Freitag, 1. März 2019

Politik von ganz unten: We are the champions


 Ein Plädoyer für eine neue Politik / Von Raimund Vollmer

Postkartensicht Reutlingen: selbst zwangsprogressiver Räte sehen ein, dass dies die Kulisse ist, die eher zu einem Markenempfindungsprozess beiträgt als manch anderes Dunkel. Bildertanz-Quelle: Dimitri Drofitsch



Kaum ist die OB-Wahl gelaufen, hat schon der Kommunalwahlkampf begonnen. Was immer uns nun erzählt wird, was immer uns nun versprochen wird, wie immer die Politik ihre vergangenen Leistungen einstuft, es wird nichts daran ändern, dass wir erst mit dem Wahlergebnis vom 26. Mai 2019 ahnen können, was uns erwartet. Es kommt darauf an, wie sich das neue Stadtparlament zusammensetzt. So könnte man meinen.


Dabei geht es am wenigsten um den Wahlprüffall AfD, der Igittegit-Faktor des Reutlinger Establishments. Denn die zukünftige Politik in der Stadt wird von der AfD kaum bestimmt werden, sondern von den dann enger zusammenrückenden Mehrheitsparteien, also den Gruppierungen, die mit unterschiedlicher Stärke schon jetzt in unserem Stadtparlament vertreten sind.

So wie im "superfairen" OB-Wahlkampf die Kandidaten sich kaum unterschieden, so wird auch beim kommenden Kommunal-Wahlkampf das Harmoniestreben die traditionell im Parlament vertretenen Parteien in ihrem Verhalten bestimmen. Sie werden sicherlich versuchen, irgendwelche Alleinstellungsmerkmale heraus zu kitzeln, aber im Grunde genommen werden sie uns Bürger programmatisch nicht herausfordern. Viel Marketing um nichts.

Keiner wird eine Aussage über das Bevölkerungswachstum in Reutlingen wagen, nachdem es nun ins Stocken geraten ist und sich möglicherweise in den nächsten drei Jahren die Wohnsituation in unserer Stadt entspannen wird. Denn es läuft allen Strategien der Harmoniehütte Rathaus entgegen. Noch 2017 erklärte uns unsere Oberbürgermeisterin Barbara Bosch: "Über das Jahr 2020 hinaus werden es voraussichtlich gut 120.000 Einwohner sein." Wenn überhaupt, wird vom nächsten Jahrzehnt eine Menge Zeit verstrichen sein, bis wir diese Marke erreicht haben werden. So sieht's aus. Von einer "hohen Dynamik der Bevölkerungsentwicklung" kann momentan keine Rede sein - und angesichts einer sich abschwächenden Konjunktur wird sich auch die Mobilitätsbereitschaft innerhalb der Bevölkerung verringern. Zudem verlagert der Jobmagnet "Bosch", größter Arbeitgeber, seine Träume in andere Regionen.

Argumentiert wird mit dem berühmten "Wenn dann, nur so", der Schlüsselwendung aller Zwangsprogressiven. Nur dann, wenn "die Stadt Reutlingen sich als dynamische, attraktive und wachsende Großstadt behaupten" kann, "können Infrastruktur, Leistungen, Investitionen und kommunale Steuern auf einem angemessenen Niveau erhalten und der Wirtschaftsstandort gestärkt werden", schreibt unsere Oberbürgermeisterin, deren Politik so erfolgreich war, dass zumindest zwei der Kandidaten nicht gegen sie angetreten wären, wenn sie sich jüngst noch einmal der OB-Wahl gestellt hätte.

Wie sehr diese Argumentation aus der Mottenkiste des 20. Jahrhunderts kommt, belegt ein Blick in die britische Publikation "The Economist". Dort setzte sich das Blatt mit dem "German model" auseinander und meinte: "Im Unterschied zu den großen Dienstleistungsfirmen, die vom Netzwerkeffekt und den Talentpools in den großen Städten profitieren, werden Spezialhersteller an Orten gefunden, von denen man noch nie etwas gehört hat. Mindestens zwei Drittel der 'hidden champions' (auf deren Existenz in Reutlingen Frau Bosch besonders stolz ist .R.V.) sind in Siedlungen mit weniger als 50.000 Einwohner, und sie sind verteilt über ganz Deutschland."[1] Dabei nennt das Blatt einen Ort, den auch die meisten Reutlinger erst einmal auf der Landkarte suchen müssten, um ihn einordnen zu können: Vechta. Mit 33.000 Einwohner ist Vechta eine Stadt in Niedersachen so groß wie Metzingen, unserer Nachbarstadt, die allerdings mehr Bürger aus Vechta kennen werden als Reutlingen.

Und dann nennt die Zeitschrift, die zu den besten Wirtschaftspublikationen der Welt gehört, einen weiteren Faktor, der im Grunde genommen Städte wie Reutlingen sehr attraktiv macht - und viel, viel wichtiger ist als alle Markenempfindungsprozesse, die jetzt angestoßen wurden. Zitat: "Deutschland ist zudem politisch dezentralisiert, was nach Meinung von Philip McCann von der Universität Sheffield dafür sorgt, dass die Ungleichheit in Schach gehalten wird." Gerade das ist doch die großartige Lektion, die wir aus der OB-Wahl mitnehmen konnten: Dieses Check & Balancing zwischen Kernstadt und den Außenbezirken hat uns ein sehr gutes, sehr aufhellendes Bild von den Machtstrukturen in Reutlingen präsentiert.

Ohne die Stimmen Betzingens, dem ältestens und größten Teilort Reutlingens, wäre der Lokalmatador Thomas Keck niemals Oberbürgermeister unserer Stadt geworden. Alle anderen Außenbezirke haben, wenn auch mit hauchdünner Mehrheit, für den externen Christian Schneider gestimmt. Warum?

Die Zentralpolitik der letzten 16 Jahre, zumindest optisch kündet die Kernstadt Reutlingen von massiven Investitionen in die innere Aufwertung, spiegelt nicht die dezentrale Struktur dieser Stadt wider. Dass die Betzinger aus Patriotismus ihren Bezriksbürgermeister Thomas Keck gewählt haben, bestätigt eher diese These, als dass sie ihr widerspricht. Und Keck, der bei der zentralen Findungskommission erst einmal durchgefallen war, hat sich gleichsam qua eigener Autorität in die Kandidatur gehoben. Keck ist ein "hidden champion".  
Gestern abend in Altenburg: Kandidaten für die Wahl zum Bezirksgemeinderat. Sie kamen, ohne dass man bitten und betteln musste. Sie kamen, weil sie sich wirklich für diese Aufgabe als Bezirksgemeinderat interesiieren und sich für den Ort engagieren wollen.

Gestern war im Stadtteil Altenburg ein Treffen der Bürger, die überlegen, ob sie sich als Kandidat einer Wahl zum Ortschaftsrat stellen wollen. Es kamen überraschend viele, die meisten von ihnen signalisierten deutlich nach der Sitzung, dass sie sich der Herausforderung stellen werden. Altenburg wird eine gute Liste haben. Damit hatten wir, die zum bisherigen Bezirksgemeinderat gehören (auch der Schreiber dieser Zeilen, der aber auf eine Wiederwahl verzichtet), nicht gerechnet - schon gar nicht damit, dass viele Bewerber aus dem oftmals beruflich und familiär belasteten "Mittelalter" kamen, sogar sehr jung waren. Ohne Zugehörigkeit zu einer Partei oder Gruppierung. Völlig frei und nur sich selbst und ihrem Gewissen verantwortlich.

Ein positiveres Zeichen dafür, dass Reutlingen von unten her, von der tiefsten demokratischen Basis aus kerngesund ist, hätte es gar nicht geben können - vor allem dann, wenn sich dieser Trend in den anderen Bezirksgemeinden bestätigt. Hoffentlich!

Kurzum: Reutlingen ändert sich - zumindest von unten. Mit den echten "hidden champions".




[1] The Economist, February 9, 2019: "Germany spreads love"
Bildertanz-Quelle:

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