Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Heute gibt es in der öffentlichen Sitzung des Reutlinger
Gemeinderates wieder eine „Einwohnerfragestunde“ – natürlich zu Beginn, wenn
alles, was dann anschließend gesagt wird, noch nicht gesagt wurde und von den
Einwohnern nicht kommentiert oder auch nur hinterfragt werden kann. Dass die
Einwohnerfragestunde den Beginn einer Sitzung markiert, ist eine Entscheidung
des Gemeinderates, nicht eine der Gemeindeordnung. Man könnte sie also auch an
jeder anderen Stelle der Tagesordnung positionieren. Nun ist es auch so, dass
die Fragen der Einwohner zuerst einmal ausschließlich vom Sitzungsleiter, also
in der Regel vom Oberbürgermeister beantwortet werden, der sich allerdings des
kompetenten Rates aus seinen Ämtern oder des Rates bedienen darf. Aber
unmittelbarer Fragestundenchef ist der Oberbürgermeister, in den Teilorten ist
es dann der Bezirksbürgermeister.
Wer aber ist Einwohner? Die Antwort ist ebenso knapp wie
umfassend: Jeder, der hier wohnt. Jeder. Also kann jeder seine Fragen stellen.
Auch unregistrierte Bewohner, die gar nicht beim Einwohnermeldeamt eingetragen
sind, aber einen festen Haupt- oder Wohnsitz hier vorweisen können, sind
Einwohner. Sie alle können nun ihre Fragen zu Beginn einer Sitzung stellen.
Von all diesen Menschen ist Thomas Keck nun der
Oberbürgermeister? Müsste er nicht richtigerweise Obereinwohnermeister heißen –
vor allen Dingen in einer Zeit, in der man den Begriffen jegliche
diskriminierende Färbung nehmen möchte?
Bürger ist, wer hier seit mindestens drei Monaten seinen
Hauptwohnsitz hat. Das mal ganz pauschal. Also ist Keck nur Oberbürgermeister
von diesen Einwohnern. Es gibt aber auch die im Grunde genommen sehr
sympathische, noch von den griechischen Philosophen abgeleiteten Definition,
dass der Bürger ist, der sich aktiv am Gemeinschaftsleben beteiligt. Das ist
die Idee vom Bürger, die im Prinzip jeder von uns in sich trägt. Das heißt:
jeder, der in der sogenannten „Einwohnerfragestunde“ seine Stimme erhebt und
sich daran hält, dass keine persönlichen, sondern nur gemeinschaftlich wichtige
Fragen gestellt werden dürfen, ist demnach automatisch und in diesem Augenblick
Bürger dieser Stadt.
Man könnte also die sogenannte Einwohnerfragestunde ganz
einfach Bürgerfragestunde nennen, die dann auch vom Oberbürgermeister
gemeistert wird. Warum tut man das nicht?
Der Einwohner definiert sich aus seiner Passivität heraus,
der Bürger aus seiner Aktivität. Letzteres ist doch das, was man sich in einer
Demokratie mit aller Inbrunst wünscht. Unser Gemeinschaftsleben würde ohne die
Bürger oder das, was man „bürgerschaftliches Engagement“ nennt, zusammenbrechen.
Gerade in den Zeiten von Corona ist uns dies doch sehr massiv vor Augen geführt
worden.
Wir brauchen uns – als Bürger, nicht als Einwohner. Ohne
Frage. Irgendwie hat man den Eindruck, dass die Exekutive, die ja letztlich
alle Macht in dieser Stadt auf sich vereint, den Bürger auf Abstand halten
möchte – als Einwohner. Das zeigt sich auch, wenn die Stadt zu einer
Einwohnerversammlung einlädt. Da schimmert bei mir im Worthorizont eher der
Begriff vom Untertanen als der vom Bürger auf.
Ich bin mir absolut sicher, dass Thomas Keck nie auf den
Gedanken käme, sich selbst als Einwohner dieser Stadt zu bezeichnen. Ich würde
ihn immer als Bürger sehen. Er ist – und darauf ist er stolz – Bürger dieser
Stadt, deren Bürger (nicht deren Einwohner) ihn zum Oberbürgermeister gewählt
haben, aber nicht zum Obereinwohnermeister. Das würde mir sehr nach „Oberstadtdirektor“,
nach reinem Verwaltungschef klingen, aber nicht nach einer Integrationsfigur,
die nur ein Oberbürgermeister sein kann.
Wer bei den Kommunalwahlen zur Urne geht, ist über alle
Definitionen hinweg Bürger dieser Stadt – und das gilt aber auch für alle, die
die Courage haben, zu Beginn einer Sitzung, wenn alle Redewasser noch kalt
sind, seine Stimme mit Fragen zu dieser Stadt zu erheben.
Ich persönlich bewundere diese Menschen, die sich sehr oft
aus eigener, natürlicher Autorität heraus dieses Instruments der
Gemeindeordnung bedienen. Für mich sind das echte Bürger, die von ihrem
Oberbürgermeister Rede und Antwort verlangen.
Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer (2020)
1 Kommentar:
Ist er auch ein Obereinwohnerinnenmeister???
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