Ein Plädoyer für eine neue Politik / Von Raimund Vollmer
Kaum ist die OB-Wahl gelaufen, hat schon der
Kommunalwahlkampf begonnen. Was immer uns nun erzählt wird, was immer uns nun
versprochen wird, wie immer die Politik ihre vergangenen Leistungen einstuft,
es wird nichts daran ändern, dass wir erst mit dem Wahlergebnis vom 26. Mai
2019 ahnen können, was uns erwartet. Es kommt darauf an, wie sich das neue Stadtparlament
zusammensetzt. So könnte man meinen.
Dabei geht es am wenigsten um den Wahlprüffall AfD, der
Igittegit-Faktor des Reutlinger Establishments. Denn die zukünftige Politik in der Stadt
wird von der AfD kaum bestimmt werden, sondern von den dann enger zusammenrückenden
Mehrheitsparteien, also den Gruppierungen, die mit unterschiedlicher Stärke
schon jetzt in unserem Stadtparlament vertreten sind.
So wie im "superfairen" OB-Wahlkampf die
Kandidaten sich kaum unterschieden, so wird auch beim kommenden Kommunal-Wahlkampf
das Harmoniestreben die traditionell im Parlament vertretenen Parteien in ihrem
Verhalten bestimmen. Sie werden sicherlich versuchen, irgendwelche
Alleinstellungsmerkmale heraus zu kitzeln, aber im Grunde genommen werden sie
uns Bürger programmatisch nicht herausfordern. Viel Marketing um nichts.
Keiner wird eine Aussage über das Bevölkerungswachstum in
Reutlingen wagen, nachdem es nun ins Stocken geraten ist und sich
möglicherweise in den nächsten drei Jahren die Wohnsituation in unserer Stadt entspannen
wird. Denn es läuft allen Strategien der Harmoniehütte Rathaus entgegen. Noch
2017 erklärte uns unsere Oberbürgermeisterin Barbara Bosch: "Über das Jahr
2020 hinaus werden es voraussichtlich gut 120.000 Einwohner sein." Wenn
überhaupt, wird vom nächsten Jahrzehnt eine Menge Zeit verstrichen sein, bis
wir diese Marke erreicht haben werden. So sieht's aus. Von einer "hohen
Dynamik der Bevölkerungsentwicklung" kann momentan keine Rede sein - und
angesichts einer sich abschwächenden Konjunktur wird sich auch die Mobilitätsbereitschaft
innerhalb der Bevölkerung verringern. Zudem verlagert der Jobmagnet
"Bosch", größter Arbeitgeber, seine Träume in andere Regionen.
Argumentiert wird mit dem berühmten "Wenn dann, nur
so", der Schlüsselwendung aller Zwangsprogressiven. Nur dann, wenn
"die Stadt Reutlingen sich als dynamische, attraktive und wachsende
Großstadt behaupten" kann, "können Infrastruktur, Leistungen,
Investitionen und kommunale Steuern auf einem angemessenen Niveau erhalten und
der Wirtschaftsstandort gestärkt werden", schreibt unsere
Oberbürgermeisterin, deren Politik so erfolgreich war, dass zumindest zwei der
Kandidaten nicht gegen sie angetreten wären, wenn sie sich jüngst noch einmal
der OB-Wahl gestellt hätte.
Wie sehr diese Argumentation aus der Mottenkiste des 20.
Jahrhunderts kommt, belegt ein Blick in die britische Publikation "The
Economist". Dort setzte sich das Blatt mit dem "German model"
auseinander und meinte: "Im Unterschied zu den großen
Dienstleistungsfirmen, die vom Netzwerkeffekt und den Talentpools in den großen
Städten profitieren, werden Spezialhersteller an Orten gefunden, von denen man
noch nie etwas gehört hat. Mindestens zwei Drittel der 'hidden champions' (auf
deren Existenz in Reutlingen Frau Bosch besonders stolz ist .R.V.) sind in
Siedlungen mit weniger als 50.000 Einwohner, und sie sind verteilt über ganz
Deutschland."[1]
Dabei nennt das Blatt einen Ort, den auch die meisten Reutlinger erst einmal
auf der Landkarte suchen müssten, um ihn einordnen zu können: Vechta. Mit
33.000 Einwohner ist Vechta eine Stadt in Niedersachen so groß wie Metzingen, unserer
Nachbarstadt, die allerdings mehr Bürger aus Vechta kennen werden als Reutlingen.
Und dann nennt die Zeitschrift, die zu den besten Wirtschaftspublikationen
der Welt gehört, einen weiteren Faktor, der im Grunde genommen Städte wie
Reutlingen sehr attraktiv macht - und viel, viel wichtiger ist als alle Markenempfindungsprozesse,
die jetzt angestoßen wurden. Zitat: "Deutschland ist zudem politisch
dezentralisiert, was nach Meinung von Philip McCann von der Universität
Sheffield dafür sorgt, dass die Ungleichheit in Schach gehalten wird."
Gerade das ist doch die großartige Lektion, die wir aus der OB-Wahl mitnehmen
konnten: Dieses Check & Balancing zwischen Kernstadt und den Außenbezirken
hat uns ein sehr gutes, sehr aufhellendes Bild von den Machtstrukturen in
Reutlingen präsentiert.
Ohne die Stimmen Betzingens, dem ältestens und größten
Teilort Reutlingens, wäre der Lokalmatador Thomas Keck niemals
Oberbürgermeister unserer Stadt geworden. Alle anderen Außenbezirke haben, wenn
auch mit hauchdünner Mehrheit, für den externen Christian Schneider gestimmt. Warum?
Die Zentralpolitik der letzten 16 Jahre, zumindest optisch
kündet die Kernstadt Reutlingen von massiven Investitionen in die innere
Aufwertung, spiegelt nicht die dezentrale Struktur dieser Stadt wider. Dass die
Betzinger aus Patriotismus ihren Bezriksbürgermeister Thomas Keck gewählt
haben, bestätigt eher diese These, als dass sie ihr widerspricht. Und Keck, der
bei der zentralen Findungskommission erst einmal durchgefallen war, hat sich
gleichsam qua eigener Autorität in die Kandidatur gehoben. Keck ist ein
"hidden champion".
Gestern war im Stadtteil Altenburg ein Treffen der Bürger,
die überlegen, ob sie sich als Kandidat einer Wahl zum Ortschaftsrat stellen
wollen. Es kamen überraschend viele, die meisten von ihnen signalisierten
deutlich nach der Sitzung, dass sie sich der Herausforderung stellen werden. Altenburg
wird eine gute Liste haben. Damit hatten wir, die zum bisherigen
Bezirksgemeinderat gehören (auch der Schreiber dieser Zeilen, der aber auf eine
Wiederwahl verzichtet), nicht gerechnet - schon gar nicht damit, dass viele Bewerber
aus dem oftmals beruflich und familiär belasteten "Mittelalter"
kamen, sogar sehr jung waren. Ohne Zugehörigkeit zu einer Partei oder
Gruppierung. Völlig frei und nur sich selbst und ihrem Gewissen verantwortlich.
Ein positiveres Zeichen dafür, dass Reutlingen von unten
her, von der tiefsten demokratischen Basis aus kerngesund ist, hätte es gar
nicht geben können - vor allem dann, wenn sich dieser Trend in den anderen
Bezirksgemeinden bestätigt. Hoffentlich!
Kurzum: Reutlingen ändert sich - zumindest von unten. Mit
den echten "hidden champions".
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