Freitag, 10. Oktober 2014

Was würde Goethe zu unserer Stadthalle sagen...

Und was würde der Dichterfürst zu der Frage sagen: Ist die Kunst (und damit letztlich die Kultur) bald nur noch ein Wanderer zwischen Pädagogik und Kommerz?

Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer



»Sehr merkwürdig ist mir aufgefallen, wie es eigentlich mit dem Publiko einer großen Stadt beschaffen ist. Es lebt in einem beständigen Taumel von Erwerben und Verzehren, und das, was wir Stimmung nennen, lässt sich weder hervorbringen noch mitteilen, alle Vergnügungen, selbst das Theater, sollen nur zerstreuen, und die große Neigung des lesenden Publikums zu Journalen und Romanen entsteht eben daher, weil jene immer und diese meist Zerstreuung in der Zerstreuung bringen.«

Johann Wolfgang von Goethe an Friedrich Schiller in seinem Brief vom 9. August 1797

Während der von uns allen geschätzte GEA heute verkündet, dass er sich in einer zweiten Publikationsreihe weiterhin mit der Zukunft der Dörfer beschäftigen will, sollten wir uns nicht minder, vielleicht sogar mehr, ernsthafte Sorgen um die Zukunft der Städte machen - um Städte wie zum Beispiel Reutlingen. Was Goethe vor mehr als 200 Jahren über Frankfurt schrieb, könnte man heute ebenso gelten lassen. Die Angebote des Stadtmarketings dienen vor allem der Zerstreuung und dem "Taumel von Erwerben und Verzehren". Und sieht man sich an, wie solche Aktionen vom Stadtfest bis hin zu den Langen Nächten oder den diversen Schlemmerfesten bei den Menschen ankommen, dann liegen die Veranstalter mit ihren Angeboten vollkommen richtig. Und auch wir, die wir hier im Bildertanz publizieren, müssen uns fragen, ob wir nicht dasselbe tun, wie die von Goethe angeführten Journale, die "Zerstreuung in der Zerstreuung" bringen. 
Ja, und dann steht da unsere Stadthalle. Einsam wirkt sie. Und irgendwie auch verlassen. Ist sie ein Kulturtempel? Schaut man sich die aktuellen Angebote an, dann sagt man sich, von den 15 Veranstaltungen pro Monat, sind die eine Hälfte Kultur, die andere "Zerstreuung". Und der Kulturteil wird im Wesentlichen von der Philharmonie bestritten, einer - wie wohl alle Orchester dieses Kalibers - hochsubventionierten Einrichtung,
Wie ein Fremdkörper wirkt die Stadthalle, die im Januar zwei Jahre alt wird, nach wie vor. Wir  haben sie noch nicht integriert (oder besser: inkludiert) in unseren "beständigen Taumel von Erwerben und Verzehren". Aber genau das wird auf Dauer mit ihr geschehen. Heute würde man  natürlich statt vom Taumel des Erwerbens und Verzehrens von der Totalkommerzialisierung der Stadthalle sprechen. Wenn sie sich dadurch auchnoch total selbstfinanziert, so wird der sparsame Schwabe sagen, dann ist alles in Ordnung. 
Deshalb wird der Vorplatz, der ja von Max Dudler geschaffen wurde, um Distanz zu dieser Welt des Taumels zu erzeugen, über kurz oder lang den kommerziellen Interessen geopfert werden. Erste Tendenzen haben wir ja schon erlebt. Das Programm der Stadthalle selbst - sagen wir es brutal - wird irgendwann auch auf dem Ramschtisch der Zerstreuung landen. 
Ist das schlimm? Und wenn ja ist dies die Schuld der Vermarkter, seien es nun die, die Stadthalle "vermarkten" oder die, die dies gleich mit der gesamten Stadt tun? Ihnen kann man wahrscheinlich die wenigste Schuld geben, allenfalls am bequemsten. Denn die eigentliche Frage müssen sich die, die für die Kultur, in der Kultur, mit der Kultur und überhaupt Kultur schaffen, beantworten. Das wäre ein brennendes Thema. Ob es wohl am 23. Oktober aufgegriffen wird, wenn sich die Kulturschaffenden zum nächsten Runden Tisch treffen? Das Thema lautet "Ansätze und Konzepte für kulturelle Bildung in Baden-Württemberg". "Kulturelle Bildung" - das klingt nach einer anderen Form der Vereinnahmung, nämlich nach der durch die Pädagogik. Wir werden sehen. Ich habe mir jedenfalls diesen Termin vorgemerkt.
Raimund Vollmer

Übrigens: Ein lieber Freund schickt uns aus der Fremde, aus Lübeck, einen Hinweis über eine bittersüße Liebeserklärung an Reutlingen. HIER IST DER LINK - und als jemand, der hier in Reutlingen lebt, sollte man stolz sein auf jemanden, der aus Reutlingen kommt - und so wunderbar schreibt. (Das ist Kultur ohne Pädagogik)

1 Kommentar:

Unknown hat gesagt…

Hallo Raimund, vielen Dank für den Link! Ich habe noch nie einen so einfühlsamen Text über unsere Heimatstadt gelesen.
Der Mann spricht mir aus der Seele...