Freitag, 13. September 2019

Wilhelmstraße ist überall


Selbst "New Yorker" sieht man in Reutlingen. Und "Final Sale" meint wohl noch unseren guten alten Sommerschlussverkauf



Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer


Da titelt der Reutlinger General-Anzeiger heute in seinem Lokalteil: "Leerstand in der 1a-Lage". Da schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung heute auf Seite 1 ihres Wirtschaftsteils: "Es läuft etwas schief im Südwesten." Denn der Maschinenbau verbuchte im Ländle im Auftragseingang ein Minus von 15 Prozent, nach einem Minus von 14 Prozent im Juni.

Ist unter anderem der Online-Handel eine der Ursachen dafür, dass der Einzelhandel bis in die Wilhelmstraße hinein darbt, so ist es bei den Maschinenbauern (und zunehmend auch bei deren Kunden, den Zulieferern) der Wandel in der Automobilindustrie. Perfektes Marketing, mal dem Einzelhandel unterstellt, perfekte Motoren (mit Laufleistungen über 200.000 Kilometern) haben nicht davor geschützt, dass sich vor unseren Augen ein fundamentaler Wandel vollzieht.

In diesem Zusammenhang fällt dann immer wieder der Begriff "disruptiv", mit dem eine plötzliche Veränderung in der Technostruktur eines Unternehmens oder einer Branche gemeint ist. Der Begriff selbst wird in Kreisen der Leute, die meinen, dass sie ganz besonders auf der Höhe der Zeit befinden, so benutzt, als sei er völlig neu, sei er an sich "disruptiv". Zuerst einmal wurde er von 25 Jahren kreiert. (Der Autor dieser Zeilen hat sogar den Originalartikel).Zum zweiten hatte ihn in der ersten Hälfte des 20 Jahrhundert der Unternehmerforscher Joseph A. Schumpeter mit dem Terminus "kreative Zerstörung" längst vorweggenommen. Zum dritten wurde in den neunziger Jahren bereits in den Medien intensiv der "Online-Handel" besprochen  und das Elektroauto, das nun den Wandel in der Automobilindustrie bewirkt (inklusive aller Firmen, die in irgendeiner Form zuliefern), wurde zur selben Zeit sehr  konkretisiert.

Im Prinzip haben wir ein Vierteljahrhundert Zeit gehabt, unsere Wirtschaft im Großen (Automobilindustrie) und im Kleinen (Einzelhandel) auf diesen Wandel, der jetzt als radikal empfunden wird, vorzubereiten. Dies ist nicht geschehen, jedenfalls nicht aus einer offensiven Pose heraus. Jedes griechische Drama sagt uns. Je mehr man versucht, sein Schicksal aufzuhalten, desto unaufhaltsamer kommt es auf einen zu. Dagegen hilft eine Verdoppelung des Budgets für Stadtmarketing ebenso wenig wie die Entwicklung eines neuen Buskonzeptes oder die Forderung nach mehr Parkplätzen. Das ist nur ein Laborieren an den Symptomen. Auch der Versuch, durch Umweltberechnungen die Belastung des Elektroautos negativ einzuordnen, ändert nichts. Im Prinzip fehlt den Unternehmen der Mut, neue Phantasien zu entwickeln und umzusetzen.

Der radikale Wandel im Finanzwesen, also den Banken, ist übrigens auch schon seit den achtziger Jahren ein Thema, das erst mit der Finanzkrise vor zehn Jahren deutlich wurde. Und auch dort hat man bis heute alles daran gesetzt, diesen Umbruch mehr zu verhindern als ihn zu meistern.

Wenn wir ganz genau in die Szene hineinschauen, sei es in die Ämter, sei es in die Betriebe, dann wird der Grund offenkundig, der dazu führte, dass zum Beispiel Firmen zu Schummelsoftware griffen, um ihr möglicherweise überkommenes Geschäftsmodell zu retten. Die Krise, die auf uns zurollt, hat einen Namen und der lautet "Management". Es ist das mit Abstand größte Problem. Fragen Sie in Ihrem Bekanntenkreis herum, Sie werden letztlich immer wieder auf diese Personengruppe als Ursache der meisten Probleme stoßen.

Nun haben wir hier in Reutlingen ja eine Hochschule, die sich darauf spezialisiert hat, Managementerfahrung zu vermitteln. Und diese Hochschule genießt einen sehr, sehr guten Ruf. National und international. Die Frage ist nur: Bei wem? Die Antwort: Natürlich in Managementkreisen.

Sprechen Sie mit Unternehmern, vor allem mit Gründern, dann werden Sie hören, dass deren Management bestens ausgebildet sei, so gut wie sie es als Selfmademen niemals waren. Deswegen haben sie diese Führungskräfte auch eingestellt, um dann - ziemlich regelmäßig - enttäuscht zu werden. Vielleicht stehen unsere Management-Hochschulen demnächst ebenfalls vor einem Umbruch - einem Umbruch, der besagt, dass es immer weniger darauf ankommt zu steuern und zu kontrollieren, WIE man etwas tut, sondern WAS man tut.

Das Thema "Digitalisierung", über das wir bis zum Erbrechen nur Allgemeinplätze und andere Formen der Bewältigung durch Benennung hören, gehört in die Kategorie der Selbstbetörung und Selbstbeschwörung.

Wer in den siebziger Jahren durch die Betriebe ging, die durch die Elektronisierung (so nannte man damals die Digitalisierung) in einen Transformationsstrudel gerieten, der tatsächlich überraschend und damit disruptiv kam, wird sich erinnern, dass er gemeistert wurde von Mitarbeitern, die nichts anderes als eine Lehre in einem ganz anderen Fach hinter sich hatten, kein Abitur, kein Bachelor, kein Master. Und er wurde grandios gemeistert. Das beste Beispiel dafür haben wir hier vor Ort - der Wandel von Gminder zu Bosch. Überhaupt waren es Firmen im Südwesten wie etwa Kienzle (Fahrtenschreiber in Villingen-Schwenningen), die diesen elementaren Strukturwandel souverän in den Griff bekamen - mit ganz normalen Menschen. Managementprobleme hatten sie keine - vielleicht, weil sie gar kein Management hatten.

Wir stehen momentan vor dem Problem, dass es an allen Fronten brennt. Das meiste davon ist momentan nur ein Schwelbrand, es lodert noch nicht. Aber dazu kann es jederzeit kommen. Wir haben auf allen Ebenen unserer Wirtschaft und des Staates Kontrollinstanzen errichtet, überall, in Staat und Wirtschaft. Instanzen, die in der Lage sind, Probleme klein zu halten, oftmals allein dadurch, dass sie diese zerstückeln und zerhacken (wie Parkplatzprobleme), so dass sie bei uns, den Menschen, keine Alarmstufen auslösen. Und wenn es dann doch lodert, werden sie uns auffordern, die Augen zu schließen und uns erzählen, dass die Rente sicher ist.

Doch das wird diesmal nicht funktionieren. Wen immer man in den letzten drei Jahren befragte, jeden, der seine Umgebung beobachtete, berichtete davon, dass er dem "Frieden" nicht traut. Und dazu brauchte er noch nicht einmal irgendwelche Statistiken, die heute im GEA als Grund dafür aufgeführt wurden, dass Reutlingen in seiner ganzen Attraktivität bundesweit nicht wahrgenommen wird.

Die Wetterstatistik sagt: Es kommen kältere Tage.
Bildertanz-Quelle: Raimund Vollmer

6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Empfehle die Lektüre von Kondratiew und seinem Verfechter

https://www.kondratieff.net
https://www.md-institute.com/de/leo-a-nefiodow.html
Aufschlussreiches Interview
https://futability.wordpress.com/2015/04/28/interview-der-sechste-kondratieff/

Mit Kondratjew-Zyklen beschreibt der sowjetische Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratjew die zyklische Wirtschaftsentwicklung mit der Theorie der Langen Wellen. Ausgangspunkt für die Langen Wellen sind Paradigmenwechsel und die damit verbundenen innovationsinduzierten Investitionen: Es wird massenhaft in neue Techniken investiert und damit ein Aufschwung hervorgerufen. Nachdem sich die Innovation allgemein durchgesetzt hat, verringern sich die damit verbundenen Investitionen drastisch und es kommt zu einem Abschwung. In der Zeit des Abschwungs wird aber schon an einem neuen Paradigma gearbeitet. Der 6. Kondratiew wird voraussichtlich die Biotechnologie. Also bitte nicht mehr allzulange mit der Digitalisierung aufhalten – die ist schon im Abklingen.

Anonym hat gesagt…

wollte sagen: seinem Verfechter Leo Nefiodow, Experte für Zukunftsforschung in St. Augustin
https://www.md-institute.com/de/leo-a-nefiodow.html

Anonym hat gesagt…

Parkplatz-Probleme erledigen sich mit dem Klimawandel von selbst.
Fahrräder sparen enorm viel Platz :-))))))

Raimund Vollmer hat gesagt…

Ahne wer da den alten Kondratjew bemüht - und den Wellenreiter Nefiodow. Es gibt auch die Schumpeterschen Wellen, die immer kürzer werden. Danke für den Hinweis!

Anonym hat gesagt…

Ja - die Welt wird immer komplizierter. Wir brauchen dringend die Kunst vernetzt zu denken, wie sie Prof. Frederic Vester mit dem Einsatz des Sensitivitätsmodells bis zu seinem Tod propagiert hat. Vernetztes Denken bietet die Chance, bislang unlösbare Probleme auf innovative Weise anzugehen. Unabhängig davon, ob es sich um politische Konflikte, ein Unternehmen, die Planung einer Region oder die Lebensentscheidung eines einzelnen handelt, verschafft vernetztes Denken einen Vorsprung gegenüber den bisherigen Vorgehensweisen: durch überraschende Einsichten in verborgene Zusammenhänge und durch die Chance, auch mit unerwarteten Ereignissen fertig zu werden.

Anonym hat gesagt…

Da passt doch der Winterblues von Insterburg & Co:

Winter will es werden, eine schöne Zeit
Da sitzt man gern' am Ofen und macht die Beine breit
Ja, Winter will es werden, die Winterzeit ist nett
Besonders glücklich ist man dann, wenn auch ein Weib im Bett

Das Weib, es hält das Bettchen warm und zeigt mit gutem Willen
Dass es sich auch zur Winterzeit hat eingedeckt mit Pillen
So liegen wir dann im Daunenbett und lassen den Winter walten -

Der Papst und die Enzyklika, die schlafen jetzt im Kalten
Ja!