Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Wer immer am Sonntagabend unser neuer Oberbürgermeister sein
wird, einen Boris Palmer bekommen wir garantiert nicht. Wenn den Kandidaten zur
heutigen GEA-Frage nach den Visionen nichts anderes einfällt als die, den Visionen anderer
zu folgen, oder die Luft zu reinigen und den Verkehr zu bereinigen oder mit
einer Bundesgartenschau Subventionen abzuschöpfen, dann sind ihre Ideen
sicherlich kein Fall für den Psychiater, den man - so zitiert der GEA in seiner
unnachahmlichen Normalität den Altkanzler Helmut Schmidt - sonst bemühen müsste.
Die "Visionen" sind so altbacken, dass man sich
fragen muss: Was denken diese Kandidaten eigentlich über uns, die Wähler? Der Vierte
im Bunde, der "Partei"-Kandidat Andreas Zimmermann, hält uns in
seiner "aktuellen Vision" wenigstens direkt den Spiegel vor. Er
meint, dass "das Gros der Reutlinger immer noch erzkonservativ" ist.
Er sagt es unverblümt, was wohl jeder von uns irgendwann
einmal ähnlich gesagt oder gedacht hat. Als Stoßseufzer. Das Problem ist, dass
wir in Reutlingen die "Progressiven" von den
"Konservativen" kaum unterscheiden können - weil wir selbst mal so
oder so sind. Was progressiv und was konservativ ist, wer kann das heute
wirklich noch unterscheiden?
Der eine spricht von "sozialer Gerechtigkeit", der
CDU-Mann und Verwaltungsjurist Schneider, dem Schmusewort der Deutschen, das eigentlich
ein Widerspruch in sich ist. Entweder ist etwas sozial oder gerecht. Beides
bekommt man - leider - immer nur zum Preis des anderen.
Aber Schneider appelliert ja an das Gute in uns.
Der andere spricht davon, dass "jeder in unserer Stadt
guten und bezahlbaren Wohnraum findet". Niemand kann da dem SPD-Mann,
Stadtrat und Bezirksbürgermeister Keck widersprechen - schon gar nicht die
Fachleute, auch nicht die Investoren, die mit neuem Hochwohnbau und Kubismus
dafür sorgen, dass andernorts guter und bezahlbarer Wohnraum frei wird. Dies
ist die Top-Down-Strategie des bisherigen Stadtrates, die weit entfernt von
einem Sozialstaat ist, der sich einmal dadurch definierte, dass er sich direkt
um die Bedürftigen kümmerte und nicht jeden zum Bedürftigen (Warnung Ludwig
Erhards) erklärte.
Aber Keck hat das ja so nicht gesagt. Auch er glaubt an das
Gute in uns.
Der Dritte im Bunde benutzt das Wort "Vision" erst
gar nicht, weil es die heile Welt, die es bereits bei uns gibt, nur in ihrer
grandiosen weltoffenen, toleranten Art zu optimieren gilt. Ja, der FDP-Mann und
Kommunaljurist Carl-Gustav Kabfell wird sogar sehr konkret und plant die
Bundesgartenschau in Reutlingen, irgendwie als Zeichen für alles, was
Reutlingen ausmacht. Das ist die wunderschöne Welt des Carl-Gustav, der man ja
eigentlich auch nicht widersprechen kann. Denn sie gibt dem Guten in uns, der sehnsuchtsvollen
Verbindung zu Natur und Kultur, wieder einen Ausdruck. Für ein Jahr ist jeden
Tag Sonntag in unserer Stadt.
Aber - nein, da gibt es kein Aber. Carl-Gustav bringt das Gute
in uns zur vollen Blüte.
Ach, da war ja noch dieser Andreas Zimmermann. Er hat auch
so einen Hauch von Vision. Er möchte einmal sagen können: "Ich komme gerne
in diese Stadt zurück". Er muss eigentlich nur darauf warten, dass die
Visionen seiner Mitbewerber wahr werden.
Derweil glaube ich auch an das Gute im Menschen: Geht zur
Wahl, auch wenn es bei so viel versammelter Güte schwerfällt, sich zu entscheiden.
PS. Übrigens habe ich das Gute im Online-Auftritt des GEA
vergeblich gesucht. Die Antworten der Kandidaten habe ich jedenfalls dprt nicht gefunden. Wenn das Suchen länger dauert als das Lesen, dann geht man am besten gleich zum nächsten Kios oder abonniert die Zeitung. Sie hat's bitter nötig. Obwohl Reutlingen ja angeblich jedes Jahr um 1000 Bürger wächst, verliert das Blatt jedes Jahr 1000 Abonennten. Irgendwie schade. RV
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