Dienstag, 20. Januar 2015

Aus den Erinnerungen meines Urgroßvaters ...


Foto: Reutlinger Geschichtsblätter, Jg. 1978, Nr. 16 (NF), S. 77

Als zu Beginn des Kriegs (von 1914) die sog. Polizeistunde eingeführt wurde, behandelten unsere Richter das als ein Gesetz nicht gegen die Gäste, sondern gegen die Wirte. Diese wurden verantwortlich dafür gemacht, dass mit dem Schlag 11 Uhr ihre Lokale geräumt waren: sie sollten das Licht auslöschen, die Hausknechte auf die Gäste hetzen, die Stühle auf die Tische stellen und wenn vom Polizeisoldaten erspäht wurde, dass noch ein Gast um 11 Uhr 2 im Lokal war, so wurde der Wirt empfindlich bestraft.
Wie ganz anders in meiner Jugend, da erschien am 101/4 Uhr der Nachtwächter im Lokal und schrieb die noch anwesenden  Gäste auf und diese mussten einen Thaler zahlen. Ein Urteil des Reichsgerichts hat dann jener unseligen Praxis ein Ende gemacht. Es lebt da eine Erinnerung in mir auf aus meiner Reutlinger Zeit (um 1865), als ich jene heitere Gesellschaft meines Onkels Adolf im "Paradies" so häufig besuchte, kam auch einmal der Polizeidiener herein. Unter den verspäteten Gästen war der Amtmann Kurz, nachmals stellvertretender Amtmann in Ulm, ein besonders dauerhafter Zecher. Der versteckte sich rasch unter dem Tisch, der Polizist notierte die Namen der sichtbaren Schuldigen und als er damit fertig war, griff der Präzeptor Backmeister, der bekannte Germanist, unter den Tisch und rief mit lauter Stimme, da sei noch einer und unter großem Gelächter der wilden Gesellschaft rappelte sich Kurz empor. Auch er, der Vorgesetzte des Polizisten, wurde aufgeschrieben und entging der Strafe nicht. 
Quelle: Karl Schefold, Erinnerungen, Ulm um 1920
Karl Schefold war später (von 1869 bis zu seiner Einberufung wg. des Krieges von 1870/71) Amtsrichter in Reutlingen.
Mehr zum "Paradies" folgt ...

2 Kommentare:

Raimund Vollmer hat gesagt…

Was für eine schöne Geschichte!!!

Anonym hat gesagt…

Da herschte noch Zucht und Ordnung. Heute herscht nur noch Saddam und Camorra