Kapitel 1: Die Stadt der Solitäre
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Es ist die schönste aller Städte, und es ist die hässlichste
aller Städte. Es ist die Stadt der Schönfärber, und es ist die Stadt der Schwarzgerber.
Es ist die Stadt der Gotik, die Marienkirche, und der Betonik, das Rathaus. Es
ist die Großstadt an der wilden Echaz und der Dörfer an dem stillen
Neckar. Es ist die Stadt der Widersprüche. Es ist Reutlingen, die Stadt
zwischen Geist und Kommerz, die Stadt zwischen allen Stühlen.
Es war auf dem Weg zur Markenauftaktveranstaltung am 16.
Januar 2018, als mir schlagartig klar wurde, warum ich mich so schwer tue mit
dieser Stadt. Sie ist voller wunderbarer Widersprüche, aber sie lebt sie nicht.
Und das - nichts anderes - ist ihr Problem.
Ich stand am ZOB, dem Zentralen Omnibus-Bahnhof, und schaute
über die Echaz hinweg auf das Arrangement von Stadthalle, Bürgerpark und dem
Krankenhäusle, diesem ziegelsteinigen Relikt aus längst vergangenen
Bruderhaus-Zeiten. Hell erleuchtet strahlte die Stadthalle über das Dunkel des
Bürgerparks hinweg, dieser hüllte sich
in winterliches Schweigen und das Krankenhäusle schaute traurig an sich selbst
herunter. Wie ein Mauerblümchen. "Warum reden die nicht
miteinander?", fragte ich mich. Ich denke noch kurz an die Wasserspiele,
die im Sommer auch nur sich selbst beleuchten, an die graue Skaterbahn, die -
bei nüchterner Betrachtung - etwas Ghettohaftes an sich hat, und an den
Gerbersteg nebst "Zigeunerhäusle", dem man seit letzten Jahr junges
Leben einhauchen möchte. Eine Konstellation ohne Konzept, murre ich in meinen
grauen Bart. Aber schon sind die Gedanken nur noch Brei. Ich gebe mir einen
Ruck und nähere mich den Toren der Stadthalle, die mir an diesem Abend trotz
der 700 eintrittsfreien Gäste einsamer und verlassener denn je vorkam.
Aber der erste Eindruck täuschte. Drinnen herrscht allseits
gute Laune, als sei sie das zukünftige Markenzeichen unserer Stadt:
"Reutlingen - heiter bis ulkig" Das wär's doch. Du setzt Dich ins
rechte Mittelfeld der Halle, hast die Arme verschränkt, weil es so am bequemsten
ist und Du Deinen Nachbarn nicht ins Gehege kommt. Doch bald darauf solltest Du
erfahren, dass dies die Haltung all derer ist, die eine ablehnende Haltung
einnehmen. Und das - so der Wille der Macht an diesem Abend - möchte man
ändern.
So beginnt die köstliche Komödie, die uns das Werden einer
göttlichen Marke schmackhaft machen soll. Wie bei dem italienischen Dichter Dante
treten nun in der Stadthalle zu Reutlingen die verschiedensten Jenseitsführer
auf. Sie alle sind angetreten, auch dem letzten Muffel (also mir) die schlechte
Laune zu verderben. Ganz vorne steht da der Verseschmied Helge Thun, der uns
aus der Hölle, dem "Biotop der Bruddler", wie es später unsere Oberbürgermeisterin
Barbara Bosch nennen wird, geleiten soll. "Du musst auf einem anderen Wege
gehen", sagt der römische Dichter Vergil bei Dante. Aber was Thun, Helge,
"wenn du aus dieser Wildnis willst entfliehen", wie es in der 700
Jahre alten Komödie heißt? Mit verschränkten Armen geht das nicht, macht er uns
klar. Er weiß wohl nicht, dass diese Haltung auch ein Zeichen des Wohlgefühls
sein kann. Im Internet findest Du übrigens auch folgende Erklärung: "In
Situationen, in denen wir von vielen Menschen umgeben sind, umarmen wir uns mit
dieser Körperhaltung selbst, um uns ein Gefühl von Wohlbefinden zu vermitteln.
Uns selbst zu umarmen, ist eine automatische Reaktion, um uns in gewissen
Momenten etwas Nähe zu spenden." Und zwar sich selbst. So - wie es an
diesem Abend die Oberen der Stadt ebenfalls mit sich selbst machten.
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Was Thun, Helge? - Der Moderator auf dem Weg zur Marke... |
Ich werde das Gefühl nicht los, dass sich an diesem Abend
vor allem die Stadtverwaltung und die Stadträte selbst umarmten. Eine Show
wurde uns präsentiert, die ganz für sich war, sich selbst in die Arme nahm. Perfekt.
In sich schlüssig. Abgekapselt von der übrigen Welt. Alles löste sich in Wohl-
und Selbstgefallen auf.
Solitäre unter sich und über uns: Das GWG-Gebäude |
So wies uns der redselige Powerpointer Peter Pirck von der Brandmeyer
Markenberatung aus Hamburg den Pfad durch das Fegefeuer des
Markenbildungsprozesses, dem einzig wahren Weg im "Wettbewerb der Städte
und Regionen". Sie wollen uns in ihrem Werben um "Fachkräfte,
Studierende und Besucher" das Paradies auf Erden errichten. Und wie
herrlich es sich da leben lässt, das improvisierten uns die
"Wundertüten" Bernd Kohlhepp und Uli Boettcher. Alles war politisch
und sprachlich korrekt. Alles war mit sich bestens konnekt.
Es war ein so schöner Abend, dass man gerne darüber
hinwegsah, dass auf der Bühne nur ein einziger gebürtiger Reutlinger auftrat: unser
aller Dodokay, der niemandem wehtut und einfach ein netter Kerl ist. Er war der
einzige, der eine persönliche Schwäche zugab: "Ich kann nicht
improvisieren". Das war so ehrlich, so jenseits aller Schauspielerei und
Blödelei, so normal, dass man sich für einen kurzen Augenblick als Bürger
dieser Stadt wiedererkannte - als jemand, der sein Bestes gibt, wohl wissend,
dass es nicht perfekt ist. Der Entertainer, der nicht improvisieren kann -
widersprüchlicher und sympathischer geht es nicht.
Reutlingen - die Stadt der unerwiderten Eigenliebe? |
Als ich Stunden später versuchte das zu reflektieren, was
ich vorher in der Halle gehört und gesehen hatte, erfasste mich schon so etwas
wie Melancholie. Über jedes der Gebäude und Plätze in unserer Stadt, über jede
ihrer Institutionen und Individuen kann man trefflich streiten, muss man
vielleicht sogar auch, aber am Ende bleibt das Gefühl: diese Stadt ist die
Stadt der unerwiderten Liebe, ja man möchte diesen Widerspruch auf die Spitze
treiben: Reutlingen ist die Stadt der unerwiderten Eigenliebe. Sie findet nicht
zu sich selbst. Sie hat ihre Widersprüche isoliert, verkapselt. Sie gibt sich
mehr, als sie sich nimmt. Und deswegen ist sie ein Stück Einsamkeit zwischen -
sagen wir's doch, lassen wir's raus - Tübingen und Metzingen.
Sie ist die Stadt der einsamen Solitäre, die sie hegt und
pflegt, aber die sie nicht zusammenkommen lässt. Und so werden die Gegensätze,
wie in einem Shakespeare-Drama, immer stärker. Wie dort haben alle Figuren ein
Eigenleben, das nichts mit dem des Autors zu tun hat - eben, weil es diesen
einen Autor gar nicht gibt. Die Gegensätze wissen nichts voneinander, bleiben
einsam. Und Reutlingen ist auch eine Stadt ohne Autoren, ohne Bürger. In
Reutlingen zählen die Einwohner, die Konsumenten, die Autofahrer, die
Fahrgäste, die Arbeitnehmer, die Studenten, die Wohnungssuchenden, ja sogar die
Touristen (die es nicht wirklich gibt, aber uns wünschen). Wir teilen uns auf
in unsere Funktionen - und dann wundern wir uns, wenn wir uns selbst nicht mehr
zusammenbekommen. Wir sind eine kreuz und quer geteilte Stadt.
Der Ledergraben zwischen uns |
Auf dem Marktplatz stehen sich die Flachbauten der Finanzen
und der Obrigkeiten den Giebelhäusern des Konsums stumm und starr gegenüber. In
der Wilhelmstraße ist der obere Teil den inhabergeführten Geschäften gewidmet,
der untere Teil hat sich den Kettenläden verschrieben. Eine Kommunikation
findet nicht statt. Völlig neutralisiert und marginalisiert das Mittelstück,
das nichts vermittelt und dessen größte Attraktion ein Buchladen ist.
Der fröhlich-frischen, mittelalterlichen Häuserzeile des
Tübinger Tors stehen die Klötze und Schachteln der grauen GWG und des grünen Nordsterns
in gelangweilter Arroganz gegenüber. Architekten aus allen deutschen Landen
kämen nach Reutlingen, um sich diese Gebäude der Frostmoderne anzuschauen. Kein
Wunder, dass sich immer mehr Städte im Wettlauf zu immer mehr Gleichheit
befinden. Die totale Nivellierung als Ergebnis des zwischenstädtischen
Wettbewerbs. Absurder geht's nimmer. Ist die totale Gleichschaltung auch das
Ziel von Reutlingen, die Überwindung aller Gegensätze? Das darf es nicht sein.
Im Gegenteil. Wir müssen unsere Widersprüche kultivieren. Weder Metzingen, noch
Tübingen können das. Sie sind doch die Gefangenen ihres Erfolges.
Aber so darf es nicht sein: Die Katharinenstraße verschluckt
sich geradezu an ihren Gegensätzen aus unbekümmerten Abrissen, leeren
Baustellen und - echten Perlen. Doch diese Gegensätze dumpfen vor sich hin. Was
könnte man selbst aus dieser - nur vorübergehenden - Situation alles machen?
Mit ein bisschen Phantasie.
Eine Zeile, aber keine Kulturmeile? |
Und so geht es weiter. Wir haben die engen Gassen der
Altstadt mit all ihren Verwinkelungen und dann die Vierspurer der Karl-,
Eberhard- und Lederstraße. Wir haben im Hintergrund den majestätischen Albtrauf
mit vorgeschalteter Achalm und Georgenberg und im Vordergrund die Reutlinger
Ebene. Wir haben die weitläufigen Dörfer der Eingemeindungen und die
engmaschige, hochverdichtete Kernstadt. Wir haben sogar - und dies sei jetzt
mit Augenzwinkern formuliert - Städte in dieser Stadt: die "Gartenstadt"
Orschel-Hagen und an der äußersten Peripherie von Stadt und Kreis sogar einen
Ort namens "Mittelstadt", das so wenig Stadt ist wie zum Beispiel
Düsseldorf ein Dorf ist.
Wir haben seit neuestem einen richtigen Tunnel, der zwar
weiß, wohin er führt, aber noch nicht so recht weiß, woher er kommt, bevor er
im Scheibengipfel untertaucht. Und wir haben eine University, die sogar einen
Weltruf genießt, als sei es das Harvard an der Echaz. Aber das Nachtleben findet
weitgehend in Tübingen und Stuttgarter statt, die Kernstadt erreicht es nicht.
Die Reihe der Widersprüche ließe sich beliebig fortsetzen -
und sie wird ja auch fortgesetzt mit der Errichtung von Hochhäusern, die als
"Tore" euphemisiert werden, aber mit dem mittelalterlichen Charakter
der alten Reichsstadt nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Wir haben die angedachte
Reindustrialisierung des Stadtgebietes durch ihre Dörfer, die das stillschweigend
hinnehmen sollen und dabei selbst um ihre Identität kämpfen.
Aus all dem Wirrwarr, an dem Gutachten kräftig mitweben, soll
nun eine Stadtmarke werden, in der alles Negative vernichtet und alles Positive
verdichtet ist. Aber eigentlich gehören diese Widersprüche zusammen - und sie
könnten sogar dieser Stadt vielleicht keine Marke, aber einen Charakter geben. Es
könnte sogar ein in Deutschland einmaliger Charakter sein.
Man muss nur das andere umarmen.
Wer baut den Steg in die Zukunft?
SERIE: STADT IM WIDERSPRUCH
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3 Kommentare:
Etwas überspitzt, aber durchaus treffend auf den Punkt gebracht. Eine Lösung für das Problem habe ich aber natürlich auch nicht...
Wie, Reutlingen hätte keine Autoren? Keine Autoren aus der Bestsellerliste vielleicht aber dennoch einige. Ich kann dir, lieber Raimund, nur meinen Roman Traumkreuze anempfehlen. Und schon ist Reutlingen die Wiege des polytheistischen Hedonismus, welcher hoffentlich in Bälde das Christentum (Jerusalem) und den Islam (Mekka) ablöst. Okay, ein paar Millionen müssten von dem Buch schon noch verkauft werden. Der erste Schritt jedoch ist getan! Grüße aus Schwerin, einer Stadt (sogar Landeshauptstadt) mit ähnlichem Image wie Reutlingen.
Autoren waren hier mehr im Sinne von Urheber allgemein gemeint. Nicht der Schriftsteller oder Dichter. In den Dramen des Herrn Shakespeare spiegelt sich nicht dessen Leben. So war das gemeint.
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