Sonntag, 15. Februar 2015

Reutlingen im Jahr 2040: Ein Faschingsumzug (2)

DIE STADTHALLE IST EIN RAUM-SCHIFF
 Die Grüne Hölle und die braune Halle - ein Bild aus der Zukunft...


Zuerst einmal die gute Nachricht: die Stadthalle steht auch in 25 Jahren noch. Immer noch stehen wir staunend davor und können es nicht fassen, dass man seinerzeit so etwas bauen konnte. Gut, dass es den Natur- und Denkmalschutz gibt, der dieses Musen-Mausoleum fünf Jahren zuvor vor dem Abriss gerettet hatte. Denn im Jahr 2035 hatte es einen Bürgerentscheid gegeben mit dem Ziel, die "Schokoschachtel" abzureißen. Es war ein harter Kampf gewesen, den der Bundesgerichtshof zugunsten der Bürgerinitiative "Stadthalle ist alle" entschieden hatte.
Vor dem Bau der Halle hatte es bereits einen Bürgerentscheid gegeben, der mit guter Mehrheit die Planung eines Kulturtempels befürwortet hatte. Diese Chance wollten die Bürger der Stadt geben. Prompt machten sich Verwaltung und Architekten, begleitet von Gutachtern und anderen Experten, an das, was sie am besten können: an die Planung. Und - hastesnichtgesehen - war die Halle fertig.
Dass man den Bürgern einen weiteren Bürgerentscheid versprochen hatte, war einfach übergangen worden. Denn - so war vereinbart - nach der Planung sollten die Bürger per Bürgerentscheid (also geheim und in bewusster Wahl) befinden, ob das, was geplant war, nun auch gebaut werden durfte. Doch diese Abstimmung hatte es nie gegeben, nur eine Bürgerbefragung, die - so hatte der Bundesgerichtshof 2035 entschieden - zu wenig war, um Volkes Willen auszudrücken.
Zum Glück hatte man das schmucke Gebäude unter Denkmalschutz gestellt. Da inzwischen hoch- und dichtgewachsene japanische Schnurbäume die Sicht auf die Halle viel besser versperrten als jener Stummelsteg, an den sich ältere Bürger ungern erinnerten, hatte man irgendwie seinen Frieden mit der Halle gemacht. Man musste ja nicht hingucken - und wenn doch, dann sah man nichts als grüne Hölle statt brauner Halle. Zudem standen die Bäume nun unter Naturschutz, was den Technischen Betrieben ziemlich viel Arbeit machte, aber ohne die Bäume zu fällen, konnte man die Halle auch nicht abreißen. Denkmalschutz und Naturschutz bildeten eine perfekte Allianz gegen irgendwelche Bürgeransinnen - und sogar gegen den Bundesgerichtshof, der auch zugeben musste, dass er gegen die Verwaltung einfach nicht mehr ankam.
Aber es war noch etwas ganz anderes, was die Stadthölle rettete, die künstlerisch völlig verkommen war. Nur die Württembergische Philharmonie hatte über die Jahre hinweg ihr Niveau gehalten. Nun zeigte es sich, wie gestählt sie aus dem jahrzehntelangen Kampf gegen die Akustik der alten Listenhalle hervorgegangen war. Die Philharmonie konnte durch nichts mehr zerstört werden. Das war leider nicht genug.
Nach Jahren des Defizits, die die Verschuldung der Stadt von einem Rekord zum anderen trieben, hatte man endlich einen privaten Investor gefunden, der das gesamte Areal übernommen hatte - zum Einstandspreis von 50 Millionen Gold-Euros, der härtesten Währung der Welt.
Jetzt geschah ein Wunder, das Reutlingen zwischen 2035 und 2040 zu einer der reichsten Städte Europas machte. Eine Tochter der Stadt, Schülerin des Listgymnasiums, hatte als hochdekorierte und multidoktorierte Physikerin in ihrem Privatlabor eine sensationelle Entdeckung gemacht und in eine patentierte Erfindung umgesetzt.
Es war ihr - sie hieß übrigens tatsächlich Teresa Bunsemann - gelungen, ein supraleitendes Gas zu entwickeln, das die Schwerkraft aufhob und einen Raum in ein Aquarium verwandelte. Man konnte darin atmen wie ein Fisch im Wasser, also ganz natürlich, aber ohne Kiemen, und gleichzeitig durch dieses völlig unsichtbare und auch geruchsfreie Gas schweben. In den Schwingungen der Musik. Graziös, aber auch urgewaltig.
Teresa hatte dieses Patent an Investoren freigegeben unter der Bedingung, dass diese damit die Stadthalle ausstatten würden und dieser für zehn Jahre die Exklusivrechte gehören würden. So war die Stadthalle, die mit ihrer pueblo-artigen Bauweise den Projektbedingungen entgegenkam, umgebaut worden. Die Künstler schwebten durch den Raum, gesteuert von perfekt durchorchestrierten Choreographien, während die Zuschauer im Parkett der Halle in schalenförmig ausgepolsterten Liegesitzen lagen. So hatte noch nie jemand "Freude schöner Götterfunken" gehört. Es war Musik von einem anderen Stern - und die Stadthalle avancierte zu einem Raum-Schiff durch den Hyperspace der großartigsten Kompositionen.
Die besten Künstler der Welt bewarben sich nun um einen Platz im Orchester der Württembergischen Philharmonie. Sie waren bereit, die fünfte oder sechste Geige zu spielen - nur um dabei zu sein.
Gespielt wurde inzwischen in sechs Schichten. Aus aller Welt kamen die Konzertgäste. Reutlingen war plötzlich internationaler als Metzingen. Gigantische Summen flossen in die Kassen der Stadt, die allerdings das Geld auf die hohe Kante legte. Denn sie wusste, dass die Stadthalle im Jahr 2045 die Exklusivität verlieren würde. Dann konnte jeder Veranstalter das Patent erwerben. Aber noch waren fünf Jahre Zeit - und Reutlingen fühlte sich erstmals wirklich an wie eine Großstadt.
Ach ja, eine schlechte Nachricht gibt es auch: Die Bürgerinitiative "Halle ist alle" hat sich heute aufgelöst. Raimund Vollmer
Bildertanz-Quelle: Raimund Vollmer

Nachtrag: Offensichtlich war uns nie ein zweiter Bürgerentscheid von der Stadtverwaltung versprochen worden, den hatten u.a. die Grünen gefordert. Stattdessen hatt die Stadt eine Bürgerbefragung angekündigt. Diese wurde dann allerdings nicht erbracht, sondern vom GEA - in eigener Initiative. Ein Bürgerentscheid wäre rechtlich verbindlich gewesen, eine Bürgerbefragung nicht. Roland Hauser vom GEA hat mich darauf hingewiesen, dass Barbara Bosch nie einen Bürgerentscheid versprochen habe. Danke. RV

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