1999: »Manche haben unser Geschäftsmodell immer noch nicht verstanden«
Jeff Bezos, Gründer von Amazon, in einer Überschrift der FAZ
Müdes Geschäft
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Weihnachten gibt es nicht wegen des Weihnachtsmarktes. Trotzdem inspiriert kein anderes Fest so sehr das Geschäft in den Innenstädten wie die Geburt Christi. „There is no Jesus like Show-Jesus“, sang vor bald 50 Jahren Lore Lorentz im Düsseldorfer „Kommödchen“. Das war zu einer Zeit, als das Kabarett noch von innen her kam, noch nicht die Wirkung die Ursache bestimmt, die Quote den Inhalt. Heute leben wir im Zeitalter der „Nullmedien“, wie es der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger mal formulierte. Er meinte damit jene Medien, die sich selbst hypnotisieren – und dabei hatte er das Fernsehen im Blick.
Heute schreibt nun der Reutlinger General Anzeiger über „Stadtentwicklung“. Was man darunter zu verstehen hat, macht dann die Redakteurin Gabriele Küster ziemlich deutlich. Es geht um den Einzelhandel, der sich angesichts von Corona und Amazonisierung im Rückwärtsgang befindet. Die Pandemie ist dabei nur ein Brandbeschleuniger für einen Trend der sich über zwanzig Jahre entwickelt hat. Ein Gegenmittel ist niemandem wirklich eingefallen. Man hat immer geglaubt, dass die Wirkung die Ursachen definiert – ein Weihnachtsmarkt, ein Weinfest, ein verkaufsoffenes Wochenende, ein paar Dinosaurier, gefolgt von Riesen-Insekten und nun dem Riesenrad. Abgesehen davon, dass keine der Ideen originär aus Reutlingen kam, sondern alles Nachahmerprojekte waren, hat man im Grunde genommen nicht verstanden, dass der Aggressor wie Amazon & Co. genau umgekehrt vorgegangen sind.
Offen für Startups? |
Die sogenannten Digitalkonzerne haben den Einkaufsprozess von
grundauf verändert – mit einer weltweit spürbaren Wirkung. Sie haben die
gesamten Prozesse im Umgang mit Kunden und Waren von der Produktion bis zur
Auslieferung mit all ihren angeschlossenen Dienstleistungen studiert und dann
in die Netzebene transferiert. Die Effekte, die sie dabei erzielten, haben sie
zu den wertvollsten Unternehmen der Welt gemacht. Amazon funktioniert. Punkt.
Ebay funktioniert. Punkt. Apple funktioniert. Punkt. Sie haben damit unsere
über die vergangenen Jahrzehnte entwickelten (Stadt-)Marketingstrategien
ausgehebelt. Wir haben fassungslos zugeschaut. Wie konnte ein Versandhandel wie
Quelle verschwinden? Hatte der nicht auch alles in der Hand gehabt, was Amazon
dann realisierte? Nicht erst seit den neunziger Jahren, sondern seit den
zwanziger Jahren? Der Quelle-Katalog war das Papernet des Versandhandels. Und
wie war das mit „Kaufhof bietet tausendfach alles unter einem Dach“? Für mich –
ein Kind der Nachkriegszeit – war der Besuch dieses Kaufhauses immer ein
Erlebnis, nicht nur wegen der Rolltreppe.
Nun schreibt der GEA, dass „Ideen für die Innenstadt“ gefragt seien. Und man muss ein wenig warten, bis man die wichtigste Idee präsentiert bekommt: Subventionen. Sie waren schon immer das wichtigste „Nullmedium“ der Politik mit gewaltigen Selbsthypnose-Effekten. Subventionen sind dazu verurteilt, erfolgreich zu sein. Sie sind Ursache und Wirkung in sich selbst. Sie werden verteilt mit dem Ziel, davon noch mehr zu verteilen, indem man zum Beispiel andere Subventionsempfänger anlockt. Startups, die nach einer Idee von Andreas Topp (IHK) in leerstehende Geschäfte einziehen sollen, brauchen Förderprogramme, die in einem nach wie vor unterentwickelten Risikokapital-Land wie Deutschland auch ihre staatliche Rückendeckung haben. Popup-Stores, also Geschäfte, die sich kurzfristig in den Leerstand einmieten und ebenfalls als Idee vorgetragen werden, sind ja nicht gerade der Zukunftsknüller.
Vor acht Jahren hatte ich das Vergnügen, eine Menge Einzelhändler in der Reutlinger Innenstadt kennenzulernen. Es ging damals um die Bildertanz-Ausstellung in den Schaufenstern der Geschäfte. Dahinter stand eine Idee, die originär aus Reutlingen kam, kein Nachahmerprojekt und die gut aufgenommen wurde. Ich bin damals von Geschäft zu Geschäft gelaufen, richtiges Klinkenputzen, habe mit den Geschäftsführern und Inhabern gesprochen, aber auch mit den Mitarbeitern und Dekorateuren. Bei jedem war zu spüren, dass er mit Leib und Seele dabei war, das Emotionale und das Rationale war gleichermaßen präsent. Gute Kaufleute, die – wenn sie nicht zu sehr eingebunden waren in die Werbelogistik einer Kette – gerne mitgemacht haben und sich freuten über die neue Aufmerksamkeit, die ihre Schaufenster bekamen. Leider war ich selbst außerstande, dieses Projekt noch einmal zu wiederholen, obwohl ich dazu ein weiterführendes Konzept entwickelt hatte. Ich war innerlich blockiert, was viele Gründe hatte.
Auf jeden Fall habe ich eines gelernt – und das ist für mich die Ursache der Misere: wir sind alle sehr müde geworden. Es fehlt das Aufweckerlebnis. Das kann man aber nicht kaufen, auch nicht inszenieren. Wir müssen uns aus der Selbsthypnose befreien. Berater helfen da übrigens kaum. Die bieten nur Placebos. Workshops werden auch nichts bringen. Und die Politik erst recht nicht. Da geht es vor allem um die Selbstinszenierung.
Was also kann man tun? Eigentlich gibt es da nur eins: Man muss alles tun, um uns Bürgern die Identifikation mit dieser Stadt zu ermöglichen. Da ist in den vergangen Jahren sehr, sehr viel „verbaut“ worden. Wenn ich zum Beispiel erfahre, dass die Stadthalle nur einmal im Monat von der Württembergischen Philharmonie belegt wird und alle sechs Wochen mal für ein zweites Konzert, dann stimmt das irgendwie traurig. Immerhin stünde das Orchester, was das Einspielergebnis anbelangt, mit an der Spitze in unserem Bundesland. Es ist ein echter Sympathieträger (vielleicht noch mehr als ein Fußballverein).Warum machen wir nicht mehr daraus? Die Philharmonie war doch einer der Gründe, warum der Bau der Stadthalle notwendig war. Corona liefert nun eine wunderbare Gelegenheit, einmal darüber nachzudenken. Da könnte man noch eine Menge herausholen – auch und gerade an Bürgerstolz. So geht es auch mit der „Tonne“ oder dem „Franz K.“
Das Riesenrad – ich habe es zweimal genossen – hatte schon einen erhebenden Effekt, ein persönliches Aufweckerlebnis. Hellwach war ich, als ich über die Dächer der Stadt schweben durfte. Ja, der Blick auf diese Dächer, die so gar nichts Großstadtmäßiges an sich hatten, hat mich sehr überrascht. Diese Stadt ist unverwüstlich, dachte ich. Und das ist sie bestimmt selbst dann, wenn wir uns hier beim Bildertanz mitunter sehr kritisch über diese Stadt äußern. Denn wir tun dies als Bürger dieser Stadt. Es ist also auch Selbstkritik. Als Gegengewicht zur Selbsthypnose, der in dieser Stadt zulange die Herrschenden erlagen. Kritik ist ein Zeichen von echter Vitalität, aus der dann neue Ideen kreiert werden.
Das Riesenrad – sicherlich als ein Instrument der Marketingwirkung gedacht – hat mich zu der Erkenntnis gebracht, dass die Zukunft dieser Stadt einzig und allein in uns selbst liegt. Corona befahl uns, Abstand zu halten. Mir sagt es aber auch etwas ganz anderes: wir müssen wieder enger zusammenrücken unseren Dünkel besiegen. Gegen gesunden Bürgerstolz kommt kein Amazon an. Das ist das Geschäftsmodell, das wir verstehen. Wovor ich wirklich Angst habe, ist indes, dass eines Tages auch Amazon es verstehen wird (und ich glaube sogar, dass die Digitalkonzerne genau daran längst arbeiten).
Dann, gute Nacht, Reutlingen. Also: Wachet auf!
Bildertanz-Quelle:Dimitri Drofitsch (Riesenrad), Raimund Vollmer
9 Kommentare:
Ein wenig mehr Farbe täte Reutlingen gut. Bringet Vielfalt und seiet dankbar für jeden Tag!
Hallo Raimund,
klar sind die Einzelhändler z. T. selber schuld, wenn Sie z.B. ihre Ware nicht auch digital anbieten. Denn hingehen und "hemmerett" zu hören treibt die Kundschaft gleich ins www.
Aber natürlich gilt auch daß "Digitalhändler" alles relativ frei von Beratung, Steuern, Gebühren oder Stellplatznachweisen anbieten können.
Gruß aus Lichtenstein
Michael Staiger
Ja, lieber Michael, jetzt kommen die Chatbots. Mit dem Mann, der sie in den sechziger Jahren erfunden hat, mit Joseph Weizenbaum (Eliza) habe ich mich in den achtziger Jahren ein paarmal unterhalten dürfen. Er war entsetzt darüber, dass Menschen diesen elektronischen Psychiater, den er mehr aus Jux erfunden hat, nutzten, um sich selbst zu therapieren. Das ist für mich dann auch ein "Nullmedium" mit der Technik der "Selbsthypnose". So wird uns über kurz oder lang "Beratung" verkauft werden. Wir beraten uns selbst.
Chatbots & Co braucht doch keiner. Das Einkaufen muss ein Erlebnis sein. Charme, Show & Ambiente sind gefragt. Aldi & Lidl brauchen wir nicht, sondern Einzelhändler mit Charisma & Ideen. Subventionen können nicht schaden, helfen aber auch nicht wirklich weiter...
Hut ab, Herr Vollmer, danke für diesen klugen Artikel. Ja, Subventionen (wenn die Stadt einen Laden mietet, um darin Projekten ein Schaufenster zu bieten) für Popup-Stores, also Läden, die nicht mal bei dem vielen Leerstand es schaffen, einen Laden zu mieten - das kann nicht die Lösung sein.
Der zentrale Satz heißt wohl: "Eigentlich gibt es da nur eins: Man muss alles tun, um uns Bürgern die Identifikation mit dieser Stadt zu ermöglichen. Da ist in den vergangen Jahren sehr, sehr viel „verbaut“ worden."
Identifikation, Identität: da kann man über Philharmonie in der Stadthalle diskutieren. Und da gibt es Dinge, Erscheinungen, Probleme, über die man nicht mehr diskutieren DARF. Wer sich in das Bermuda-Dreieck Bahnhof - ZOB - "Bürgerpark" (hahaha) - Untere Wilhelmstrasse wagt, weiß um was es geht.
Man darf vieles nicht mehr sagen, weil wir ja bunt, weltoffen und wasweißich eben nicht sind, sondern sein sollen. Wieso soll ich mich aber mit etwas identifizieren, was ich nicht bin, was ich auch nicht sein will? Wenn das Eigene plötzlich nicht mehr eigen ist, sondern jetzt allen gehören soll?
Die verlogene Schwörtags-Folklore (gut, dass die WBUG-Professorin mit ihrem Transformations- und Reset-Vortrag Corona zum Opfer gefallen ist) zeigt es doch deutlich: da war die Reichsstadt, in der nur die ansässigen Bürger und Handwerker was zu sagen hatten. Die ihr Eigenes verteidigen durften. In der eben nicht jeder das Bürgerrecht bekam. In der keine EU oder DUH und kein Denkmalamt der Stadt Grenzwerte diktieren oder ein Abrissverbot für die blöde Betonkiste Rathaus verhängen durfte.
Ex-OB Bosch wird am 15. September 2016 im GEA zitiert: "Bosch beschrieb das Wachstum der Stadt um jährlich 1 000 Einwohner, dem die Stadt Rechnung tragen müsse. 94 Prozent der Zuzüge seit 2011 seien Ausländer – als Ergebnis der Freizügigkeit in der EU." Und das soll keinen Einfluss auf die Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt haben? Natürlich hat das einen Einfluss - aber über den darf nicht diskutiert werden.
So geht es im Blindflug abwärts: Redeverbote, Denkverbote, das Framing der Propaganda auch der Stadtverwaltung ("klimagerechter Konzern", "neue Urbanität", "Reutlingen ist bunt und weltoffen", "Integration" usw. usf.)
Natürlich sind nicht "die Ausländer" am Niedergang des Einzelhandels schuld. Aber wenn die Rettung des Einzelhandels nur durch Identifikation mit dem Eigenen kommen kann - ja, dann hätte das Eigene mehr gelten sollen in der Vergangenheit. Und dann müsste man auf das hören, was die "Eigenen" sagen - nicht was Transformations-Professorinnen aus Berlin, Kommissare in Brüssel oder Immer-Noch-Kanzlerinnen aus Südafrika sagen.
Welche "Eigenen" trauen sich noch, das zu sagen, was sie denken=?
Eigenartiger Kommentar - zum Fremdschämen!
Herrn Schrade mangelt es offenbar leider an Respekt! Respekt vor Andersdenken und Andershandelnden. Er will offenbar sein ureigenes Reutlingen. Bleibt die Frage: Warum hat er nicht als OB kandidiert, wenn er alles besser weiß?
Ein dem Bildertanz geneigter Analüst
PS: Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden! Und Denkverbote sind mir nicht bekannt...
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2013-04/afd-mitglieder-portrait/seite-4?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com
Alternativ denken reicht für Reutlingen nicht – wir müssen quer denken!
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