Reutlingens Stadtrat Hagen Kluck schreibt auf Facebook an den
Bildertanz-Reutlingen:
»Reutlingen war nicht nur eine schöne Stadt, sondern ist es
heute immer mehr. Wenn eine Stadt sich nicht verändert, ist sie tot. Auch der
Listplatz hat sich verändert. Früher mag er eine Parkanlage gewesen sein, heute
ist er Treffpunkt von Menschen, die Schwierigkeiten mit sich selber und ihrem
Umfeld haben. Auch die haben ein Recht, sich auf Reutlingens öffentlichen
Plätzen aufzuhalten. Oder soll man die mit Polizei-Hundertschaften vertreiben?
Glaubt Ihr wirklich, dass früher alles besser und schöner war? Weil man auch
samstags arbeiten musste, weniger Leute ein Auto hatten und sich nur wenige
ihre Freizeit nach eigenen Wünschen gestalten konnten? Ich schaue lieber nach
vorne als zurück. Ich will keine "falsche" Stadt mit aufgeklebtem
Fachwerk auf Betonmauern. Ich will keine nostalgische Architektur, die alte
Zeiten nachahmt. Ich lebe gerne in unserem modernen, dynamisch wachsenden
Reutlingen. Wäre es keine schöne Stadt, würden doch kaum jedes Jahr fast 1000
Leute mehr hier leben wollen...«
"Niemand ist gut genug, einen anderen ohne dessen Zustimmung zu regieren."Abraham Lincoln (1809-1965), amerikanischer Präsident
Antwort von Raimund Vollmer
In seiner über alle Selbstzweifel erhabenen
"Wenn-Dann-Dialektik" schreibt unser Freund Hagen: "Wenn eine
Stadt sich nicht ändert, ist sie tot." Mit derselben Inbrunst könnte man
auch schreiben: "Wenn die Architektur sich nicht ändert, ist sie
tot." Und da Hagen ja dazu neigt, sein "Ich will" zum "Singularis
Majestatis" zu erheben, zum allgemeingültigen Prinzip, bedarf es schon
einmal einer Entgegnung, die sich auch der unerschütterlichste aller Stadträte vielleicht
zu Herzen nimmt.
Erstens: Also den Alleinanspruch auf Zukunft hat unser Hagen
nicht, wenn er sagt, dass er lieber nach vorne schaut als nach hinten. Die
Zukunft besteht eben nicht aus dem totalen Bruch mit dem Alten, wie es in Reutlingen
gerne praktiziert wurde. Hochhäuser waren im kernstadtnahen Bereich die
Ausnahme, jetzt werden sie zum Allgemeinprinzip - und zwar ganz klar mit dem
Effekt einer radikal anderen Sicht auf unsere Stadt und in unsere Stadt. Und das ist eine Zukunft,
die sich im wahrsten Sinne des Wortes über die Köpfe der Menschen hinweg
errichtet. Ohne deren ausdrückliche Zustimmung.
Kürzlich ging in Hamburg der 14. BDA-Tag zu Ende, zu dem der
Bund Deutscher Architekten eingeladen hatte. Das Motto lautete: "Effizienz
ist nicht genug". Hier herrschte offenbar unter den Profis die Meinung,
dass der Wert deutscher Städte und Städte und Dörfer erhalten bleiben solle und
nicht noch mehr der Effizienz geopfert werden darf.
Folgt man Hagens Argumentation, dann war das, was einmal in
Reutlingen war, nicht sehr viel wert. Die Architekten sind aufgewacht und haben
festgestellt, dass sie offensichtlich schuld daran sind, dass in den letzten
Jahrzehnten der Wert dieser Städte gesunken ist - gerade durch die Abrisse und
Neubauten, die sie geschaffen haben unter dem Druck von Investoren und
Generalunternehmern, die jegliche Kreativität unterbinden.
Wenn sie dann wenigstens Kosmetik haben betreiben dürfen,
dann gehörten ihre "aufgeklebten Fachwerke auf Betonmauern" zu ihren
kleinsten Sünden, sie sind eher ein Kuriosum, über das man lächeln kann, als
ein Ärgernis. Nein, wir glauben nicht, dass früher alles besser und schöner war,
aber es hatte seinen Wert - wie zum Beispiel der historisch sehr bedeutsame Zwiefalter
Hof, der in den siebziger Jahren einem Effizienz-Gebäude, einem Parkhaus,
weichen musste. Solche unbekümmerten Abrisse im Namen der Moderne gab es jede
Menge in Reutlingen. Auch die alte Straßenbahn hatte ihren Wert (und wäre heute
eine Attraktion, um die uns Tübingen und Metzingen beneiden würden). Bequem war
sie bestimmt nicht, aber sie wäre heute das, was das nicht minder unbequeme Cable-Car
in San Francisco ist - Teil einer Marke. Und in der Zeit, die noch vergehen
wird, bis die Stadtbahn kommt (wenn der technische Fortschritt sie nicht schon
bald für obsolet erklärt), hätte der Brunnen weiterbestehen können.
Wahrscheinlich hätten ihn die Bürger sogar privat finanziert - was natürlich
für Stadt und Stadtverwaltung eine ziemliche Blamage wäre. Aber die haben sie
ja jetzt auch. Und der Brunnen hat früher niemanden vom Listplatz vertrieben,
und er würde es auch heute nicht tun.
Die Architekten haben in Hamburg versucht, ihren eigenen
Wert wieder herauszustellen. Zerrieben zwischen Effizienz, die ja angeblich
nach Hochhäusern schreit, und ausufernden Regularien, die übrigens mit an
Willkür reichender Konsequenz beliebig verändert werden, haben sie den Eindruck,
dass sie ihr eigenes Rollenverständnis gründlich überarbeiten müssen - ganz
bestimmt nicht im Sinne einer rückwärtsgewandten Architektur.
Zweitens: Lebenswert machen eine Stadt nicht unbedingt die
Häuser, sondern die Menschen. Auch das mussten sich die Architekten in Hamburg
anhören. Da darf man doch mal die These aufstellen, dass vieles von dem, was in
den vergangenen Jahrzehnte gebaut wurde, wunderbar in eine Zeitschrift wie
"Schöner wohnen" hineinpasst - mit der Folge, dass man nicht den
Eindruck hat, dass da Menschen leben. Sie sind allenfalls Bewohner (oder in
einer Stadt Einwohner). Sie sind Beiwerk in der klinisch antiseptischen Umwelt,
die ohne uns, die Verunreiniger, besser dastünde. Es kann natürlich sein, dass
unser Hagen sich genau diese Art von Stadt wünscht. Sie ließe sich sehr leicht
regieren. Aber als Liberaler kann er das doch nicht wollen.
Drittens: An anderem Ort, aber im selben Zusammenhang, meint
Hagen und mit ihm wohl auch die überwältigende Mehrheit seiner Ratskollegen,
dass ein Bürgerentscheid über den Bau eines Hotels neben der Stadthalle nicht
in Übereinstimmung mit der Gemeindeordnung sei, auch nicht der Bürgerentscheid
selbst, weil er auf eine Ja-Nein-Entscheidung hinausläuft. Es geht nicht um den
Bau eines Hotels, es geht um die grundsätzliche Gestaltung dieser Stadt. Und
nach sechzig Jahren der schleichenden Umgestaltung dieser Stadt sollten die
Bürger wohl das Recht haben, darüber mitzuentscheiden. Zu oft wurde gegen den
Willen von Bürgern entschieden, ohne dass diese selbst die Chance hatten zu
erfahren, ob ihre Meinung mehrheitsfähig war oder nicht.
Aber das ist ja noch nicht einmal das Hauptproblem. Vielmehr
geht es hier - bei der Frage nach einem Bürgerentscheid - um die Angst vor
Kontrollverlust, dessen Stadtverwaltung und Stadtrat zumindest verdächtig sind.
Der Mechanismus dahinter lässt sich vereinfachen auf die Floskel: "Wo
kämen wir denn hin, wenn jeder..." Hinter der Angst vor Kontrollverlust
steckt aber eine noch größere Angst - die Angst vor der Zukunft. Gerade das
Erstellen von immer mehr Regularien ist ein Zeichen dafür, dass man Veränderung
nicht will und der Zukunft Steine in den Weg legt. Nun ist Hagen als Liberaler
bestimmt kein Freund von immer mehr Regularien, aber er will sie auch nicht
überwinden. Ein Bürgerentscheid könnte zum Beispiel lauten: Dürfen in
Reutlingen künftig keine Gebäude mehr errichtet werden, die höher als sechs
Stockwerke sind? Die Antwort wäre Ja oder Nein. Ein klares Urteil, eine klare
Direktive.
Natürlich gälte dies dann fürs ganze Stadtgebiet und nicht
nur für die Kernstadt. Und da liegt dann der Verdacht nicht fern, dass genau
dies unserem Stadtrat und unserer Stadtverwaltung nicht gefällt. Denn würde sie
die Frage auf die Kernstadt beschränken, wäre der Aufruhr in den Vororten
garantiert.
Hagens liebstes Killerargument für Hochhäuser lautet: der
fehlende Platz erzwingt den Bau von Hochhäusern.
Es ist nur seltsam, dass eine Stadt wie Paris eine
Verdichtung von 21.000 Menschen pro Quadratkilometer hat und Reutlingen eine
von 1300. Dazwischen liegt noch ein weites Feld der Möglichkeiten zur
Nachverdichtung. Und Paris hat sich, um seinen Wert als beliebteste Stadt der
Welt zu erhalten, entschieden, weitere Hochhausprojekte rigoros einzudämmen -
auf Druck der Bevölkerung.
Es gibt so viele Aspekte, die bei der Gestaltung unserer
Stadt Reutlingen zur Klärung anstehen, dass es geradezu unverantwortlich ist,
ohne unsere Zustimmung zu regieren. Dazu wäre es notwendig, dass Stadt und
Stadtrat aus ihrer doch sehr defensiv anmutenden Haltung herauskommen. Wer
Stadtrat ist, darf keine Angst vor den Bürgern haben, denn sie sind die Zukunft
dieser Stadt. Wie sehr das stimmt, musste diese Stadt in den letzten Jahren zu
ihrer eigenen Überraschung feststellen. Noch zu Beginn dieses Jahrzehnts meinte
sie, alle Planung auf eine schrumpfende Stadt ausrichten zu müssen. Plötzlich drehte
sich alles. Man wollte in Reutlingen wohnen, obwohl man in Stuttgart arbeitet.
Hier in RT ist zwar die Arbeitslosigkeit niedrig, aber das liegt daran, dass es
die Arbeitsplätze gar nicht gibt. (Von meinen drei Töchtern arbeitet keine in Reutlingen,
auch nicht ihre Partner).
Wichtig wäre es herauszufinden, was die Ursachen sind für
das Wachstum unserer Stadt. Wenn ich von Bad Cannstatt, einem Ortsteil
Stuttgarts, bis in die Innenstadt 40 Minuten brauche, dann kann ich auch nach
Reutlingen ziehen. Dann ist das nur eine Frage der Effizienz und nicht nach der
Schönheit oder Attraktivität. Dass RT potthässlich sei, wie mancher hier in
Facebook anzumerken wünscht, ist natürlich eine ähnliche Übertreibung wie Hagens
Behauptung, eine Stadt sei tot, wenn sie sich nicht ändert. (Wobei wir ja
eigentlich alle die Änderung wollen!!!)
Im übrigen wäre es sehr aufschlussreich für uns Bürger
gewesen, wenn im Rahmen des Markenbildungsprozesses auch danach gefragt worden
wäre, inwieweit Stadtrat und Stadtverwaltung zur Markenstärke beitragen. Aber
das hat man sich nicht getraut. Dabei gehören Offenheit und Selbstbewusstsein zu
einem "modernen, dynamisch wachsenden Reutlingen", wie es sich Hagen
Kluck wünscht.
PS. Eines sei Hagen Kluck zugestanden: Er trägt zur
Markenbildung Reutlingens mit seiner Offenheit und Direktheit auf jeden Fall bei.
Bildertanz-Quelle: RV / Archiv Bildertanz
4 Kommentare:
@HK
Nur als kleines Gegenbeispiel:
Also wir arbeiten heute auch Samstags, Sonntags und an Feiertagen und manchmal 16 bis 20 Stunden am Tag um Termine mit dem Kunden halten zu können in mittelständischen Betrieben der Industrie 3.0 und in der Regel ohne Überstundenzuschlag. So sieht es aus, Herr Stadtrat. Sie haben sicherlich angenehmere Arbeitszeiten.
Heute haben einzelne Personen mehr als einen Pkw. Nachts sind die Straßen voll mit Autos, früher nicht, da waren alle normalen Leute daheim im Bett und es herschte besinnliche Nachtruhe.
"Zu oft wurde gegen den Willen von Bürgern entschieden, ohne dass diese selbst die Chance hatten zu erfahren, ob ihre Meinung mehrheitsfähig war oder nicht".
Das ist jetzt aber mal eine These, die ja schon fast verfassungsfeindlich ist, da geht mir das Meser im Sack auf.
Leben wir in einer repräsentativen Demokratie, oder tun wir das nicht? Hat der Gemeinderat die entsprechenden Entscheidungen gefällt, oder hat er das nicht? Ist es gute Sitte der Demokraten, Mehrheitsentscheidunegn zu akzeptieren oder ist sie es nicht?
Zu Alumagnet: Natürlich haben wir eine repräsentative Demokratie, in der sich Politiker permanent daran orientieren, was Umfragen sagen. Warum dürfen die Bürger einer Stadt nicht erfahren, wie die Meinungsbildung unter den Bürgern ist.
Ist Meinungsbildung verfassungsfeindlich?
Leben wir in einer Obrigkeitsstadt? Städte entstanden aus dem Wunsch nach Freiheit.
Alle zehn Jahre mal die Menschen zu befragen, ist doch wirklich nicht "antirepräsentativ"? Der Markenbildungsprozess hat doch gerade gezeigt, welche immense Kluft zwischen Bürgern und Stadtverwaltung (deren Teil ja auch der Stadtrat ist) besteht. Ich wäre an Ihrer Stelle sehr, sehr nachdenklich - und würde bestimmt kein Messer zücken, sondern stattdessen auch mit Echtnamen zu meiner Meinung stehen.
Keep calm! Ich hatte mich nie gegen Meinungsbildung ausgesprochen. Ich hatte mich gegen die Aussage gewandt, zu oft würde gegen die Meinung der Bürger entschieden. Weil das Nonsens ist. Weil immer welche dafür und welche dagegen sind. Woher also nimmst du die Weisheit, dass andere Entscheidungen besser gewesen wären?
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