Montag, 12. August 2019

Die Stadt, die Maut und wir


Wenn aus Reutlingen Mautlingen wird




Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
London ist ja wie Stockholm, Singapur oder Reutlingen eine Großstadt. Seit 16 Jahren kennt man dort eine mautpflichtige Verkehrszone. 11,50 Pfund kostet es pro Tag, wenn man in der Innenstadt sein eigenes Auto unbedingt bewegen will. Im Vergleich zum Jahr 2000 sank die Zahl der Fahrzeuge, die ins Innere wollten, um rund 25 Prozent. Ein tolles Ergebnis - bei gleichzeitig steigenden städtischen Einnahmen. Doch seit einiger Zeit nimmt die Belastung wieder deutlich zu. Die durchschnittliche Geschwindigkeit sank von 32 (2013) auf 28,5 (2016) Kilometer pro Stunde. Nicht gut. Die Autofahrer verlieren je Kilometer über zwei Minuten. Tendenz steigend. Also überlegt man dort, die Preise individuell zu gestalten - je nachdem, wann man in die Stadt fährt, wie viele Kilometer und welche Straßen benutzt werden. Singapur, die Stadt, die schon seit 1975 Zutrittsgebühr erhebt, will ein solches Verfahren 2020 einführen. An der Westküste der USA, in Kalifornien und Oregon verfolgt man technologisch noch ehrgeizigere Projekte. Gepreist wird nicht mehr pauschal, sondern in Echtzeit ganz nach dem Verhalten der einzelnen Fahrer.

Nun - in London (wie gesagt, eine Großstadt wie Reutlingen) hat man den Taxiverkehr inklusive Uber-Fahrten von der Maut befreit. Ebenso Car-Sharing. Ergebnis: die Zahl der Autos, die als Taxi und Teilauto die Innenstadt betreten, stieg von 50.000 auf 85.000. Und die Zahl der Fahrer, die eine Lizenz zum mautkostenfreien Chauffieren haben, verdoppelte sich nahezu von 62.000 auf 115.000. Uber & Co. eroberten 38 Prozent des Autoverkehrs in Zentral-London und erobert einen doppelt so hohen Anteil am Verkehrsvolumen wie traditionelle Taxis.

Das Konzept scheint also - auch bei aller Kritik an Uber & Co. - aufzugehen. Die Methode Maut ist nur in Deutschland wahnsinnig und beschert denjenigen wahrscheinlich eine Milliarde Euro an Einnahmen, die dafür angeheuert wurden, das nicht zu installieren, weshalb man sie angeheuert hat. Schon bei der LKW-Maut nannte sich das damit verbundene System völlig korrekt "Toll-Collect", wies also mit all seinen Pannen darauf hin, dass wir Großprojekte nur noch als tollkühne Verfahren draufhaben.

Übrigens sind in Großbritannien die Werte, die man aus der Benzinsteuer einnahm, aufgrund sparsamerer Motoren innerhalb von fünf Jahren um 812 Millionen Pfund gesunken. Ein Grund mehr, das System in die Richtung zu verlagern, in der das Verhalten der Fahrzeuge insgesamt über Gebühren geregelt wird. Eine riesige Verführung für alle, die sich um die Einnahmen der Öffentlichen Hand Sorgen machen - allen voran die Politiker.

Zurück in die Großstadt. Londons System wurde 2003 ebenso von der Bevölkerung angefeindet wie 2006 das System in Stockholm. Heute sind in der schwedischen Hauptstadt 70 Prozent für die Beibehaltung. Also: die neuen Verfahren stoßen auf positive Resonanz. So etwas hören Planer gerne, die - wie in der Großstadt Reutlingen - versuchen, gegen Widerstände in der Bevölkerung neue Systeme einzuführen. Irgendwann lieben wir das, worunter wir anfangs meinten zu leiden.

Wir - also die Bürger der Stadt - verlieren als Autofahrer an Einfluss, meinte 2017 das Wirtschaftsmagazin "The Economist", das die Zahlen hier zusammenstellte, auf die sich dieser Kommentar bezieht. In den USA fällt der Anteil der jungen Menschen, die einen Führerschein beantragen, etwas ähnliches entwickelt sich auch momentan in Deutschland. Die Zahl der Haushalte, die ohne Auto auskommen, scheint zu steigen. McKinsey, diese Unternehmensberatung, die immer Recht hat, meint, dass im Jahr 2030 zehn Prozent aller Autos unter die Rubrik "Car-Sharing" fallen.

Und die Technologie spielt mit. Mit neuen Preissystemen verändert sich das Fahrverhalten, heißt es allenthalben. Da ab 2020 die allermeisten  neuen Autos durch Mobilfunk angesprochen werden können, wird man alles dransetzen, um immer mehr über uns, die Autofahrer, zu erfahren. Egal, wie sorgsam wir mit Sprit umgehen, man wird das, was wir dort einsparen auf andere Weise wieder hereinholen. Das ist schon einmal sicher. Und als Dieselfahrer wirst Du vielleicht gar kein Fahrverbot bekommen, sondern nur der sein, den man am stärksten zur Kasse bitten wird. Die Strafe folgt der Straße. Denn Dein Auto wird sich in all seinen technischen Details gegenüber dem Mautmoloch offenbaren. Es dieselt Geld in die Kassen.

Selbstverständlich werden Datenschützer sofort auf den Plan treten und ihre Bedenken solange äußern, bis sie in neue Autodatengrundverordnungen, die Du als Autoeigentümer überall unterschrieben hast, überführt sind. Am besten mietest Du Dir dann Dein Auto - "all inclusive" oder so. Datenschutz ist nur noch reine Privatsache.

Seltsamerweise wird in dem Artikel, auf den ich mich hier beziehe, der Öffentliche Personennahverkehr nicht genannt. So - als sei er gar keine Alternative. Kann sein, dass der Autor bereits im Hinterkopf die Selbstfahrer hatte. Von ihnen geht wahrscheinlich die größte Veränderung aus. Denn die Automobilhersteller und Mobilitätsanbieter sind ganz scharf darauf, die Daten zu bekommen, die aus der Maut ins System fließen. Sie sind wichtig, um ihre zukünftigen selbstfahrenden Vehikel zu optimieren. Auch hier werden Datenschutzgrundverordnungen alles zwischen Dir und Deinen Verkehrspartnern regeln.

Busse und Bahn - über die wir hier in Reutlingen so gerne hirnen - haben vielleicht nur noch im Untergrund einer Stadt etwas zu suchen, oberflächlich sind es autonome VANs & CARs, die uns - an allen Fußgängern, Radfahrern, E-Roller vorbei - ganz gemütlich durch die Stadt chauffieren. Mit maximal zehn KaEmHa - innerhalb der Wilhelmstraße und anderen "Fußgängerzonen". Wir werden dies - weil staufrei (und auch staubfrei) - als rasend schnell empfinden. Denn Verkehrsregelungen werden uns mit Hilfe von Ampeln und Zehnerzonen längst an das neue Geschwindigkeitsgefühl gewöhnt haben. Wir schaukeln durch die Stadt - wie dereinst die Straßenbahn. Die Gartenstraße wird allerdings für alle gesperrt sein - weil man darunter gerade eine "U-Bahn" baut.

Natürlich werden gegen solche Ideen all jene ihre wissenschaftlich fundierten Bedenken erheben, die sich den Neunten-Neunten nicht verderben lassen. Unser neues System muss wie der ZOB, der 1994 schon für die "Großstadt" Reutlingen zu klein war, mindestens 25 Jahre halten.

Das ändert nichts daran, dass ich mir sehr wünsche, dass die neuen Quartiersbusse auf große Akzeptanz stoßen. Sie sind die ersten Kandidaten, die man eines Tages durch Selbstfahrer ersetzen könnte - mit höheren Reichweite, engerem Zeittakt und stärkerer Verdichtung. Allerdings könnten dann auch Private diese Dienstleistung übernehmen. Natürlich ebenso mautfrei.




 

Bildertanz-Quelle:RV

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wahnsinn - Großbritannien (London??) nimmt 812 Pfund weniger ein. Das lässt aufhorchen!

Raimund Vollmer hat gesagt…

Habe "Millionen" vergessen. Danke für den Hinweis. Wurde korrigiert.

Anonym hat gesagt…

Immer gerne – hatte mir schon so etwas gedacht.
Wir sehen: Mautlingen ist überall :-)))))))