»Alles, was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt wissen, wissen wir durch die Massenmedien.«
Niklas Luhmann (1927-1998), deutscher Soziologe
1516: »Wer eine Stadt kennt, kennt sie alle.«
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund VollmerThomas Morus (1478-1535), englischer Staatsmann und Autor von "Utopia"
Alle Wege führen zum Bürgerentscheid, romantisiert sich die
Wir-Fraktion im Reutlinger Stadtrat die Zukunft unserer Stadt. Sie hat sich
zwar nur einen Baustein ausgesucht, den Bau des neuen, steilen Hotel-Turms an
der Stadthalle, aber dahinter spürt man die tiefe Sehnsucht, etwas
grundsätzlich von uns Bürgern entscheiden zu lassen, was bislang in einer
repräsentativen Demokratie das Privileg der gewählten Gremien war.
Doch der Stadtrat entfernt sich in seinen Entscheidungen,
die zumeist auf Verwaltungsvorlagen basieren, mehr und mehr von dem, was die
Menschen in dieser Stadt denken. Diese Entfremdung ist sicherlich schon eine
ganze Weile im Gange, aber jetzt bekommt sie durch Ärgernisse wie das Facebook
"Bildertanz Reutlingen" mehr und mehr Öffentlichkeit. Wir sind Kritik,
wir sind Opposition. Wir sind aber auch mit unseren knapp 8500 Abonnenten ein
kleines Massenmedium. Wir erreichen - wie zum Beispiel in dieser Woche - bis zu
60.000 Menschen. Zumindest "zuhause sind wir weltberühmt" (unser
Slogan).
Nicht umsonst nennt sich die Gruppierung, die einen
Bürgerentscheid provozieren will, ganz
einfach "Wir". Sie meint mit sich uns, die Bürger dieser Stadt, die
in einer sorgfältig aufgeteilten Welt der Autofahrer, Busfahrer, Radfahrer,
Fußgänger und sonstiger Funktionsgänger eigentlich nur dann vorkommen, wenn man
aktiv werden soll. Bürger sind wir immer dann, wenn man etwas von uns will,
wenn wir Verantwortung übernehmen sollen. Dann heißen wir auch nicht mehr
Steuerzahler, sondern Steuerbürger, dann sind wir nicht mehr nur Einwohner,
dann sind wir wieder Bürger.
Nun spüren die Drei von Wir, dass wir, die Bürger, das neue
Hotel in seiner Erscheinungsform nicht als steilen Zahn, sondern als steilen Wahn im Bürgerpark empfinden. Dazu muss man ja nur die Kommentare im
Bildertanz-Facebook lesen.
"Wir" merkt, dass wir mit äußerstem Argwohn einem
alles überlagernden Projekt gegenüberstehen, das unheimlich ist, auch weil es keinen Namen trägt.
Überall entstehen in unserer Stadt die schönen, eiskalten Bauten der Investoren. Es sind Gebäude, die sich über alle Städte hinweg einander
ähneln. Identifikation und Individualität schaffen sie nicht.
Dieser Prozess hat auch deshalb nichts mit uns zu tun. Das
ist das Unbehagen, das eben hier bei uns im Bildertanz-Reutlingen zum Ausdruck
drängt.
Wir wollen kein Utopia.
Das Utopia, das Thomas Morus vor 500 Jahren erschuf, war eine
Welt, die geschaffen war für die Ewigkeit. Jede der 54 Städte auf seiner Insel namens Utopia
sieht aus wie die andere. Alle handeln auf der Basis derselben Gesetze und
Sitten. Eine Welt ohne Vielfalt, selbst der Tagesablauf ist genau geordnet. Vor
allem aber gibt es "keinerlei Privatbereich".
Ein anderer
"Utopist", der Italiener Tommaso Campanella nannte - inspiriert durch
Thomas Morus - seine Stadt der Zukunft "Citta del Sole". Und hier
sind es die Behörden, die alles regeln - und zwar bis ins Allerkleinste.
"Alles ist Gemeingut; die Zuteilung aber ist Sache der Behörden",
beschreibt Campanella eine Welt, in der sogar die Auswahl der Lebenspartner von
der Obrigkeit bestimmt wird.
Seine Schrift erreichte noch vor ihrer Drucklegung unsere
Nachbarstadt Tübingen und inspirierte den Theologen Johann Valentin Andreae,
der sich ebenfalls aus der Zukunft eine Insel schuf.
"Christianopolis" nannte er sie. Hier gibt es allerdings nach wie vor
die Ehe, das Fundament jeglichen Bürgertums, aber die Erziehung der Kinder ist,
wie bei Campanella und Morus, nicht mehr Sache der Familie, sondern ab dem sechsten
Lebensjahr Sache der Behörden.
In all diesen Utopien herrscht vollkommene Gleichheit, was natürlich
auch die Voraussetzung dafür ist, dass sich alle einem gemeinsamen Willen unterwerfen.
Wie aber erreicht man dieses Gehorsam in der Gleichheit? Wichtigste Entscheidung: Abschaffung der Geschichte,
durch eine immer und überall gleiche Welt, in der es weder Vergangenheit, Gegenwart
oder Zukunft gibt. Es gibt nur noch Regeln und Gleichförmigkeit. Gebäude, die zum Beispiel für eine andere Vergangenheit stehen als die der Regeln und Gesetze, müssen verschwinden.
Ob wir das wollen oder nicht, auf diese Frage laufen wir ganz allmählich
zu - so sanft, so still, so säuselnd, dass wir uns nicht wundern dürfen, wenn sie
eines Tages beantwortet ist, ohne dass wir auch nur einmal gefragt wurden. Es ist
ein sehr heimlicher Prozess, der vielleicht noch nicht einmal von denen bewusst
gewollt wird, die ihn betreiben. Aber es ist nun einmal das Ziel eines jeden Systems,
perfekt zu sein.
Zu unserem Glück übernehmen sich die Protagonisten dabei, weil in den Entwürfen
stets die Nebenwirkungen übersehen werden. Deshalb gilt hier der Satz: "Zu
Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie sich selbst."
Das wäre dann ein Votum
für den Bürgerentscheid.
Bildertanz-Foto: Rudolf Thumm (2010)
SIEHE AUCH: DIE SONNTAGSSTADT
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen