Mittwoch, 29. Juli 2020

Reutlingen: Das Riesenrad, die Grundsteuer und der Marktplatz



Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer


DER GEA hat heute zwei Botschaften an uns. 
Schon auf dem Weg vom Briefkasten zurück zum Frühstückstisch begegnete uns auf der ersten Seite die Botschaft, dass den neuesten Plänen der Landesregierung zufolge, sich künftig die Höhe der Grundsteuer an der jeweiligen Flächennutzung orientiert. Und wie man eine immer wieder über Tage hinweg brachliegende Fläche wunderbar nutzen kann, wird einem dann beim Aufschlagen der Lokalseiten aufgezeigt. Im Herbst will dort die Stadt gemeinsam mit „RT AKTIV“ auf dem Marktplatz ein Riesenrad aufbauen. Mit den Marktbetreibern hat man über diese Fremdnutzung schon gesprochen. Auch der OB steht dahinter. Dass beide Meldungen in einem Zusammenhang stehen könnten, kann natürlich nur einer sehen, der unter Paranoia leidet. Warnung deshalb: Paranoia ist hochansteckend und die Zahl der Fälle steigt momentan täglich. Besser nicht weiterlesen.  

1. „Bürger, nutzt Eure Anlagen!“

Gibt’s Wohnungen auf dem Grundstück, werden – natürlich gemessen an dessen neu zu bestimmenden Bodenwert  - weniger Steuern fällig als bei einem Grundstück, das brach liegt. Und bevor es dann, wie bei allen Steuergesetzen wieder so richtig kompliziert wird (auch wenn unser Ministerpräsident dies verneint), geht es dem Autor dieser Zeilen eigentlich um das grundlegend andere Prinzip: Warum gibt es überhaupt die Grundsteuer?

Dass man die Bodenwerte neu bestimmen möchte (und bis 2024 auch muss),  legitimiert sich zuerst einmal aus der Vergangenheit. Denn das, was man zuletzt 1964 hat berechnen lassen, schreit ja geradezu danach, korrigiert zu werden. Ob eine Grundsteuer überhaupt zeitgemäß ist, stellt sich für den Steuerstaat, der diese stetig fließenden Gelder fest einkalkuliert, natürlich nicht. Und er kann sich dabei sogar auf das Grundgesetz berufen. Grundsatzfragen zur Grundsteuer sind somit tabu. Für immer & ewig. Die Grundsteuer hat als älteste Form der Steuer überhaupt ihre Daseinsberechtigung schon aus dem Grunde, weil es sie gibt. Und einen triftigeren Grund gab es noch nie.

Aber sie hat auch die Zukunft auf ihrer Seite. Wer sich die Entwicklung unserer Steuersysteme in den letzten 50 Jahren anschaut, wird erkennen, dass hier ein grundlegender Wandel stattfindet. Nicht mehr Leistung soll besteuert werden, sondern Nutzung. Nicht mehr Menschen, sondern Sachen. Wir zahlen schon jetzt für die Nutzung all der Güter, die uns die öffentliche Hand in ihrer Vielfalt anbietet, ja sogar aufdrängt. 
Wie sehr die Nutzung im Vordergrund der staatlichen Überlegungen steht, konnten wir zuletzt an der Corona-Pandemie erkennen. In den Anfängen ging es – so wurde es ja auch unumwunden formuliert – um den Schutz des Gesundheitssystems. Das stand so im Vordergrund, dass sich die Menschen schon gar nicht mehr trauten, ins Krankenhaus zu gehen. Es ging nicht um uns, es ging um das System. Und das ist in Staat und nicht minder heftig, fast schon vorbildhaft, in der Wirtschaft ebenso. Wir sehen es überall – auch zum Beispiel bei den Fernsehgebühren, wobei dort allein die potentielle Nutzung Legitimation ist, die Gebühren zu erheben. Die ganzen Cloud-Dienste operieren nach dem Prinzip der Nutzung.
Wer seinen Focus auf die Nutzung von Sachen richtet, handelt durchaus vernünftig. Es ist vernünftig, das Gesundheitssystem zu schützen. Aber diese Vernunft gegenüber Sachen ersetzt noch nicht die Verantwortung gegenüber den Menschen (Prinzip Verantwortung, Hans Jonas) 

Bei der Grundsteuer gibt es eine besondere Delikatesse. Denn hier soll die Nicht-Nutzung besonders hoch besteuert, sagen wir besser: bestraft werden. Wer sein Grundstück nicht bebaut, zahlt mehr. Das finden viele gerecht, auch der Autor dieser Zeilen neigt instinktiv dazu – und tappt damit in dieselbe Falle: Gezahlt werden soll für „Nichtleistung“, die gekoppelt ist an den Wert einer Sache, die ich mir dann vielleicht nicht mehr leisten kann.

Dass die, die auf dem Grundstück wohnen, sei es als Eigentümer oder als Mieter, die öffentlichen Leistungen, die für das Grundstück wertbestimmend sind, bereits über die Nutzung von Müllentsorgung, Strom, Wasser, Kfz-Steuer bezahlt haben, wird natürlich in dieser Berechnung unterschlagen.

Denken wir das nur nicht weiter: man landet dann wahrscheinlich im Irrenhaus. Maßgeblich ist, dass wir mitten in einem System landen, in dem nicht wir nach unserer Leistungsfähigkeit besteuert werden, sondern nach der Nutzung. Das hat den großen Vorteil, dass Themen wie Produktivität oder Wirtschaftlichkeit vergessen werden können.

Wirtschaftlich ist das, was besteuert werden kann – oder im Fall der Wirtschaft Nutzungsgelder einbringt.

2. Drehen wir am Riesenrad der Zeit

Die mangelnde Nutzung unserer Innenstadt bereitet vor allem dem Einzelhandel sehr viel Kummer. Da hilft auch die Senkung der mächtigsten Gebrauchssteuer, der Mehrwertsteuer, nur wenig. Deren Nutzen, also der Senkung, ist gering. Was man braucht, ist ein Riesending. Und da hat sich Christian Wittel von RT-Aktiv in Absprache mit der Stadt etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Auf dem Marktplatz soll sich zwischen dem 5. September und 3. Oktober ein Riesenrad drehen. Das soll die Massen anlocken – vor allem natürlich die Kinder, die dann gerne bereit sind, den ansonsten eher langweiligen Ausflug in die Stadt mitzumachen. Tolle Idee. Ein weiteres Event, bei dem wir uns vor allem als Verbraucher bewähren können. Denn wir werden dann Geld lassen in der Stadt, der wir uns korrekterweise mit öffentlichen Verkehrsmitteln nähern. Hoffentlich macht das Wetter mit. Coronamäßig dürfte dieses rundum um Abstand bemühte Freizeitgerät auch keine Probleme bereiten. Zur Not muss halt die Maske mit.

Wahrscheinlich fehlt jetzt nur noch das Kleingeld, um den Riesenradbetreiber zu überzeugen. Denn der wird schon darauf achten, dass er auf seine Kosten kommt, wenn die Nutzung zum Beispiel nicht genügend einbringt oder die Preise subventioniert werden müssen, damit die für die neue Grundsteuer schon vorauseilend sparenden Schwaben auch kommen.

Nichts gegen die Idee, die natürlich nur ihren Effekt entfaltet, wenn sie sich auf dem Marktplatz entfaltet und nicht auf dem vielleicht technisch viel besser geeigneten Bürgerpark an der Stadthalle. Dieser Platz ist immer so frei, dass er bei der Festlegung der Grundsteuer eigentlich wegen Nichtnutzung besonders belastet werden müsste. Aber der Platz gehört ja der Stadt – und die ist über alle Steuer erhaben.

Die Frage ist nur: Rettet das Riesenrad die Innenstadt, den Einzelhandel oder gar die Urbanität? Tübingen hat so etwas nicht nötig, da sind die Bürger selbst die Attraktion. Metzingen auch nicht, da ist der Einzelhandel der Publikumsmagnet. Und das in einem globalen Ausmaß. Reutlingen ist da irgendwie anders. Da stimmt weder die Nutzung noch der Nutzen. Dabei versuchen so viele dies zu ändern.

Wittels Bemühen ist rührend. Vor allem weiß man, dass er mit sehr viel Enthusiasmus an seine runde Sache herangehen wird. Er wird’s auch drehen. Aber innerlich hat er, der bestimmt betriebswirtschaftlich bestens ausgebildet ist, einen Ansatz, den er einmal (als es um die Insekten-Messe ging) als „Bespielen der Stadt“ bezeichnete. Dieser Denkungsweise entspricht auch sein Riesenrad. Für vier Wochen, bevor dann im November die Weihnachtssaison beginnt, will er die Stadt bespielen. Und wir, die Einwohner aus Reutlingen und Umgebung, sollen dieses Angebot benutzen. Wir werden es auch tun. Niemand wird sich die Chance entgehen lassen, die Stadt mal nicht nur vom Turm der Marienkirche aus besichtigen zu können, sondern aus einer Gondel, hoch oberhalb unseres weltlichen Herzstücks, dem Marktplatz.  

Das Bespielen einer Stadt ist indes eine ziemlich beliebige Methode – zumal wie zuvor die Dinosaurier oder Insekten auch das Riesenrad nichts Identitätsstiftendes an sich hat. Stopp! Stimmt nicht: Die Bilder, die wir von der Höhe des Riesenrades sehen und mit unseren Smartphones schießen werden, gehören alle ins Museum. Denn sie werden uns ein Reutlingen zeigen, wie es in zehn Jahren nicht mehr geben wird.

Überhaupt müssen wir dieses Reutlingen aus allen Lagen heraus fotografieren. Denn in zehn Jahren wird dies eine ganz andere Stadt sein. Wahrscheinlich werden dann viele der Meinung sein, dass die Bodenwerte neu berechnet werden müssen. 
Es wird nicht die Stadt sein, die das dann will. Überhaupt: die Straßenmaut ist viel attraktiver...

Bildertanz-Quelle:RV

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