1962: "Wer Kultur sagt, sagt auch Verwaltung,
ob er will oder nicht."
Theodor W. Adorno (1903-1969), deutscher Philosoph und Soziologe[1]
2019: "Für eine offene und lebendige Gesellschaft
ist Kultur lebenswichtig."
Barbara Bosch, Reutlingens Oberbürgermeisterin von 2003-2019
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Es gibt wohl keinen größeren Gegensatz in einem Gemeinwesen als
den zwischen Verwaltung und Kultur - und doch sind sie sich sehr nah. Darauf
hat vor bald sechzig Jahren der Soziologe und Philosoph Theodor W. Adorno
hingewiesen. Wie nah Kultur und Verwaltung einander sind, aber auch wie weit
voneinander entfernt, das macht auf geradezu beispielhafte Weise die "Fortschreibung
der Kulturkonzeption Reutlingen" deutlich, die heute im Gemeinderat unter
der Leitung des neuen Oberbürgermeisters Thomas Keck behandelt wird.
Die Leitung des Projektes, aus dem eine 74seitige Konzeption
(ohne Anhang) hervorging, lag in den Händen von Dr. Werner Ströbele, dem Kulturamtsleiter
der Stadt, und der selbständigen Stadtsoziologin Edith Koschwitz. Chef des
Verfahrens ist aber Ströbele, der in seiner Einleitung auf die Ansprüche hinweist,
die dieser Konzeption zugrundeliegen.
Sie haben es in sich - und vor allem über sich.
Solche Konzeptionen, so hatte Adorno schon angemerkt,
"erlaubt es, Kultur derart als Einheit zu behandeln, wie etwa die
Kulturdezernate von Städten es zu tun pflegen". Und genau in dieser
Tradition steht das Ströbele-Papier, das den Gemeinderat beschäftigen wird.
Sicherlich wird es ihm nicht so gehen wie Adorno. Der würde nach
der Lektüre "dem Drang, den Revolver zu entsichern", kaum widerstehen
können, auch wenn er zugestehen würde, dass diesem Kultur-Konzept "seine
Wahrheit zukommt". Ja, es ist sehr ehrlich, weil es ziemlich unumwunden
sagt, wofür es steht.
Im Prinzip ordnet es sich unter den Oberbefehl jenes
Markenbildungsprozesses, den Frau Bosch im vergangenen Jahr angestoßen hat. Kultur
soll die Stadt attraktiver machen. Zur Kultur kommt der Kommerz, das Marketing.
Die Kultur liegt somit an der Kette.
Der Begriff Freiheit, der ja das zentrale
Element von Kunst als Königin der Kultur ist, taucht unter den Aufgaben, wie
sie Ströbele auflistet, nicht auf. Freiheit
ist kein zentraler Teil.
Dabei war und ist sie die Basis, die Geschichte einer Stadt,
zumal einer einstmals "freien Reichsstadt", wie es Reutlingen bis 1802
war. Kultur wird hier komplett instrumentalisiert. Sie ist "Imagefaktor
und Publikumsbringer", schreibt Frau Bosch im Vorwort. Damit wird Kultur nicht
nur nützlich, sondern auch planbar. Das
ist wichtig für alles, was Geld kostet. Nur so konnte die Stadthalle entstehen
- in "Time & Budget", nur so konnte "Die Tonne" ihr
Spiegelkabinett bekommen, nur so wurde das Kulturzentrum "franz K."
machbar.
Die Errichtung eines Industriemuseum, das endlich angegangen
wird, fügt sich problemlos ein in diese Richtung. Es ist planbar, weil es belegen
kann, "dass Reutlingen einer der wichtigsten Industriestandorte in
Baden-Württemberg war und auch noch ist. Einzigartige Exponate der
Industrialisierung zeigen die industrielle Entwicklung Reutlingens und der
Region. Erfindungen, unternehmerische und soziale Leistungen der Vergangenheit
und Gegenwart unterstreichen den Wirtschaftsstandort Reutlingen." (Ströbele)
Was planbar ist, bekommt in Reutlingen Raum, viel Raum,
auch teuren Raum. Aber alles andere, das sich einer Kontrolle entzieht, nicht
planbar ist, wird ignoriert. Ein Atelierhaus, wie es sich die Kulturszene wünscht und in dem sich Künstler frei verwirklichen können, in Projekten, die sie selbst bestimmen, wird es eher nicht geben.
"Die Verwaltung ist dem Verwalteten
äußerlich, subsumiert es, anstatt es zu begreifen", schreibt Adorno. So
verfährt auch Ströbele. Er zählt auf, was Kultur ist, begreift sie nur aus dem,
wozu sie dient. Wahrscheinlich vermutet er, dass sie nur dann auch der
Gemeinderat begreift. Adorno hielte solches Verhalten für irrational.
"Früh schon", schreibt Adorno, "seit Mitte
des neunzehnten Jahrhunderts, hat Kultur gegen jene Zweckrationalität sich
gesträubt". Je mehr sie sich distanziert, desto prekärer ist ihre
Situation. Und da bleibt sie auch - die Kunstszene in Reutlingen.
Oberbürgermeister Keck wird heute aus der Perspektive
seines neuen Hochsitzes auf die Kultur-Szene Reutlingen hinabschauen. Vielleicht
wird er sich fragen: Was kann die Stadt Reutlingen für die Kultur tun und nicht:
was kann die Kultur für Reutlingen tun? Dann wäre tatsächlich eine echte
Einheit gegeben. So aber bleibt der Verdacht: Wo die Kultur "von den
Menschen beliebig sich konsumieren lässt, manipuliert sie die Menschen"
(Adorno). Das wäre eine Bankrotterklärung. Kehren wir deshalb den eingangs zitierten
Satz von Frau Bosch ganz einfach um: "Für die Kultur ist eine offene und
lebendige Gesellschaft lebenswichtig."
Bildertanz-Quelle:
4 Kommentare:
Was bitte ist eine "selbständige Stadtsoziologin" ?
Sie ist ihre eigene Firma!
Und wer sind Ihre Kunden? Die Stadtverwaltungen???
Höchstwahrscheinlich. Sie steht zumindest der Verwaltung nah, um es mit Adorno auszudrücken. Aber müsste der Anwalt der Kunst und Kultur nicht im Stadtrat sitzen? Eine (selbst-)kritische Instanz? Schon dass es eine solche Diskussion in Reutlingen nicht gibt, sondern allenfalls eine Inititative dafür, dem Karfreitag einen Tanzboden zu geben, zeigt doch, wie weit Reutlingen noch entfernt ist von einem großstädtischen Umgang mit Kunst und Kultur.
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