Dienstag, 14. Dezember 2021

Kalbfell, das Kriegsende - und kein Ende


Geheimer Chiffern Sendung
Beschäftige die Welt,
Bis endlich jede Wendung
Sich selbst ins Gleiche stellt.

Aus „Geheimschrift“, Johann Wolfgang von Goethe

Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

Dass Reutlingens erster Oberbürgermeister nach dem Krieg, Oskar Kalbfell (1897-1979), keineswegs jene über allem Zweifel erhabene Persönlichkeit war, zu der er sich gerne stilisieren ließ, wussten alle, die ihn näher kannten. Aber die zeitgenössische Geschichtsschreibung findet stets gerne von oben statt – und Jahrzehnte später, wenn es keinen Mut mehr verlangt, wird dann so manches offiziell relativiert. Bei Kalbfell stand besonders die Geiselerschießung im April 1945 im Mittelpunkt. Hatte er die Namen derer, die als Sühne für den angebliche Tötung eines französischen Besatzungssoldaten ihr Leben lassen mussten, selbst verfasst, oder wie waren die Franzosen zu dieser Liste gekommen? Wir wissen es nicht. Der Historiker Gerhard Junger berichtet in seinem Beitrag über das Ende des 2. Weltkriegs im Pfullinger Heimatbuch: „Geiseln mussten gestellt werden. Deren Auswahl blieb dem Bürgermeister überlassen. Jakob Staiger meldete sich freiwillig. Die Geiselstellung dauerte nur wenige Tage. Später sagte man, sie sei durch einen Anschlag auf einen französischen Soldaten in Reutlingen ausgelöst worden.“

Bemerkenswert ist, dass es dieser Jakob Staiger aus Pfullingen war, der dann nicht nachließ, die Rolle Kalbfells zu hinterfragen und den Oberbürgermeister ganz schön in die Bredouille brachte. In Pfullingen hatte also der Bürgermeister entschieden. Sollte es da in Reutlingen anders gewesen sein? Die Franzosen gingen übrigens bei ihrer Reutlinger Strafaktion sehr milde mit der Bevölkerung um. Die Deutschen selbst haben im Rahmen ihrer eigenen Besatzungspolitik für jeden durch Zivilisten getöteten Soldaten zehn Geiseln erschießen lassen. Es gab sogar 1941 den Sühnebefehl von General Wilhelm Keitel, dass auf jeden Soldaten, der aus dem Hinterhalt getötet wurde, zwischen 50 und 100 Zivilisten hingerichtet werden sollten. In Frankreich wurden während der deutschen Besatzung fast 30.000 Geiseln erschossen, hieß es in den Nürnberger Prozessen. Auch wegen dieses Sühnebefehls wurde Keitel schließlich zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Vielleicht war es sogar üblich, dass gleich zu Beginn der französischen Besatzung von den örtlichen Amtsträgern die Erstellung einer solchen Liste potentieller Geiseln gefordert wurde. Verständlich wäre es allemal. Das wäre einer Nachforschung wert.

Im Bericht der französischen Militärverwaltung vom 22. April 1945 steht über Oskar Kalbfell, der kurz nach dem Einmarsch am 20. April 1945 zum kommissarischen Oberbürgermeister ernannt worden war: „Macht einen guten Eindruck, hat sich bereiterklärt, uns zu helfen, hat alle Listen beschafft.“

Liest man nun einen Artikel aus dem ‚Spiegel‘  vom 14. November 1950, so gab es schon damals erhebliche Zweifel an der Integrität dieses Mannes – bei allen Verdiensten für diese Stadt. Immer wieder wurden mir bei meinen Recherchen für den Film „1945“, zu dem ich in den letzten zehn Jahren mehr als 50 Menschen aus unserer Region interviewt habe, kleine Geschichten über Begegnungen mit dem OB erzählt, die mir zumindest ein illustres Bild von diesem Mann vermittelten. In einem Fall musste ich versprechen, das Gespräch erst nach dem Tode meines Zeitzeugens zu veröffentlichen. Es hat aber nichts mit den Geiselerschießungen zu tun.

Warum schreibe ich dies?

Anlass ist die großartige Recherche-Arbeit, die der Historiker Lukas Weyell erbracht hat, indem er interne Militär-Berichte der Franzosen durchforstete, Berichte, die erst seit 2005 zugänglich sind. Sie belegen, was mir meine Zeitzeugen auch immer wieder bestätigt haben: so friedlich ging es damals beim „Umsturz“ keineswegs zu, nachdem Kalbfell genau dies, ein Einmarsch ohne Blutvergießen, bei der Übergabe der Stadt versprochen hatte. Ehrlich gesagt, das hätte niemand den Franzosen versprechen können. Dass er allerdings Schlimmeres verhindert hat, kann man durchaus annehmen. „Die Eroberung Reutlingens war überhaupt nicht friedlich“, sagt Weyell im Interview mit unser aller GEA.

Aber von höchster Stelle herab ins kollektive Gedächtnis eingebrannt wurde die Vorstellung einer friedlichen Eroberung, die es nicht gab. „Kalbfell hat die ‚offizielle‘ Geschichtsschreibung durch Interviews und Veröffentlichungen maßgeblich selbst geprägt“, kommentiert Roland Deigendesch, Leiter des Stadtarchivs, das Interview mit Lucas Weyell. So ist es. Und weil nun – durch Weyells Arbeit - das ein oder andere durch schriftliche Belege auf französischer Seite dokumentiert ist, werden in seinem Kommentar nicht etwa die Aussagen der Zeitzeugen besonders gewürdigt und bestätigt, sondern der Stadtarchivart kommt zu einem ganz anderen Schluss: „Aus Sicht des Historikers wird einmal mehr deutlich, dass es nicht genügt, bloße Informationen oder erinnerte ‚Tatsachen‘ zusammenzutragen.“ Eine seltsame Folgerung, wenn  Augenzeugenberichte nur dann wahr sind, als Tatsachen ohne Anführungsstriche anerkannt werden, wenn dazu amtliche Berichte vorliegen.

Namhafte Historiker wie Johannes Fried sind in letzter Zeit eher den umgekehrten Weg gegangen – beim Blick zum Beispiel auf das Mittelalter. Dokumentiert wurde dort das meiste von Kirchenleuten, die für sich die höchste Autorität beanspruchten. Es könnte auch anders gewesen sein, fragen die Historiker sich und entwickeln – ohne das Privileg zu haben, Augenzeugen befragen zu können – abweichende Szenarien. Weyell hat in seinen Recherchen eine Bestätigung dafür gefunden, was die Augenzeugen berichteten. Deshalb gilt: „Ganz neu geschrieben werden aber muss dieses Kapitel nicht“, schreibt Deigendesch. Eben. Aber das ist nicht das Verdienst von Herrn Kalbfell und seinen „Geschichtsschreibern“. Es ist das Verdienst der Augenzeugen – und mancher tapferer Bürger, die nicht alles so akzeptierten, wie es die Amtsstuben diktierten.

Die Fragezeichen bleiben. Noch ist nicht über aller Gipfel Ruh. Wir leben in einer Demokratie.
 

Bildertanz-Quelle:Familie Bader

5 Kommentare:

hardtraxxx hat gesagt…

Meine damals in Betzingen aufgewachsene und lebende Grosstante hat mir da was ganz anderes erzählt; besonders, was die Auswahl der Geiseln zur Erschiessung angeht.

Ihre beste Freundin war Anneliese Ostertag, Tochter des damals erschossenen Journalisten und Pressemanns, der auf der Liste gestanden hatte.

Demnach istaus einem Brief, den Ostertag noch kurz vor seiner Erschiessung an seine Familie verfassen durfte, klar hervorgegangen, dass Kalbfell ihn ausgewählt habe. So jedenfalls habe das Ostertag in diesem Brief geschrieben.

Betrachtet man die Erschossenen, dann fiel - lt.meiner Grosstante und anderer kundiger Betzinger - auch auf, dass die meisten Männerauf der Liste einen negativen Bezug zu Kalbfell hatten.

Auch meine Grosseltern haben die Erschiessungen als Abrechnung Kalbfells mit den ungeliebten früheren Gegenspielern betrachtet.

Raimund Vollmer hat gesagt…

Danke für diesen Beitrag. Leider ließ sich das ja nie beweisen, aber mit dem Hinweis über Pfullingen habe ich versucht, die Wahrscheinlichkeit Ihrer Aussage ja zu bestätigen. Ich glaube auch, dass es eher so gewesen ist als so, wie es Kalbfell darstellte. Es ist keine schöne Geschichte.

Unknown hat gesagt…


JGuten Tag geehrter Herr jVollmer,

da mit Zeitzeugen ist bei diesem zeitlichen Abstand sehr schwierig. Ein möglicher Zeitzeuge wäre noch Dr. Rudolf Walz, mit dem Sie auch im Bildertan Kontakt hatten. Einen der wenigen Lehrer aus dem List-Gymnasium die ich heute noch (als äusserst erfolgloser Schüler) in bester Erinnerung habe, der hatte (nach seinen Erzählungen, an die ich moch erinnere) als HJ- Angehöriger diese Tage erlebt und war von Kalbfell nach Hause geschickt worden, bevor die Franzosen sich um die Gruppe der HJler "kümmern" konnten.

Ich jGrüsse Sie und schöne Feiertage

H. Rieker

Anonym hat gesagt…

Hallo Geschichtsforscher,

es war im April 45 noch immer Krieg und mit bewaffnetem Widerstand von noch immer in der Stadt und Umgebung vorhandenen Nazigruppen (von der HJ bis zum Volkssturm) musste ständig gerechnet werden.
Hier jetzt so zu tun als ob Kalbfell oder andere Deutsche, die versuchten mit den Franzosen eine friedliches Miteinander aufzubauen als eine Art Kriegsgewinnler darzustellen find ich schon sehr daneben.
Jakob Staiger z. B. nutzte jede noch so irrwitzige Möglichkeit Kalbfell zu desavouieren, weil er es nicht akzeptieren wollte daß Pfullingen - samt dem oberen Echaztal - für die Zeit des Wiederaufbaus nach Reutlingen eingemeindet und zur Mithilfe beim Wiederraufbau verpflichtet wurde.
Es ging der von den Franzosen ernannten und unterstellten Stadtverwaltung mit Kalbfell an der Spitze einfach darum daß schnellst möglichst mit Helfern aus allen Gemeinden z. B. die Bahnlinie von Plochingen nach Tübingen wieder in Betrieb ging. Die Wehrmacht hatte ja alle Brücken zerstört, teils wurden diese Sprengungen mit Geiselnahmen in der Bevölkerung abgesichert. Nur mit der Bahn konnten aber ausreichende Mengen an lebensnotwendigem herangeführt werden.
Kalbfell und die Männer um ihn organisierten nach dem Umsturz den schnellstmöglichen Wiederaufbau indem alle Arbeitslosen, deren Arbeitsplatz vernichtet war und nicht dort oder beim Wiederaufbau ihrer eigenen Wohnung eingesetzt waren, zum Wiederaufbau der Infrastruktur verpflichtet wurden. Dieser Zwang, Lebensmittelmarken gabs nur gegen Arbeitseinsatz, erzeugte natürlich auch viel böses Blut, weil ja nicht jeder diese Vorgehensweise hinnehmen wollte.
Hatte selber genügend Verwandtschaft die das alles miterlebten, mein Großvater war Maurermeister beim Bauhof und war nach dem Krieg auf vielen Baustellen tätig. Ein lieber Freund war gerade ausgelernter Eisenbahner und half damals beim Brückenbau mit.
Alle sagten daß dieses gezielte Vorgehen des Wiederaufbaus eines der beiden Gleise der Bahnlinie erst eine einigermaßen erfolgreiche Versorgung der Bevölkerung ermöglichte.
Das geschah übrigens gegen den Willen der Bahnverwaltung, die sah da viele Paragraphen verletzt durch diese "illegale Bauausführung".
Sich gegen solche Widerstände durchzusetzen ging m. E. nicht ohne Verletzung irgendwelcher Rechtsvorschriften aus Friedenszeiten. Kalbfell hat hier natürlich "durchregiert" um möglichst schnell das Notwendigste wieder ans Laufen zu bekommen.
Ob er die Liste der Geiseln für den vermuteten tödlichen Anschlag auf einen französischen Soldaten erstellt hatte konnte ja bisher noch nicht bewiesen werden. Da die Franzosen aber gesichert diese Liste verlangten oder eben alternativ "irgendwelche" Geiseln selbst bestimmt hätten, hat Kalbfell als oberster Verantwortlicher sicherlich die Auswahl lieber selber vorgenommen, als das einem seiner Mitarbeiter aufzuhalsen. Er hatte ja alle gekannt die sich im III. Reich in Reutlingen hervortaten.

Gruß
Michael Staiger

Raimund Vollmer hat gesagt…

Lieber Michael, niemand bezweifelt, dass sich Kalbfell um den Wiederaufbau der Stadt sehr verdient gemacht hat. Nichtsdestotrotz war er eine umstrittene Figur. Nur gerichtlich hat die Familie Sauer aus Betzingen durchsetzen können, dass sie ihr von Kalbfell konfisziertes Dienst-Auto wieder zurückbekam. Manches ist mir bei den Recherchen für meinen Film 1945 zugetragen worden, was ich nicht veröffentlichen kann (auch weil versprochen). Der Philosoph Jürgen Habermas hat ja nicht zu Unrecht davon gesprochen, dass unser Weg in die Demokratie nach dem Krieg gespickt war mit Lebenslügen - und in diesem Horizont sollten wir manches betrachten, ohne die Menschen (unsere Väter und Großväter zu verurteilen). Das hat aber nichts damit zu tun, dass die Politiker von damals in der Tat sehr beherzt ihre Aufgaben angegangen sind - und dies auch in der Geschichtsschreibung seinen opulenten Niederschlag gefunden hat. Danke für Deinen Kommentar, aber als Kriegsgewinnler habe ich Kalbfell überhaupt nicht dargestellt und schon gar nicht beabsichtigt, aber aus ihm eine Legende zu machen war auch nicht meine Intention.