Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Der Wunsch ist amtlich seit 1986.
Rechtzeitig vor dem 200. Geburtstag ihres "größten
Sohnes", des gebürtigen Reutlingers Friedrich List (1789-1846) beschloss der
Stadtrat vor mehr als 30 Jahren, die Wirtschafts- und Technologiegeschichte der
ehemaligen Reichsstadt mit der Eröffnung eines Industriemuseum zu würdigen. Das
war zu einem Zeitpunkt, als der Niedergang dieser Industrie überall sichtbar
und spürbar geworden war. Es war eine sehr honorige Überlegung, die - klug
umgesetzt - Wegweiser für eine Neue
Wirtschaft hätte werden können.
Zukunft hätte Herkunft. Und Herkunft hätte Zukunft.
Friedrich List, der sich "aus Verbitterung über das
Unverständnis, auf das seine Ideen in Deutschland stießen, und über die
Engstirnigkeit kleinstaatlichen Denkens, die dort herrschte, in der Nähe von
Kufstein, das Leben nahm" (so der Schriftsteller Herbert Roch), hätte zu
seinem 200. Geburtstag, 1989, dieses Projekt sicherlich gelobt und sich mit uns
gefreut..
Aber dann war lange Zeit alles andere wichtiger - vor allem
die Kultur. Da stand das Bildungsbürgertum im Zentrum der Stadt. Prominentestes
Wahrzeichen dieses Denkens wurden die Stadthalle und der Neubau der "Tonne"
- für beider Entstehen die nach dem 2. Weltkrieg wiederaufgebaute "Listhalle",
ursprünglich ein Nazibau, weichen musste.
Reutlingen war nach dem Krieg unter Oskar Kalbfell die Stadt
der Zäsuren geworden. Die Brüche mit der Vergangenheit bestimmten den
Zeitstrom. Mit der kompletten Neudefinition des Bruderhausgeländes erlebte diese
Phase in der Regierungszeit von Barbara Bosch ihren Höhepunkt.
Die einen empfinden diese Epoche als eine Zeit des Triumphes
der Moderne über das Vergangene, für die anderen grenzte die Politik der
Abrissbirnen an Barbarei. Da geht bis heute ein Riss durch die Stadt. Die Zäsur
zeigt sich selbst in der Bürgermeinung - mit fatalen Folgen: die Industrie- und
Wirtschaftsgeschichte dieser Stadt, eigentlich Triebkraft und Kernstück aller
Moderne, ging in dieser Auseinandersetzung sang- und klanglos unter.
Bis auf ein Refugium: In der Eberhardstraße 14 entstand vor
25 Jahren ein Industriemagazin, in dem seit 1993 eine Sammlung an Maschinen und
Modellen ihre Heimat fand, aber niemand bemühte sich, diesem Standort eine
gewisse Prominenz und Eminenz zu geben. Im Gegenteil. Manchmal hatte man den
Eindruck, dass man ihn ein wenig verwahrlosen ließ. Ein Alibi der Hochkultur. Reutlingen
definierte sich auf einer Wolke 7, im siebten Himmel, also jener Sphäre, unter
der Aristoteles alles versammelt sah, über der aber nichts mehr ist,nur noch
leerer Raum. Mehr geht nicht mehr. Ein eigener Stadtkreis wäre der hermetische
Abschluss dieser Epoche.
Es waren und sind frühere Beschäftigte jener Firmen, die das
Industriezeitalter der Stadt und ihres Umkreises prägten, die im
Industriemagazin bis heute die Maschinen hegen und pflegen. Diese zwölf Rentner
tun dies ehrenamtlich, aufopferungsvoll, leidenschaftlich. Sie waren und sind selbst
Beispiele für das, was Reutlingen als Industriestandort vor allem auszeichnete:
eine Arbeiterstadt, eine "rote" Stadt, in der sich der
Nationalsozialismus erst spät etablierte und der dieser in all seinen verführerischen
Alternativen nie eine Zukunft haben wird. Das wäre dann die schlimmste aller
Zäsuren.
"Stadt der Millionäre?" Eigentlich ist dafür das sozialdemokratische
Denken an der Basis viel zu stark. Sozialdemokratisch nicht im Sinne einer alles
Denken übernehmenden Partei, sondern als Grundstimmung, die kritisch zu dem
steht, was um die Bürger herum entsteht. Eine Grundstimmung, die nicht unbedingt
Avantgarde sein will, aber auch nicht hinterwäldlerisch. Ganz bestimmt nicht
ist sie geprägt von dem Wunsch nach Großstadt. Das ist eine von oben verordnete
Idee, die so wenig zu dieser Stadt passt wie ein himmeltürmender Wolkenkratzer.
Nun soll Reutlingen endlich ein Industriemuseum bekommen -
im Prinzip dort, wo jetzt das Industriemagazin steht. In einem
Grundsatzbeschluss hatte der Stadtrat dies eigentlich schon 2005 so gut wie
festgelegt und den Aufwand auf rund vier Millionen Euro taxiert (was heute etwa
dem Bau eines neuen Steges über die Lederstraße entspricht). Aber die
angespannte Haushaltslage setzte in den nächsten 13 Jahren stets andere
Prioritäten. So die rationale Begründung, die es ermöglichte, anderes zu
gestalten, das offenbar einer höheren Rationale folgte.
Es bleibt bei der Eberhardstraße, allerdings auf der Seite,
auf der sich nun wirklich gar nichts tut, an deren "Stiftung für konkrete
Kunst" man gerne vorbeifährt, aber nie einkehrt. Es erbaut sich auf dem sogenannten
Wandelareal -genau dort, wo aber kaum jemand wandelt. Wandelhallen sind es
nicht.
Man sei beeindruckt über eine Konzeption, die nun der
Sozialdemokrat und Historiker Dr. Boris Niclas-Tölle am Dienstag dem Stadtrat
in öffentlicher Sitzung vorgestellt hat. Der Reutlinger Generalanzeiger
berichtet heute darüber. Im Netz ist die Lektüre dieses Artikels
kostenpflichtig einsehbar, eine Kopie dieser Konzeption, die uns alle
wahrscheinlich mehr interessiert, war online für den Verfasser dieser Zeilen nicht
auffindbar. Schade.
Folgt man den Ausführungen des GEA in der Druckausgabe bleibt
es bei dem Standort Eberhardstraße, wahrscheinlich auch, weil es keine
Alternative gibt. Die große Chance, für etwa vier Millionen Euro das ehemalige
Feuerwehrmagazin zu nutzen, hat man schon vor Jahren vertan. Es wäre den
Reutlingern vertrauter gewesen - sehr viel vertrauter. Es hätte auch als eine
weitere Begründung für den Bau des neuen Stegs über die Lederstraße dienen
können, der ebenfalls am Dienstag beschlossen wurde. Es wäre in unmittelbarer
Nähe von Klein-Venedig gewesen, dem traurigen Opfer des Nachkriegsmodernismus. Es
war Heimat der Gerber und Färber gewesen, also eines Gewerbes, dem Reutlingen
seinen Wohlstand mitzuverdanken hat, das aber auch für die Schaffenskraft einer
schwer arbeitenden Bevölkerung stand. Nun ist das alte Feuerwehrmagazin, schmuck
renoviert, in privater Hand und wird kommerziell genutzt.
Natürlich assoziiert das jetzt gewählte Gebäude an der
Eberhardstraße Industriegeschichte. Vielleicht sogar in dem Zustand, in dem es
sich jetzt befindet, mehr als nach einer Ausgestaltung zu einem Museum. Denn
dann wird es - so ist das mit Museumsbauten - schick und so modern dastehen,
als habe es die Epoche, für das es steht, weit hinter sich gelassen. So wird es
kommen. Architekten können gar nicht anders - und Stadträte sowieso nicht.
Der General-Anzeiger zitiert den Historiker Niclas-Tölle mit
einem aufschlussreichen Halbsatz: "Der Beitrag der Industrie zum Aufstieg
Reutlingens zur modernen Großstadt", nennt er eine Grundlinie, der er bei
der Konzeption des Industrie-Museums verfolgt sehen möchte. Dahinter steht eine
etwas verzerrte Perspektive. Reutlingen wurde bestimmt nicht Großstadt, weil es
die Industrie so wollte. Das sagt Niklas-Tölle auch nicht, wenngleich der GEA
aufreißt: "Wie Reutlingen Großstadt wurde: Industriemagazin soll lokale
Geschichte erlebbar machen". Das eine, Großstadt, hat mit dem anderen,
Industrie,nichts zu tun. Reutlingen wurde Großstadt durch einen Verwaltungsakt,
durch Eingemeindung von ländlichem Raum - und weil es ein Oberbürgermeister
namens Oskar Kalbfell so wollte. Entsprechend baute er das Rathaus. Ja, er hatte
1945 die Gelegenheit genutzt, um durch Eingemeindung von Pfullingen, Eningen
und Unterhausen die Basis zu einer Großstadt zu legen, die ihm dann aber 1949
wieder entzogen wurde. Erst mit der kommunalen Gebiets- und Verwaltungsreform
in den siebziger Jahren konnte er Reutlingen den Weg jenseits von 100.000
Einwohnern ebnen. Erreicht wurde dieses Ziel 1988, also vor 30 Jahren, zu einem
Zeitpunkt, an dem zum Beispiel die genuin hier entstandene Textil-Industrie keine
Bedeutung mehr hatte. Nein, Reutlingen wurde durch den ländlichen Raum Großstadt.
Und sie ist heute Großstadt, weil in ihren Vororten viele Bürger wohnen, die hier
gar nicht ihr Geld verdienen. Kein guter Ansatz. Aber den Stadträten wird's
gefallen haben.
Das Industriemuseum soll als "interdisziplinärer,
partizipativer Lernort" entstehen. Hört sich toll an - vor allem bei
Lehrern, die den Besuch dieses neuen Museums dann in ihre Jahresplanung
einbauen können. Ein Pflichtprogramm für alle Schüler. Damit besteht die
Gefahr, dass aus der Geschichte der Reutlinger Wirtschaft und Industrie Sozialpädagogik
wird. Aber vielleicht wird darin ja auch von vielen eine Chance gesehen - für
die Menschen, die im 21. Jahrhundert die Verhältnisse bestimmen, die
sogenannten Dienstleister, die das alles entsprechend medial aufbereiten.
Laut Zeitungsbericht müsse dies ein "Mitmachmuseum"
(Niclas-Tölle) werden, "auch um die zahlreichen ehrenamtlichen Mitarbeiter
in dem bisherigen Industriemagazin einzubinden" (GEA). Mitmachen? Einbinden?
Mon Dieu, das sind die Helden, das sind die Macher!!! Das sind die, die seit
1986 die Idee des Magazins am Leben erhalten haben! Werden sie jetzt der
Sozialpädagogik unterworfen? Wer je einen Vortrag von ihnen unter den
Verhältnissen des jetzigen Industriemagazins gefolgt ist, weiß, dass es
authentischer nicht geht. Baut das Museum um diese Menschen herum!!!
Das wäre auch im Sinne der "Reutlinger Bürger" wie
Gustav Werner, Wilhelm Maybach und Friedrich List, denen Niclas-Tölle wohl eine
zentrale Rolle zukommen lässt. Keine schlechte Kombination, fürwahr - vor allem
Beispiele dafür, wie wenig sich das Leben planen lässt. Nur List ist hier
gebürtig, seine Wirkung überstrahlt eine ganze Epoche. Ohne Gustav Werner (was
für ein Charakter!) hätte Gottlieb Daimler wohl niemals Maybach kennengelernt. Das
ist Weltgeschichte. Und damit übersteigt die Phantasie jedes Großstadt-Denken,
das dann nur noch lächerlich wirkt.
Reutlingen braucht ein Industriemuseum. Ohne Zweifel und mit
höchster Priorität. Und es könnte sogar ein echter Renner werden, wenn es sich in
seiner Konzeption von aller Großstadtsucht befreit. Die Reutlinger können und
wollen auch ohne das stolz auf ihre Stadt sein - und natürlich auf sich selbst.
Wenn man so hört, welche Namen momentan im Umfeld der
bevorstehenden OB-Wahlen gehandelt werden, dann besteht die große Hoffnung,
dass diese seit Kalbfell-Zeiten bestehende Manie zu Ende ist. Wir sind im
siebten Himmel.
Da bleibt nur noch eins: Rückstoß zur Erde.
Bildertanz-Fotos:Raimund Vollmer
7 Kommentare:
Hier der Link zur Konzeption http://www.stadtverwaltung-reutlingen.de/programme/RIS/ris_web.nsf/xsp/download?documentId=A07FDFAAF7D20FFEC12582D6002C2645&file=Konzept%20f%C3%BCr%20ein%20Industriemuseum%20Reutlingen.pdf
Zur Drucksache: http://www.stadtverwaltung-reutlingen.de/programme/RIS/ris_web.nsf/xsp/download?documentId=6DE8F2A617B0B68BC12582BF0038EC3B&file=Konzeption%20f%C3%BCr%20ein%20Industriemuseum.pdf
Ha, Danke. Werde ich mir heute abend anschauen!
Ja, das Industriemuseum war in der Ära Bosch und deren Entourage ein Stiefkind. Leider, es hätte die Möglichkeit eröffnet, die Industrialisierung Reutlingens der hier ansässigen Branchen (nicht nur Textilindustrie, sondern auch der Metalltuchfabriken (gut 80 % der in Deutschland erzeugten Metalltücher stammten aus Reutlingen), die industiellen Aktivitäten des Bruderhauses (singulär in der Industriegeschichte des 19. Jhds) darzustellen. Es gab sogar bürgerschaftliches Engagement, Herr Wandel spendete ein sehr grosszügiges Legat, das an die Bedingung geknüpft war, dass bis zu einem bestimmten Zeitpunkt das Projekt Industriemuseum eine entscheidende "Reife" erreicht hätte. Was ist daraus geworden: nichts, und nochmals nichts. Das Legat verfiel; was war doch Reutlingen für eine reiche Stadt, die sich so etwas leisten konnte. Man kann nur hoffen, dass ab dem nächsten Jahr für das Industriemuseum ein besseres Lüftlein weht, damit eine Seite Reutlingens gewürdigt wird, die ganz massgeblich zum Fortschritt und zum Wohlstand in Reutlingen beigetragen hat.
Zitat R.V.
"Reutlingen wurde Großstadt durch einen Verwaltungsakt, durch Eingemeindung von ländlichem Raum - und weil es ein Oberbürgermeister namens Oskar Kalbfell so wollte. Entsprechend baute er das Rathaus. Ja, er hatte 1945 die Gelegenheit genutzt, um durch Eingemeindung von Pfullingen, Eningen und Unterhausen die Basis zu einer Großstadt zu legen, die ihm dann aber 1949 wieder entzogen wurde."
Bitte, informier Dich erst mal über Kalbfell´s Beweggründe zu den kriegsbedingten "Eingemeindungen" bevor Du dich da so vergallopierst.
Gruß
Michael Staiger
Oh, Michael, das habe ich getan. Ich habe mich informiert. Und wenn ich einen Zusammenhang zwischen 1945 (Zusammenbruch),1966 (Rathausbau) und Rigorosität bei den Eingemeindungen nach 1970 sehe, dann sehe ich darin ein starkes Bekenntnis zu großen Verwaltungseinheiten - entsprechend dem Denken aller Bürokratien und deren Führung. Der Widerstand, mit dem die Stadt Reutlingen der Rücknahme der Eingemeindungen 1949 entgegentrat, spricht doch eine deutliche Sprache. Die Art und Weise, wie dann um Rahmen der kommunalen Gebiets- und Verwaltungsreform die Eingemeindungen im Landkreis Reutlingen durch die Stadt Reutlingen umgesetzt wurde, sagt auch sehr viel über das Großstadtstreben des Oberbürgermeisters aus. Er war übrigens bei der Verabschiedung des Gesetzes (1967) im Landtag von Baden-Württemberg Abgeordneter. Also: Kalbfell wollte Größe - und er würde Dich müde anlächeln, wenn Du ihm etwas anderes erzählen wolltest. Das Gesetz selber,anmaßend verwaltungsautoritär, würde heute nie und nimmer durchgehen. Deswegen hat die Politik ja heute auch solch eine Angst vor den Auskreisungsambitionen. Da würde dann vieles in Frage gestellt. Nicht nur in Reutlingen. Raimund
Ja der Oskar Kalbfell hatte natürlich bereits kurz nach dem Ende des 2. Weltkrieges Visionen, die man heute natürlich anders bewertet. Eine davon war die Karlstraße, für die er eine Breite forderte, die man ansonsten nur von einer Avenue kannte - und das bei dem damaligs geringen Indivdualverkehr. Und was die damaligen Eingemeindungen anlangt, sind sie ein Beweis, in welchen Dimensionen Kalbfell dachte. Ausserdem war das ganz einfach zu bewerkstellen, er bediente sich der fanzösischen Besatzungsmacht und konnte so das gesamte Echaztal von Honau bis Wannweil und Eningen Handstreichartig eingemeinden. Lediglich Kirchentellinsfurt ging ihm durch die Lappe,weil es zum Kreis Tübingen gehörte. Als der Landtag von Württemberg-Hohenzollern die Kompetenz 1948 von der Besatzungsmacht erhalten hatte, über Kommunalreform zu bestimmen, wurde auf Betreiben von Pfullingen und Eningen die Reform durch ein Gesetz des Landtages zurückgedreht. Lediglich Ohmenhausen entschied sich für Reutlingen.
Im übrigen lässt Oskar Kalbfell die Eingemeindungen von 1945 in seinem Rechenschaftsbericht über die Jahre 1945 bis 1965 als einen in der französischen Besatungszobe einmaligen Vorgang beschreiben. Das ist - wie jeder erkennt, der solche Schriften zu lesen weiß - ein deutlicher Hinweis darauf, dass diese einmalige Handlung bestimmt nicht auf dem Erkenntnisstand der Besatzungsmacht basierte. Nein, Kalbfell dachte von Anfang an in größeren Dimensionen -und das ist ja auch grundsätzlich in Ordnung,nichts Ehrenrühriges.
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