Schwarz und Grün - die neuen Stadtfarben?
Eine unzeitgemäße Nachbetrachtung von Raimund Vollmer
Die Stadt ist die älteste aller künstlichen Welten, die der
Mensch geschaffen hat. In Reutlingen wurde bei der Kommunalwahl hier in der
Kernstadt vor allem "Grün" gewählt, also die Partei, die der Natur am
nächsten kommen will. In den Außenbezirken, dem Grüngürtel unserer Stadt,
wählten die Bürger vor allem "Schwarz", also die Partei, die ihren
Aufstieg vor allem der wirtschaftlichen Entwicklung zu verdanken hat. Zusammen
haben beide Parteien jeweils neun Sitze, wobei ein Mann, der von Schwarz nach
Grün wechselte, nicht nur Stimmenkönig wurde, sondern dafür sorgte, dass seine
neue Fraktion gleich zog.
Von den 40 Sitzen, die unser Stadtparlament bilden, haben
diese beiden Parteien, die auf Landesebene sogar als Koalition die gemeinsame
Regierung stellen, nur 18 Plätze. Der Rest teilt sich auf in den Rest, möchte man
sagen, wenn es da nicht noch zwei mächtige Blöcke gäbe: Die SPD mit sechs und
die Freien Wähler mit fünf Sitzen. Das Problem ist nur: alle Parteien, die
bislang hier erwähnt wurden, haben gegenüber 2014 Plätze im Parlament verloren
- nur die Grünen nicht. Sie haben sich seit 1984 systematisch nach
"oben" gearbeitet. Die CDU hatte damals sogar 17 Sitze, die SPD zwölf.
Jede der beiden Traditionsparteien war 1984 deutlich stärker, als die Grünen es
heute sind.
Eigentlich braucht man keinen Rezo, um zu erkennen, dass in
den Parteien, die einmal die politischen Farben einer Stadt klar bestimmten,
irgendetwas nicht rundläuft. Stark zu sein, nur weil andere noch mehr schwächeln,
ist kein sehr stolzes Argument für eine Partei, die doch jahrzehntelang die
große konstante Dominante in Stadt und Land war. Beide, CDU und SPD, haben
praktisch die Zahl ihrer Mandate halbiert. Irgendwie sehr stabil, auch wenn es
da ein paar Auf und Abs gab, wirken die kleinen Parteien mit ihren jeweils zwei
bis drei Mandaten. Sie sind das Salz in der Suppe - ohne sie zu versalzen zu
können. Das wird auch inklusive des Neulings AfD nicht so sein.
Was also ergibt sich daraus für unsere Stadt? Alle Augen
richten sich da auf den neuen Oberbürgermeister, der sich - im Unterschied zu
seinen Konkurrenten - gegen den Willen seiner Parteispitze selbst ins Rennen
bringen musste. Gewählt wurde er vor allem in den städtischsten Regionen
Reutlingens. In der Kernstadt und in Betzingen, das ja selbst - wäre es
selbständig - als einziger Teilort eine eigene Kleinstadt darstellt, größer als
Eningen unter Achalm.
Was wir also daraus ableiten könnten, ist, dass das Städtische
im Vormarsch ist, dass dieser Vormarsch jedoch sehr stark bestimmt wird von
einer Sehnsucht nach einer gesunden Umwelt. Bis dahin ein No-Brainer, dazu
braucht man nicht viel analytischen Verstand. Wahrscheinlich würde man bei
weitaus intensiverem Nachdenken über die Situation nicht viel weiter kommen. Am
Ende wäre die Ratlosigkeit nicht geringer. Denn die, die andere Interessen in
den Vordergrund stellen, bilden ja nicht minder starke Fraktionen innerhalb der
wählenden Bevölkerung - ganz zu schweigen, über die, die sowieso schweigen und
erst gar nicht zur Wahl gingen. Weder Grün noch Schwarz haben jeweils ein
Viertel der Stimmen hinter sich.
Kurzum: es herrscht ein ziemliches Durcheinander, über das
unser OB nun den Vorsitz in den Ratssitzungen hat. Aber war das zuvor nicht
auch so? 2004 war es das letzte Mal, dass CDU und SPD, die beiden
Mutterparteien dieser 70 Jahre alten Bundesrepublik, in Reutlingen zusammen die
Mehrheit bildeten. 2009 war es noch Fifty-Fifty im Vergleich zu den anderen, seit
2014 gehören sie wie alle anderen auch zu den Minderheiten. Keine Partei kann
mit einer anderen Partei zusammen eine Mehrheit stellen.
Was soll's? Wir haben ja eine Präsidialdemokratie in unserer
Stadt - über allem steht der direkt gewählte Oberbürgermeister. Er musste nicht
in diese Stadt gewählt werden, um in ihr zu leben. Irgendwie war er schon immer
da, zwar in Betzingen als Ortsvorsteher, aber auch als Ratsherr in Reutlingen.
Er wirkt wie einer von uns, ohne dass wir deswegen immer seiner Meinung sein müssen
und sein werden. Er hat Courage, sonst hätte er nicht seinen Hut in den Ring
geworfen. Tapferkeit vor dem Freund ist immer noch die edelste Form der
Courage. Er lässt sich auch nicht einfach vereinnahmen, selbst nicht von seiner
eigenen Partei.
"Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des
Volkes mit", heißt es im Artikel 21 unseres Grundgesetzes. In keiner
anderen demokratischen Verfassung der Welt steht etwas Vergleichbares. Wir
wissen, dass Parteien am liebsten die Willensbildung des Volkes selbst wären.
So treten sie auf. So entscheiden sie über die Menschen, die gewählt werden
dürfen. Sie bestimmen die Kandidaten für die Volksvertretungen, sie bestimmen die
Listenplätze. Sie bekommen Sendezeiten in den Medien. Sie müssen nach innen
das, was sie wollen, von den Mitgliedern absegnen lassen. Sie müssen selbst
demokratisch sein. Nach innen und nach außen.
Acht Parteien oder Vereinigungen sind nun im Parlament der
Stadt Reutlingen vertreten. So viele wie nie zuvor. 1984 waren es sechs,
zuletzt sieben - und vielleicht sind es 2024 dann schon neun oder zehn. Wer
weiß? Fast möchte man sagen: Mit sinkender Wahlbeteiligung steigt die Zahl der
Parteien, die im Stadtrat vertreten sind. Stimmt nicht: Vor fünf Jahren lag die
Wahlbeteiligung bei deprimierenden 39 Prozent. 2009 gingen 42 Prozent zur Wahl.
So viele waren es auch 2004. Wie es 1999 aussah, will uns Google nicht so
einfach mitteilen - 20 Jahre zurück sind ja auch eine lange Zeit.
Es scheint eher umgekehrt zu sein: Je mehr wählen gehen,
desto stärker die Spannweite der Parteien. Diese wollen aber immer noch alles
für alle sein - bis sie selbst alle sind, wie wir an dem Schwund der Großparteien
sehen. Special Interests ist aber auch nichts. Denn die Grünen wurde nicht nur
wegen der Umweltthematik gewählt. Dumpfdumm hat auch keine allzu großen
Chancen.
Wir, die Wähler, sind ziemlich zickig. Wir sagen in den
Sozialen Medien unsere Meinung, überlassen dies nicht mehr den Halbgöttern in
Druckerschwärze, den Print-Medien. Wir lassen uns aber auch nicht in die Karten
gucken, in die Stimmkarten, obwohl wir kein sehr großes Problem damit haben zu
sagen, was wir gewählt haben. Wir sind ein bisschen beliebig.
Und für ein solches Volk, das die Parteien nicht mehr gerne
an unserer Willensbildung beteiligen lässt, soll nun unser Stadtparlament entscheiden?
Ein Parlament, das in der Vergangenheit auch schon mal ganz schön
danebengelangt hat. Kein Wunder, dass da so mancher Stadtrat mitunter ziemlich
ratlos ist. Zum Glück gibt es ja noch den Fraktionszwang, der darin besteht,
dass ihn keiner ausübt, sondern nur sehr, sehr nahelegt, wenn man irgendwann
mal selbst die Mehrheit seiner Leute haben möchte.
Jetzt stellen Sie sich vor, Sie seien der Chef von solch
einem Gremium? Herrlich: Divide et impera! Teile und herrsche! Pustekuchen.
Denn dieses Konzept geht nur auf, wenn Du als Oberbürgermeister ein eigenes
Konzept hast, einen Fahrplan der konkreten Ziele für die nächsten acht Jahre -
und am besten sogar darüber hinaus. Und wenn Du ganz, ganz schlau bist, dann,
ja dann...
Die große Kunst besteht darin, genau das nicht zu verraten. Immerhin leben wir ja in der künstlichsten aller Welten, in einer Stadt.
Bildertanz-Fotos:Dimitri Drofitsch/Raimund Vollmer (1)
5 Kommentare:
Zur Willensbildung brauchen wir die Parteien – anders als bei der Gründung der Bundesrepublik – schon lange nicht mehr. Parteien sind nur noch Lobbyisten. Fragt sich, wie lange wir – der Staat – und die kostspielige Parteienfinanzierung noch leisten sollen. Und warum. Sollen das doch die Lobbyisten – Spender – komplett übernehmen. Das wäre eine saubere Lösung, die längst überfällig ist.
Danke für den Kommentar. Nächste Woche habe ich meine letzte Sitzung als Mitglied im Bezirksgemeinderat von Altenburg. Ich habe mich nicht der Wiederwahl gestellt, weil ich jüngeren Menschen Platz machen wollte. In unserem kleinen Dorfparlament wirkt keine Partei bei der Willensbildung mit. Und inzwischen habe ich verstanden, dass wir genau daraus die Kraft bezogen haben, uns in einem Projekt - der Aufnahme des Gewerbegebietes Mahden II in den Flächennutzungsplan - zu widersetzen. Über unseren Besdchluss haben sich doe etablierten Parteien im Gemeinderat hinweggesetzt - auf unserer Seite waren die Grünen, mit sehr viel Sachverstand und Engagement. Und auch mit moralischem Impetus, der uns einmal in einem der Verträge zugesichert worden war. Niemals eine Entscheidung gegen uns, was das Gewerbegebiet anbelangt, heißt es in einem der Papiere.
Zu sehen, wie dies plötzlich nicht mehr galt und das aus meiner Sicht schmutzige Geschäft über unser trutziges Wollen triumphierte, hat mich sehr, sehr frustriert. Vor allem als ich dann auch noch sah,wie andere ihr Süpplein damit kochten, hat mich so erschüttert, dass mir bis heute die Worte fehlen. Als Wähler interessiert mich nur noch ein Kriterium: Anstand. Ich möchte Anstand. Aber moralische Projekte waren in Deutschland noch nie sehr erfolgreich.
Das Ergebnis ist, dass Zynismus die politische Szene bestimmt. Ich hoffe sehr, dass die jüngere Generation damit besser umgeht.
Die Jugend ist besser als ihr Ruf. Bewegungen wie "Fridays for Future" oder "Ende Gelände" machen Mut, denn ziviler Ungehorsam ist das Einzige was bleibt, um den Lobbyisten aller Parteien endlich Einhalt zu gebieten. Wir sind das Volk! Wir Ahnungslosen dürfen die Entscheidungen nicht fragwürdigen Experten wie den Lindners & Altmaiers überlassen! Keinesfalls!!
PS: Und wenn Angie geht, geht eine der letzten Politikerinnen, die noch Anstand und Würde verkörpert. Mir wird Angst und Bange, wenn ich an die Nachfolge denke.
An den Vorkommentator: Sie brauchen Angie! Die gönn ich Ihnen wirklich!
An den Vorkommentator: Wie großzügig! Damit haben auch Sie unsere Angie...
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