"Wir spielen ein Spiel solange, bis einen das Spiel spielt."
Hans-Georg Gadamer (1900-2002), deutscher
Jahrhundertphilosoph
Ein erster Versuch, die "Ära Bosch" zu verstehen. Von
Raimund Vollmer
Nun haben wir die Wahl.
Frau Bosch tritt nicht mehr an. Ein völlig neues Rennen ist
eröffnet. Reutlingen bekommt nächstes Jahr, 70 Jahre nach Gründung der
Bundesrepublik, seinen fünften Oberbürgermeister.
Natürlich werden jetzt in den Medien die Verdienste und
Versäumnisse unserer seit 2003 regierenden OB aufgezählt. Wie gut ihre Bilanz
ist, werden wir erst dann erfahren, wenn sie eigentlich schon längst vergessen
ist. In zehn Jahren, in anderthalb Jahrzehnten. Denn ihre Entscheidung, sich
nicht mehr einer Wiederwahl zu stellen, fällt in einer Zeit des totalen
Umbruchs, den sie zum Teil selbst ausgelöst, dessen Opfer sie aber auch wurde. Was
am Ende dieser Umwälzungen herauskommt, können wir allenfalls erahnen - und dabei
geht es nicht um solche Petitessen wie Digitalisierung.
Die Digitalisierung ist ein Prozess, der in einer Zeit
begonnen hat, als unsere OB (Jahrgang 1958) noch zur Schule ging. Die Anfänge
gehen zurück in die Zeiten Oskar Kalbfells, des ersten Nachkriegs-OB
Reutlingens.
Die Digitalisierung ist eine uralte Sache. Genau so sind es
die anderen Themen, die sich unsere Oberbürgermeisterin vor allem auf die
Fahnen geschrieben hatte: die Familienpolitik, die Kultur, die
Stadtentwicklung. Das sind Klassiker. Und auf diesen Feldern scheint sie aus
heutiger Sicht gescheitert zu sein. Zu wenig Ganztags-Kindergartenplätze, zu
wenig Wohnungen, zu viel Honoratioren-Kultur, zu viele Klotzprotzbauten - ach,
es ließe sich vieles nennen. Und wir hier im Bildertanz haben ja in den letzten
zehn Jahren einiges an manchmal scharfer Kritik zusammengetragen. Ob wir mit
der Kritik richtig lagen oder nicht, bleibt natürlich der Meinung der Leser
überlassen.
Eins ist jedoch sicher, eins muss man Barbara Bosch
unbedingt attestieren: Sie ist eine sehr, sehr mutige Frau, vielleicht sogar
die Mutigste von allen, die hier in Reutlingen im Amt waren. Und das verdient
Respekt. Es war Mut unter Verzicht auf jegliche Form einer Legendenbildung -
womit allerdings nicht gesagt sein soll, dass unsere Oberbürgermeisterin fern
jeglicher Eitelkeit ihr Amt ausgeübt hat. Da ist sie schon auf ihre Kosten
gekommen. Und das ist auch in Ordnung.
Bei aller Kritik an ihr hinterlässt sie uns im kommenden
Jahr drei große Fragezeichen. Und vielleicht ist das sogar ihr größtes
Vermächtnis, nicht die Antworten, sondern diese drei Fragen, die sie irgendwie in ihrer Amtszeit begleitet haben.
Was ist Fortschritt? Für alle ihre Vorgänger war dies keine
Frage. Jeder glaubte sich auf der Höhe der Zeit. So war die Moderne, so sah sie
sich. Heute wissen wir einfach nicht mehr, was Fortschritt ist. Beispiel: Autofreundliche
Städte - das war einmal. Und jetzt? Industrie - schon lange nicht mehr, was
dann? Dienstleistung - wirklich die Zukunft oder vielleicht schon Vergangenheit?
Frau Bosch lavierte zwischen den Möglichkeiten, aber sie definierte sie nicht -
weil ihr dafür möglicherweise auch die Partner fehlten.
Dass die Firma Bosch sich bei der Zukunft für Dresden entschied,
könnte man zwar als einen Fingerzeig für zu wenig Zukunftsfähigkeit unserer
Stadt ansehen, aber man könnte mit derselben Überzeugung auch sagen: Vielleicht
ist diese Milliardenprojekt, für das Bosch inzwischen fieberhaft nach
Mitarbeitern sucht, gar nicht so doll. Ist der Bau von Chips wirklich ein
Europa-Thema? Seit vierzig Jahren erzählen wir uns das. Mit ständig steigenden Subventionszahlungen. Vielleicht liegt der
Fortschritt ganz woanders. Ein Thema, über das wir in Reutlingen reden müssen. Unbedingt!
Dazu brauchen wir aber auf allen Ebenen neue Köpfe. Dafür hat Frau Bosch jetzt
den Weg frei gemacht.
Was ist Demokratie? Mit einem Bürgerentscheid zum Thema
"Stadthalle" erfüllte sie den Wunsch nach mehr direkter Demokratie. Sie
schien eine gute Antwort auf die Forderung Willy Brandts (1969) nach "Wir
wollen mehr Demokratie wagen" gefunden zu haben. Doch das Internet, die
sozialen Medien insbesondere, waren für sie wohl mehr Demagogie als Demokratie.
Bei Weihnachtsansprachen hat sie z.B. Kommentare aus dem Bildertanz zitiert,
ohne ihn als Quelle zu nennen. Auch hier lavierte sie. Sie ärgerte sich über
die Kritik, wollte sie aber zugleich ignorieren. Ein geradezu klassisches
Verhalten.
Nun hat sie durch die Ergebnisse des Markenbildungsprozesses erfahren, dass der Kern dieser Kritik seinen Widerhall in 10.000 ausgefüllten Fragebögen gefunden hat. Rekordverdächtig. Wäre sie dabei geblieben, mehr auf die Bürger zu hören und deren Meinung anzuerkennen, hätte sie weiterhin den Markenbildungsprozess souverän begleiten können. Aber so ist ihr die Meinungshoheit entglitten. Sie hat zu sehr denen geglaubt, die ihr aus Ureigeninteresse zujubelten. Man hat das Barometer von der Wand genommen.
Dennoch ist sie in dieser Beziehung ihren Kollegen in anderen Großstädten voraus. Jetzt weiß jeder in RT, dass die Politik der letzten 30 Jahre nicht unbedingt die Bürger hier stolz machte. Und wir, wir wissen jetzt auch, was wir denken. Frau Bosch hat das "Mehrdemokratiewagen" schon als Chance verstanden, meinte aber mit mütterlicher Pädagogik dies meistern zu können. Vielleicht kein Zukunftskonzept.
Nun hat sie durch die Ergebnisse des Markenbildungsprozesses erfahren, dass der Kern dieser Kritik seinen Widerhall in 10.000 ausgefüllten Fragebögen gefunden hat. Rekordverdächtig. Wäre sie dabei geblieben, mehr auf die Bürger zu hören und deren Meinung anzuerkennen, hätte sie weiterhin den Markenbildungsprozess souverän begleiten können. Aber so ist ihr die Meinungshoheit entglitten. Sie hat zu sehr denen geglaubt, die ihr aus Ureigeninteresse zujubelten. Man hat das Barometer von der Wand genommen.
Dennoch ist sie in dieser Beziehung ihren Kollegen in anderen Großstädten voraus. Jetzt weiß jeder in RT, dass die Politik der letzten 30 Jahre nicht unbedingt die Bürger hier stolz machte. Und wir, wir wissen jetzt auch, was wir denken. Frau Bosch hat das "Mehrdemokratiewagen" schon als Chance verstanden, meinte aber mit mütterlicher Pädagogik dies meistern zu können. Vielleicht kein Zukunftskonzept.
Was ist Macht? Das ist die Schlüsselfrage. Barbara Bosch hat
auch hier versucht, in guter alter Politikermanier zwischen den möglichen
Antworten zu lavieren. Sie suchte schon den Kontakt zu den Menschen, sie war
Autorität, sie war sich ihres Amtes bewusst. Aber bei aller Volkstümlichkeit
war ihr Machtverständnis doch immer top-down gerichtet. Sie gehört zu jener
Generation, die mit dem Instrumentarium der repressiven Toleranz aufwuchs. Sie
war der direkte Weg in die Manipulation. Das Ergebnis war - zu viel Taktik, zu
wenig Strategie. Exzellent gespielt hat sie aber die Machtfrage bei der
Stadtkreis-Thematik. Nicht etwa, weil sie erfolgreich sein wird damit,
wahrscheinlich wird die Gründung abgelehnt, sondern weil sie den Mut hatte, die
Politiker im Land mit der Gretchenfrage zu konfrontieren: Wie haltet Ihr es
denn mit der Souveränität? Dürfen wir das Spiel spielen oder werden wir
gespielt?
Frau Bosch wollte nicht gespielt werden - vielleicht hat sie
deswegen zu viel laviert.
Aus persönlichen Gründen hat sie entschieden, sich nicht
mehr einer Wiederwahl zu stellen.
Das Spiel ist aus. Wer steht nun zur Wahl?
Das Spiel ist aus. Wer steht nun zur Wahl?
Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer
5 Kommentare:
Wenigstens hat sie sich kein neues Rathaus gebaut als Denkmal, so wie es andere "Bürger"-Meister im Ländle taten.
Ob ein besserer Nachfolger kommt wage ich zu bezweifeln. Die jüngeren Generationen habens nicht mehr so drauf, siehe Manager, Aufsichtsräte, Politiker etc.
Zu "Anonym": Vielleicht brauchen wir auch nur einen OB mit sehr viel Seniorität. Adenauer war 73, als er Kanzler wurde - und hat dann noch fast so lange regiert wie unsere OB, die im September 60 wird.
Als besten Mann für den Oberbürgermeister fällt mir ein kompetenter Politiker ein, und das ist Hagen Kluck.
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