Frage: „Warum müssen Musiker bereits um sechs Uhr aufstehen?“
Antwort: „Weil um halbsieben die Geschäfte schließen.“
SPERRSTUNDE
Guten Morgen, Deutschland!
Bis vor 25 Jahren verstand wohl jeder diesen Witz. Denn da herrschten noch die alten Ladenschlusszeiten. Doch dann – zum 1. November 1996 – kam ein neues Gesetz in Kraft. Jeder Laden durfte fortan von sechs Uhr morgens bis 20 Uhr abends geöffnet sein, Samstag bis 16.00 Uhr. Unsere Geschäfte wären froh, wenn wenigstens das alte Gesetz noch gelten würde. Das stammt aus dem Jahr 1956 und würde demnach jetzt in Rente gehen. Danach tat sich lange nichts. Erst 1989 wurde der Donnerstag bis 20.30 Uhr freigeschaltet.
Das alte Gesetz galt damals als „absolut wirtschaftsfeindlich“ und „eines der schlechtesten Gesetze, die dieser Bundestag verabschiedet hat“. So war es von dem FDP-Politiker Karl Atzenroth beurteilt worden. Als es zur Abstimmung kam, blieben einige der Abgeordneten der Sitzung fern. Die Sperrstunde war von nun an 18.30 Uhr, samstags 14.00 Uhr. Nur am ersten Samstag im Monat durften die Läden bis 18.00 Uhr geöffnet sein. An den vier Adventssamstagen war Sperrstunde erst um 18.00 Uhr. Davor, 1938 verabschiedet, galt eine Regelung, die den Geschäften die Öffnung von sieben bis sieben erlaubte.
Die Verbraucher wurden nicht gefragt, obwohl sie heftig protestierten. In Bayern war es bereits 1953 zu wütenden Protesten gekommen. Es herrschte ein regelrechter „Ladenschlusskrieg“. Die Polizei musste fünf Hundertschaften gegen die Demonstrationen in München einsetzen. Selbst ein Klage vor dem Verfassungsgericht, eingereicht von drei Hausfrauen, wurde einfach zurückgewiesen. Es änderte nichts. Verbände und Gewerkschaften hatten erfolgreiche Lobby-Arbeit betrieben. Und als dann das neue Ladenschlussgesetz in Kraft trat, bemerkte die Tageszeitung „Die Welt“: „Dass die neue Regelung mit Marktwirtschaft immer noch wenig zu tun hat, ist offensichtlich.“[1]
Gerne hat man’s nicht getan. Das Ifo-Institut rechnete mit 50.000 neuen Arbeitsplätzen, die durch die Neuregelung bundesweit entstehen könnten. 20 Milliarden Mark mehr Umsatz würde das Gesetz ermöglichen, berichtet damals die FAZ.[2] Ob’s je nachgerechnet wurde, keine Ahnung. Absprachen zwischen kleineren Einzelhändler waren sogar kartellrechtlich ausnahmsweise erlaubt worden, damit der Bäcker nicht schließt, wenn der Metzger nebenan noch offen hat. Aber die Absprachen müssten unverbindlich sein.
Woher kam dieser Sinneswandel? Bestimmt nicht aus neuem marktwirtschaftlichem Denken. Nein. Es war die böse Konkurrenz. „Der traditionelle Einzelhandel muss sich einem immer härteren Wettbewerb stellen. Die Konkurrenz macht – Nischen und Ausnahmeregeln nutzen – mittlerweile Umsätze in zweistelliger Milliardenhöhe. Tendenz steigend“, schrieb die Hamburger Wochenzeitung ‚Die Zeit‘. [3] Dass Tankstellen nicht mehr vom Zapfhahn leben würden, sondern von ihrem „Shop-Bereich“, war bestimmt ein Teil der Motivation, ihre Betriebe Tag und Nacht geöffnet zu halten. An etwas, was damals eigentlich zumindest in den USA bereits heftigst angegangen wurde, war das E-Business. Vor 25 Jahren, im Mai 1996, wurde Amazon gegründet. Schon 1994 hatte das amerikanische Wirtschaftsmagazin „Fortune“ berichtet, dass die Unternehmen dort mit ihren Angeboten auf 20 Millionen Konsumenten online losgehen würden.[4] Möglich machte dies eine kleine App, die sich Netscape nannte – und eine ganz neue Species krierte: den Browser.
Zum Schluss noch eine kleine Polemik.
Übrigens: Der Browser war keine Erfindung der Marktwirtschaft, sondern ein Studentenwerk an der University of Utah. Und noch etwas: 1996 trafen sich in Brüssel Politiker und Manager, um in einem G7-Gipfel über die „Informationsgesellschaft“ zu quasseln. Das war so etwas von oben herab, dass man sich nicht wundern muss, wenn wir bis heute den Zukunftstrends hinterherlaufen. Aber das will ja keiner hören. Wir feiern uns. Natürlich allein und zuhause. Immerhin herrscht Sperrstunde. Für Läden gefühlte 24 Stunden am Tag, für uns ab 22.00 Uhr.
Gute Nacht, Deutschland!
Raimund Vollmer
[1] Die Welt, 30. Oktober 1996, Michael Machatschke: „Auf zur nächsten Reform“
[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. August 1995: „Ifo-Institut befürwortet großen Spielraum bei den Öffnungszeiten“
[3] Die Zeit, 11. August 1995, Oliver Schumacher: „Punktsieg für Verbraucher“
[4] Fortune, 28. November 1994, Rick Tetzeli: „Electronic storefronts on the Internet“
4 Kommentare:
Wir brauchen keine Querdenker – wir brauchen Vordenker und Nachdenker. Leider sind die selten. Und Zynismus ist keine Medizin...
Viele haben sich im E-Commerce eine blutige geholt, gerade auch scheinbar renommierte IT-Firmen: Pandesic was an Intel-SAP joint venture founded in August 1997 intended to sell software and hardware to support e-commerce. In July 2000, it was shut down after failing to find "a timely road to profitability".
#allesdichtmachen ???
Gute Nacht Reutlingen!
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