Freitag, 4. Oktober 2019

Warum Reutlingen die Zukunft verbaut


Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

2013: "Ich bin der Meinung, dass die Architektur im 21. Jahrhundert enorm an Bedeutung verlieren wird. Nicht einzelne pompöse Bauten prägen künftig die Städte, sondern die Kultur einer Stadt, ihre Geschichte und die Menschen, die dort leben."

Albert Speer Jr. (1934-2017), deutscher Städteplaner[1]

Zwischen Alt & Neu: Das Tübinger Tor...
 
Formulieren wir es polemisch: Reutlingens stadtpolitische Elite leidet unter einer Neurose, und die heißt Zwangsprogressivität. Das zeigt sich nirgendwo so sehr wie im Städtebau. Wenn etwas Neues nicht völlig anders aussieht als das, was unsere Stadt aus ihrer Geschichte als Vorbild liefern könnte, ist es nicht nur gestrig, sondern auch mehr oder minder verdächtig, reaktionär zu sein. 
Ganz allein und neu: Das Stuttgarter Tor im September 2019

Ein wunderbares Beispiel für diese Denkungsart lieferte jüngst unser aller Hagen Kluck. Der Stadtrat, nie um eine direkte Meinung verlegen, schrieb in einem Kommentar zu unserer kleinen Fotoserie auf Facebook über die Neue Altstadt in Frankfurt: 
"Im April 2018 veröffentlichte Stephan Trüby, Professor an der Uni Stuttgart, einen Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, in dem er nachwies, dass die Initiative für die Rekonstruktion in Frankfurt auf zwei Personen mit Naheverhältnis zur Neuen Rechten zurückging. "Es gibt einen falschen Konsens darüber, dass Architektur und Altstädte unpolitisch sind. Ich behaupte, dass hinter der Rhetorik einer angeblichen Schönheit, einer angeblichen Tradition einer angeblichen europäischen Stadt durchaus auch eine rechtsradikale Kultur- und Architekturpolitik stehen kann, die wir nicht unterschätzen sollten", sagte Trüby im Deutschlandfunk. In einem rechtsgerichteten Blog schrieb Wolfgang Hübner, einer der von Trüby genannten Initiatoren, brutalistische Bauten wie das Technische Rathaus seien Teil eines "Schuldkults" und einer "Sühnearchitektur" der Nachkriegszeit. Zwar war der etwas überdimensionierte Bau in seiner beamtenhaften Sachlichkeit kein architektonisches Glanzstück, und den weltweit etablierten Brutalismus als deutsche Strategie zur Selbstbestrafung für den Holocaust zu bezeichnen ist lächerlich – doch Theorien wie diese finden viel Resonanz." (Ende des Kommentars)
Weder alt noch neu: die Neue Altstadt in Frankfurt

Offensichtlich finden diese "Theorien" nicht nur als "brutalistische Sühnearchitektur", sondern auch als "rechtsradikale Kultur- und Architekturpolitik" viel Resonanz. Das Mutterblatt der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die FAZ, hat denn auch einen Monat später (Ausgabe vom 7. Mai 2018) das längst in Frankfurt durchgekaute Ideologie-Thema versachlicht. 
- Erstens kam die Idee für die Wiederherstellung der Altstadt von einem CDU-Politiker (Dominik Mangelmann aus Offenbach), 
- zweitens wird heute die neue Altstadt auch vom SPD-Oberbürgermeister Peter Feldmann verteidigt. 
Zur Entstehungsgeschichte schreibt die FAZ: 
"Die Freien Wähler/Bürgerbündnis für Frankfurt, eine Wählerinitiative am rechten Rand des politischen Spektrums, war am schnellsten und legte einen Antrag vor, der ziemlich genau das umfasste, was später gebaut wurde. Manchen Gegnern des Projektes dient das heute als Beleg, dass das Projekt irgendwie anrüchig ist. Aber ist ein ganzes Quartier städtebaulich verdächtig, nur weil die politische Gesinnung eines seiner Urheber nicht behagt?" 
So fragte kurz vor der Eröffnung die FAZ.[2] Und zitiert dann den über solche "Analogieschlüsse" erbosten Bauherrn der neuen Altstadt: 
"Das ist doch Schwachsinn. Wir machen hier Stadtreparatur und haben nicht vor, die Geschichte zu verfälschen. Wir wollten nicht Rüdesheim am Main bauen, sondern ein Stück Frankfurter Geschichte erlebbar machen."  (Michael Guntersdorf)
Über dem Alten entsteht auch weiterhin das Neue: Frankfurt am 30. September 2019

Der Schriftsteller Eckhart Nickel meinte nach einem spätabendlichen Spaziergang durch die Neue Altstadt, dass er das Gefühl habe, in "einer Epoche" gelandet zu sein, "die weder Vergangenheit noch Gegenwart ist".[3] Ehrlich gesagt, so ging es mir auch, als ich durch dieses Viertel ging. Es muss sich noch seine eigene Geschichte schaffen. Der Versuch, es jetzt schon nach rechts oder links hin zu verteufeln (und das auch noch ohne Feinsinn und Verstand), es ideologisch aufzuladen, ist ein ziemlich deutliches Zeichen dafür, wie wenig offen für die Zukunft diese Positionen sind. 
Das ist das große Problem der Zwangsprogressivität: da verwechselt man sehr leicht Fortschritt mit Zukunft.

Eine Stadt wie Frankfurt, die mit ihren Bankentürmen (und deren maroden Eigentümern) genug an zwangsprogressiver Energie verbraucht und verbaut hat, darf sich mit Fug und Recht mal an das wagen, was schon immer Zukunft hatte: das Alte. Andere Städte tun dies mit überragendem Erfolg.
So war ich über den 3. Oktober in Paris. Wegen der Hochhäuser kamen ganz bestimmt nicht die Abertausenden von Touristen, schon gar nicht die aus Asien, aus China. Sie kamen, weil sie all das sehen wollten, das - wie jetzt der Eiffelturm - mindestens 130 Jahre alt ist. Und auch hier ging es mir so wie dem Schriftstaller Eckhart Nickel in Frankfurt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bildeten hier eine eigene Epoche, eine, in die man sich erst noch hineinfinden muss - neugierig, offen, nachdenklich, inspiriert - und vor allem staunend. Das ist nämlich, was Zwangsprogressivität nicht duldet: das Staunen. Vor allem nicht das Staunen über uns selbst. 
Eine Großhochhausstadt wie jede andere: Paris am 3. Oktober 2019
Einer der Architekten, der mit seinem Entwurf für Frankfurts neue Altstadt den ersten Preis gewann und berühmt war für seine Hochhäuser, meinte 2011: 
"In vielen deutschen Städten wollen die Bürger ihre vernichteten Altstädte wiederhaben. In Frankfurt haben sie sich durchgesetzt." 
Der Name des Architekten ist Hans Kollhoff, der bekannt ist für das, was man als moderne Bauten bezeichnet. Er geht mit seiner Zunft, den Architekten, sehr hart zu Gericht. Er sagt: 
"Nach einem Jahrhundert erfolgslosen Erfindungszwangs wäre es angebracht, sich auf das überkommene, architektonische Instrumentarium zu besinnen." 
So wie es die Architekten der Renaissance bei den alten Griechen taten - und das Staunen neu lernten. Kollhoff meint, dass wir Bürger wieder die Häuser wollen, die dereinst in unseren Städten standen, "und auch nicht architektonische Delikatessen, sondern schlicht Häuser, die sich nicht aufdrängen, nicht im Wege stehen und nicht das Leben veröden. Gegliederte Ganzheiten müssen diese Häuser sein, ja, sie müssen erst einmal Häuser sein und nicht Kunstobjekte. In sie kann sich der Bürger einfühlen, hineinversetzen mit seiner eigenen Körperlichkeit."[4]
Auf der Prachtstraße in Paris: Selbst Hugo Boss wirbt mit einer hochhausfreien Skyline
 
Übrigens - eines der schönsten Häuser, die in Frankfurt rekonstruiert wurden, gehörte dereinst einem Flüchtling, wie jeder Stadtführer in Frankfurt weiß. Puh, wenn das die Rechten wüssten...

Auch wenn es nur eine Rekonstruktion ist: 1619 von einem Flüchtling erbaut, die Goldene Wage


Blick auf den 130 Jahre alten Eiffelturm - immer noch eine Attraktion, auch 2019 am Tag der Deutschen Einheit

[1] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25. August 2013, Bettina Weiguny: "'Frankfurt ist ein Modell für die Welt"
[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Mai 2018, Rainer Schulze: "Wo Häuser Geschichten erzählen"
[3] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. September 2018, Eckhart Nickel: "Das Neue stürzt und altes Leben blüht aus den Ruinen"
[4] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Mai 2011, Hans Kollhoff: "Gib mir Simse: Was ist zeitgemäßes Bauen"
Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer (alle Fotos)

7 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Speer Jr. plante angeblich stets unter Einbeziehung von Anwohnern und der Umwelt und mit Blick auf die Bedürfnisse der Menschen, gerne dezentral, ökologisch, mit vielen Freiräumen und vollkommenem Verzicht auf sogenannte signature buildings mit eigener Handschrift, die er spöttisch "weiße Elefanten" nannte.

Soviel zur Legende. Er baute aber auch gerne für Diktaturen und mochte es groß, wie etwa die Fußballstadien in einem Land, in dem es oft 50 Grad heiß wird. Und die tödliche Ausbeutung der Arbeitern auf den Baustellen in Katar erinnert den Vater, der für sein "Germania" in Berlin zahllose Juden deportierte und für den Bau von Stollen für die V-Waffen im KZ Mittelbau-Dora massenweise Häftlinge in den Tod schickte. Wundere mich sehr, wie dieser Mann es posthum in den Bildertanz schaffen konnte.

Anonym hat gesagt…

Sein Masterplan für Reutlingen, ähm Tuttlingen:
https://www.dreso.com/fileadmin/Masterplan_Tuttlingen_2025.pdf

Raimund Vollmer hat gesagt…

Lieber Anonym, beim Recherchieren habe ich mich auch gefragt, ob ich den Speer Junior zitieren soll, aber gerade wegen seiner Vergangenheit und vor allem der seines Vaters fand ich seine Aussage über eine neue Bescheidenheit in der Architektur doch sehr erhellend. Auch Kollhoff ist ein Architekt, der merkt, dass es so nicht weitergehen kann. Gerade weil sie ihre Meinung neu ausgerichtet haben, fand ich sie wichtig.

Raimund Vollmer hat gesagt…

Lieber Anonym, habe gerade mal den Masterplan von Tuttlingen überflogen. Mein Eindruck: Viele Worte, wie immer, wenn man eigentlich nicht sagen will, was man wirklich denkt. Kann mich natürlich täuschen, weil ich es nur überflogen habe. Weichgespülte Kritik, die dann auch nicht weiterhilft. Ist halt so, wenn der Bürgermeister Auftraggeber ist. Aber wie gesagt: Ich habe es nur überflogen. Solide Arbeit, aber irgendwie inspirierend war es für mich nicht. Liege ich da falsch?

Anonym hat gesagt…

Laber Rhabarber - für Geld schrieb er alles, was seine Auftraggeber hören wollten. Tuttlingen geht eigene Wege – und Reutlingen sollte das auch tun

Anonym hat gesagt…

Solche Architekten bräuchte Reutlingen auch:
https://www.landkreis-tuttlingen.de/Quicknavigation/Start/Ehrung-für-den-Architekten-Günter-Hermann-.php?object=tx%7C2328.7&ModID=7&FID=2328.1173.1&NavID=2328.32

Anonym hat gesagt…

Das Merkwürdige an der Zukunft ist wohl die Vorstellung, dass man unsere Zeit einmal die gute alte Zeit nennen wird.

Das sagte einst Ernest Hemingway...