Eine unzeitgemäße Betrachtung von
Raimund Vollmer
Das Hochhotel wird also so gebaut, wie es der Investor
braucht. Egal, ob uns das gefällt oder nicht. So entschied jetzt der Rat der
Stadt Reutlingen, der jede Tendenz in Richtung Bürgerentscheid abwürgte.
Da stellt man sich die Frage: Was ist der Generalplan, den man sich nicht von uns Bürgern durch Entscheide in Einzelfällen durchkreuzen lassen möchte? Deshalb dieser Versuch, unsere Stadt einmal von einer Meta-Ebene aus zu betrachten.
Alles, was zwischen den alten Stadtoren liegt, die
ursprüngliche Altstadt ausmacht, wird sich an sich selbst orientieren - an dem
historischen Vorbild. Das hat man wohl endlich kapiert. Hier ist unsere Stadt auch
die Stadt, die sich bis zuletzt als Reichsstadt behauptet hat, die nie klein
beigab, mutig bis aufsässig war - und sich auch nicht einfach von den
Nationalsozialisten einkassieren ließ. Sie hatte sich mit dem Bau der in jeder
Beziehung wunderbaren Stadtbibliothek schon in den achtziger Jahren den Weg
zurück in die Zukunft selbst gezeigt. Es war ein Weg, den sie - nur wenige Schritte entfernt - durch
die Riegel- und Stelzenbauten des Rathauses zwei Jahrzehnte zuvor massiv verbarrikadiert
hatte. In einem Anfall von Erkenntnis hatte man allerdings beim Bau der Stadtbibliothek die
Einsicht durchschimmern lassen, dass nicht alles, was modern sein soll, auch
automatisch modern ausschauen muss. Modernität ist kein Synonym für Zukunft. Der
Gegenbeweis ist diese Stadtbibliothek, ein innen wie außen heimelig wirkendes
Charaktergebäude. Hier ist man zuhause. Hier ist man Bürger. Angepasst an die
Umgebung (Spendhaus, Heimatmuseum) und dennoch sehr souverän, sehr
selbstbewusst. Das ist Reutlingen - und wer dort mal an einem Samstagmorgen einen Besuch abstattet, bekommt ein Gespür für echtes urbanes Leben, ohne dass es aus
Shopping oder Gastronomie bestehen muss. Eine Stadt, die allein in Mode und Gastwirtschaft ihre
Attraktivität sucht, fängt an, sich selbst aufzugeben. Nein. Wer die Stadtbibliothek
besucht, bekommt einen ganz anderen Eindruck von unserer Stadt. Selbstbestimmt.
Selbstbewusst. Souverän. Interessiert. Neugierig. Wissensdurstig. Sogar
herzlich. Individuell und introvertiert, dennoch sehr kommunikativ. Und das Ganze
erlebt man praktisch ohne Stadtmarketing, allerdings auch abgeschirmt durch Mauern und Altstadtrand.
Das Rathaus hingegen ist und bleibt ein Stück Kaltstadt in
den virtuellen Mauern der Altstadt. Überhaupt zieht der Rathaus- und Marktplatz
eine Trennlinie zwischen der flachdachigen, funktionalen Kaltstadt auf der
einen Seite, wie sie sich im Umfeld der Stadthalle einbetoniert, und der kommunikativen, vergiebelten Altstadt
auf der anderen Seite. Wie eine Diagonale zieht sich diese Linie über den Marktplatz.
Dass man davon nicht abrücken wird, zeigt der Neubau der BW-Bank. Aber die
Invasion der Postpseudomoderne ist an dieser Linie gestoppt. Die
Katharinenstraße behält ihre Giebelzeile, wird vielleicht sogar mit ihrem
Lichthof eine Querverbindung zu den anderen, ein wenig vergessenen und
verschlafenen Teilen dieser Altstadt schaffen.
Rund um diese Altstadt triumphiert indes die Kaltstadt. Hier
herrscht die Hochmoderne (oder vielmehr das, was man dafür halten soll). Ihren
Heiligenschrein bekam sie mit der Stadthalle, die zwar der Hochkultur der
Württembergischen Philharmonie gewidmet werden sollte, sich aber vor allem durch
Profan-Veranstaltungen über Wasser hält - und mit ein bisschen Hilfe und Goodwill der
Stadt, der Eigentümerin.
Die Tonne bildet den Tabernakel - und dass ausgerechnet sie
sich architektonisch als Blendwerk darstellen muss, sich gar auf eigenem
Olymp-Hügel sonnt, hat sie nicht verdient. Ihr Platz gehört in die Altstadt,
dort, wo wieder das Leben in all seinen dramatischen und komischen Wendungen pulsieren
soll. Selbst das Franz-K, ein echtes Stück Reutlingen, muss sich nun im
Schatten des neuen Stuttgarter Tores als Teil der Kaltstadt behaupten.
Was immer aus dem Postgelände werden wird, wissen wir nicht.
Aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr groß, dass dort etwas entsteht, was
als eine emotionale Erweiterung der Altstadt wirken kann. Zwar ist von einer
"Kulturmeile" die Rede als eine Forderung an den Ideenwettbewerb, wo
aber soll denn die "Kultur" herkommen? Reutlingen ist keine
Kunststadt, da darf uns auch das Museum für Konkrete Kunst nicht drüber
hinwegtäuschen. Ob sich das Industriemagazin, das ja von Reutlingens industrietechnischer
Vergangenheit zeugen soll, sich hier wohlfühlen wird, ist auch nicht unbedingt
gesagt. Es fehlt das wirklich Spektakuläre, wie es ein Eisenbahnmuseum
(Nürnberg), technisches Museum (Berlin/München) bieten kann. Reutlingen hat
keine Zechen oder andere Industriedenkmäler. Reutlingen ist Reutlingen (oder
war es einmal). Und dieses Reutlingen wird sich auf diesem Gelände nicht
wiederfinden. Angesichts von Blue Village kann einem auch nur angst und bange
werden, wenn es heißt, dass hier Wohnungen entstehen sollen. Was wir erleben,
ist ein Fortführung der Kaltstadt um die Altstadt. Man durchmischt das Kalte
mit ein wenig Altem und bekommt vielleicht ein paar Grad emotionale Wärme in
diese Zone der Kaltbauten. Nicht die Altstadt expandiert, sondern die
Kaltstadt. Und nichts kann dies verhindern.
Eigentlich wird die Reutlinger Altstadt seit Jahrzehnten
beklaut. Sie verlor den Zwiefalter Hof. Sie verlor viele ihrer historischen
Häuser. Sie verlor ihre Straßenbahn. Sie verlor ihre inhabergeführten
Geschäfte, ihre Handwerke, ihre Industrie, ihre Kirchen, ihre Buchhandlungen,
kurzum: ihr Eigenleben. Und das alles, bevor Amazon über alle Erdzonen hinweg
sich ausbreitete. Die Altstadt verlor vor allem ihre von der Pädagogischen
Hochschule geisteswissenschaftlich und schöngeistig eingestimmte Jugend, die
sich beim "Kocher" und beim "Knödler" mit wahrhaft
intellektueller Lektüre eindeckte - fernab von dem Absurdistan einer eiskalt
durchgestylten BWL. Deren Studenten
finden allein in Tübingen jene Heimeligkeit, nach der sie sich im Grunde ihres Herzens
sehnen. Und zwar zu Recht.
Der Gipfel an Unverfrorenheit wurde erreicht, als man das
neue Wahrzeichen der Kaltstadt, das neue Hochhaus, "Stuttgarter Tor" nannte - in einer
Replik auf das mittelalterliche Stuttgarter Tor, das dort stand, wo die
Wilhelmstraße beginnt - 300 Meter entfernt.
In diese Kaltstadt passt nun auch das neue Hochhaus-Hotel,
gegen dessen Bau die WiR-Fraktion vergeblich viele Unterschriften "in
Echt" und virtuell sammelte. Keine Chance für einen Bürgerentscheid.
Kaltstadt expandiert - mit dem Eregbnis, dass die Hotelgäste dann abends doch
die Reutlinger Altstadt aufsuchen werden, um schließlich enttäuscht nach
Tübingen zu fahren.
Es sei denn...
... es geschieht jenes kleine Wunder, das sich in der
Gartenstraße und am Listplatz andeutet. Hier entwickelt sich nach der
Umstellung auf das neue Buskonzept eine neue Urbanität, die - es ist momentan
nur eine winzige Hoffnung - neue Geschäfte, neue Lokalitäten, neue Klein-Kultur
gedeihen lässt. Und durch die Nähe zur Oststadt, zu jenem sehr bürgerlichen, aber auch industriell geprägten
Teil Reutlingens, wird sich vielleicht eine Szene etablieren oder entdecken
lassen - übrigens ganz ohne Zutun der Stadt. Eine Szene, ein Charakter, wie sie echte Großstädte
haben. Hier hat Kaltstadt keine Chance,
auch wenn man die Tonne aus der Oststadt abgezogen hat. Hier könnte auf Dauer
das Reutlingen zuhause sein, nachdem wir uns insgeheim alle sehnen. Ein
bisschen morbide, ein bisschen mondän, ein bisschen zu freiberuflich, ein
bisschen zu postmodern, ein bisschen versnobt, ein bisschen ökolastig, ein
bisschen hipster, ein bisschen anarchistisch, ein bisschen links, ein bisschen
proletarisch, ein bisschen aufsässig. Ein bisschen Kunst, ein bisschen Gewerbe.
Hier wirkt sogar die Kreisverwaltung sympathisch, ausgerechnet die
Kreisverwaltung, die man doch zumindest obrigkeitlich aus dem Stadtkreis jagen
wollte. Kurzum: hier ist ein bisschen von allem, was die Kälte besiegt. Ein Schmelztiegel der Hoffnung.
Die Kälte aber ist der Tod jeder Stadt.
Bildertanz-Quelle:RV
3 Kommentare:
D - 72764 Kaltstadt
Bei Berlin
Hahahaha
Hallo Raimund,
einen Bürgerentscheid zu initiieren kann man ja den Einwohnern nicht verbieten, es muß ihn nur jemand organisieren. Hatte das in Lichtenstein schon mal mit großem Erfolg gemacht.
Die "Wir-ler" wollten den halt auf Steuerzahlerkosten.
Also, ihr "Großhotelgegner", macht euren Bürgerentscheid selber!
Ich würde ihn jedoch eher an der LEGO-Architektur als am Hotel selber festmachen, denn das halte ich schon für wichtig um in der Stadthalle nicht nur Wochenend-Veranstaltungen zu haben.
Das, was da geplant ist passt zwar gut zur Stadthalle und GWG-Bau, aber Architektur ist das nicht, auch wenn der Architekt noch so viele Preise für seine armseligen Bauwerke bekommen hat.
Gruß aus Lichtenstein
Michael Staiger
Lieber Michael Staiger,
dem steht leider die Gemeindeordnung entgegen: ein Bürgerbegehren, das zum Bürgerentscheid führen kann, muss nach § 21 Gemeindeordnung "innerhalb von drei Monaten nach der Bekanntgabe des (entspr. GR-) Beschlusses eingereicht sein."
Aber der Gemeinderat könnte - wenn er wollte - ohne zeitliche Begrenzung: "(1) Der Gemeinderat kann mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen aller Mitglieder beschließen, dass eine Angelegenheit des Wirkungskreises der Gemeinde, für die der Gemeinderat zuständig ist, der Entscheidung der Bürger unterstellt wird (Bürgerentscheid)."
Dem stand die übergroße Mehrheit aus Grünen (die ehem. basisdemokratische Partei), CDU, SPD, FWV und FDP entgegen. Nur die WiR und noch eine neue Fraktion (deren Namen ich gerade vergessen habe) haben für einen Bürgerentscheid gestimmt.
Mehr darüber beim GEA:
https://www.gea.de/reutlingen_artikel,-wir-fraktionschef-straub-macht-erneut-keinen-stich-gegen-das-stadthallen-hotel-_arid,6169967.html
und dort:
https://diewaehlersindfrei.wordpress.com/2019/09/27/die-gruenen-und-die-direkte-demokratie-es-war-einmal-die-angst-der-regierenden-und-wahlsieger-vor-dem-buerger/
Viele Grüße Hansjörg Schrade
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