.
"Kunst ist böse", heißt eine Vorstellung, die in
den nächsten Tagen ihre Aufführung in der "Tonne" erleben wird. In Reutlingen
muss sie mehr denn je böse - ja, im besten Sinne "böse"- sein, wenn
sie uns weiterbringen soll. Oder müssen wir damit rechnen, dass der Tonne
dasselbe Schicksal ereilt wie der Stadthalle, die mit ihrem Programm vor allen
Dingen ein Ergebnis des Marketings ist?
Dann haben wir die zehn Millionen Euro zum Fenster hinausgeworfen.
Ich wünsche der "Tonne", dass hinter dem Spiegel stets
viele, viele gute Ideen stecken - und
dass sie nicht die Auseinandersetzung mit uns, den Bürgern, scheut, sondern
unseren Bürgersinn schärft für das Kritische, das meistens nicht das Gute,
sondern das Beste will: Qualität statt Perfektion.
Bildertanz-Foto: Roland Sedelmaier
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