Oder: Reutlingens neue Stadtmauern
Eine unzeitgemäße Betrachtung zu unserer Stadt - Von Raimund Vollmer
Noch vor wenigen Wochen erzeugte das Thema
"Auskreisung" an den Stammtischen Reutlingens und Umgebung nur ein
müdes Lächeln. Nach zwei Minuten war zu diesem Punkt alles gesagt. "Kompletter
Blödsinn", "Quatsch", "hirnrissig", "absurd"
und ähnliche unwidersprochene Begriffe beendeten jede Diskussion. Inzwischen
jedoch wühlt das Thema "Auskreisung" die Gemüter mächtig auf. Es ist
nicht so, dass sich die gefühlte Zahl derjenigen, die für die Auskreisung sind,
irgendwie erhöht hat. Aber jetzt wird leidenschaftlich diskutiert. Das füllt
die Stammtischabende. Oberbürgermeisterin Barbara Bosch hat es geschafft, dass
wir uns endlich einmal ganzheitlich mit der Zukunft unserer Stadt beschäftigen.
Frau Bosch plant die Revolution von oben. Egal, ob sie uns nun gefällt oder
nicht, überfällig ist sie allemal.
40 Jahre nach dem Ende der Gebiets- und Verwaltungsreform
ist es dringend erforderlich, dass mal wieder alle Themen, die mit den vollzogenen
Eingemeindungen und Neuordnungen der Kreise verdrängt wurden, aufs Tableau
kommen. Insofern hat unsere Oberbürgermeisterin mit ihrem Wunsch nach
Auskreisung die Büchse der Pandora geöffnet. Dabei ist die Auskreisung selbst nur
der Anlass, aber nicht der Grund dafür, dass es demnächst in unserer Stadt
heftige, deftige, mächtige Diskussionen und Debatten geben wird.
Wahrscheinlich wird der Stadtrat den entsprechenden Antrag
mehrheitlich unterstützen. Ob dann die übergeordneten Gremien im Land dem Ansinnen
ihren Segen geben werden, ist nicht unbedingt gesichert. Sie werden sich
natürlich dreimal überlegen, ob sie der Präsidentin des baden-württembergischen
Städtetages den Herzenswunsch versagen wollen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es
zur Auskreisung kommt, ist also ziemlich hoch. So ist das in einem Land, in dem
die Revolution immer von oben kommt.
Wenn sie aber dann unten gelandet ist, also bei uns, den
Bürgern, dann kann es durchaus sein, dass "die da oben" anfangen,
sich sehr zu wundern. Die Revolution frisst ihre Eltern. Die Stadtverwaltung,
die im begründeten Verdacht steht, sich stets selbst als Orientierung zu
genügen, wird sich plötzlich mit voller Wucht einer Argumentation ausgesetzt
sehen, auf die sie nicht vorbereitet ist. In den Bezirksgemeinden wird
inzwischen ziemlich offen das Thema Ausgründung diskutiert. Das Studium von
vergessenen und vergrabenen Eingemeindungsverträgen erlebt vor allem im
Nordraum Hochkonjunktur, die Erschließung von Industrie- und Gewerbegebieten,
die diese Stadt dringend braucht, wird auf einmal in den Ortschaftsgremien als
politische Waffe gesehen. Das Schulwesen in den Bezirksgemeinden gewinnt eine
Priorität, die endlich auch einmal über die Essensversorgung hinausgeht. Wir
werden sehen, wie in den nächsten Monaten immer mehr Themen die Stammtische
erobern, Und nichts kann dieser im Kern viel zu verschlafenen Stadt Besseres
passieren als genau das. Reutlingen erwacht.
Aber Reutlingen erwacht vom Rande her. In gewisser Weise
wird Reutlingen nicht ausgekreist, sondern eingekreist. Thematisch und
klimatisch. Die engagiertesten Reutlinger, die, die auch zu jeder Wahl gehen
und das Gemeinwesen hochhalten, wohnen in den sogenannten Außenbezirken, in den
Dörfern, in den Teilgemeinden, die vor 40 Jahren dazugekommen sind.
Hier fragen sich nun die Bürger, deren Wohnorte dereinst
eingemeindet wurden, was eine Auskreisung ihnen bringen würde. Sie fragen sich,
was brachte die Eingemeindung. Damals wurde gesagt, dass keine Gemeinde unter
5.000 Einwohner überlebensfähig sei. Wegen der Verwaltungskosten. Wegen des Aufwandes
für Infrastruktur. Wegen der Konkurrenz um Gewerbeansiedlung. Wegen der
Schulen. Und wenn sich die Gemeinden nicht freiwillig neu binden würden, dann
würde dies am Ende der Gesetzgeber regeln. So drohte ziemliuch unverhohlen die
Regierung (und nicht der Landtag). Kurzum: Es war eine Revolution von oben.
Am Ende kam es zu einer Neuordnung, die aus der Sicht
mancher Dorfgemeinde einem Angebot folgte, das man nicht ausschlagen konnte. Auf
jeden Fall wurde im Laufe der Jahre niemals nachgewiesen, dass eine
Eingemeindung tatsächlich wirtschaftlicher war als ein Verbleib in der
Selbständigkeit. Die sogenannten vorausberechneten Synergie-Effekte werden auch
bei Fusionen in der Wirtschaft nie wirklich nachberechnet. Ehrlicherweise muss
man ja auch zugeben, dass stets so viele Variablen im Spiel sind, dass man sie
zwar vorausberechnen (also schätzen) kann, aber niemals nachberechnen.
So wird es auch bei der Gewinn- und Verlustrechnung einer
Auskreisung sein. Da wird gerechnet, dass sich die Balken biegen. In die eine
Richtung ebenso wie in die andere. Und jeder hat recht. Am Ende kommt es darauf
an, wer die Macht hat. Es ist anzunehmen, dass Frau Bosch es ist, die sie
besitzt.
Aber die Abgrenzung nach außen führt unweigerlich zur Frage
nach der inneren Befindlichkeit. Und da wird es erst richtig spannend. Über den
Auskreisungsantrag können die Damen und
Herren des Ratssaals in den nächsten Tagen ruhig entscheiden. Ohne ihre OB
massiv zu schädigen, werden sie nicht nein sagen können. Der Antrag kommt.
Eine Auskreisung ist eine deutliche Grenzziehung. Es ist
eine Grenzziehung zwischen Stadt und Land. Frau Bosch will Stadt. Sie will die
Urbanisierung. Sie will die Verdichtung. Das war auch die politische Absicht,
die in den siebziger Jahren mit den Eingemeindungen verfolgt wurde. Das
Argument muss damals so gut gewesen sein, dass sich die Landesregierung, die
zuvor noch andere, eher dörflich strukturierte Zusammenschlüsse vor allem im Nordraum
favorisiert hatte, entschloss, den Empfehlungen der Reutlinger Stadtregierung
zu folgen.
Es war kein Argument, dass offen zutage kam. Es wurde eher
hinter vorgehaltener Hand vorgebracht. Eine Stadt ist eine eigene Wirklichkeit.
Sie ist sich selbst genug. Das gilt umso mehr, je weniger unser Leben als
Bürger abhängig ist von der Urproduktion, also der Landwirtschaft. In den
siebziger Jahren war deutlich zu spüren, dass künftig noch nicht einmal mehr
der sekundäre Sektor, also die Industrie, die Gestaltungsebene einer Stadt sein
würde. Dienstleistung, der tertiäre Sektor, würde die Wirklichkeitsebene einer
Stadt prägen - bis in alle Lebensverhältnisse hinein.
Was immer der Grund gewesen sein mag, wer immer hier das
Machtwort gesprochen haben muss, ob es eine gesetzliche Vorgabe dafür gab oder
nicht, kann der Verfasser seinen Quellen nicht entnehmen. Auf jeden Fall ist es
bis heute zwingend, dass Reutlingen sich dafür entschied, die Teilorte durch
Grünzonen voneinander getrennt zu halten. Möglicherweise war das ein Tribut, den
Kalbfell und Guhl, damals die obersten Herren der Stadt, dafür zu zahlen
hatten, dass sie sich die bis dahin selbständigen Dörfer einverleiben konnten.
Dabei waren sie ganz besonders an dem Nordraum interessiert. Denn er war und
ist bis heute der einzige echte, natürliche Entwicklungsraum der Stadt. Das
wird bei der Neuordnung des Flächennutzungsplan nur allzu klar, selbst wenn die
Stadt in ihrem erweiterten Kerngebiet noch manche Brache nutzen könnte.Auf Dauer werden im Laufe dieses Jahrhunderts die Unterschiede zwischen Stadt und Dorf innerhalb der Kommune verschwinden. Überall ist Stadt. Aber wie sieht diese Stadt aus? Das muss uns brennend interessieren. Ja, das muss äußerste Priorität bekommen.
Auf Dauer hat Reutlingen nur eine Zukunft, wenn sie die
Verdichtung mehr oder minder gleichmäßig verteilt, wenn die Konturen zwischen
den Ortschaften verschwinden. Das ist der Megatrend, der nicht nur in
Reutlingen sichtbar wird. Mit der Auskreisung will Frau Bosch das Ausfransen an
den Rändern eindämmen, die Kumpanei mit den Nachbarn, die Vereinnahmung durch
Lebenswelten, die nicht städtisch sind. Sie baut eine neue Stadtmauer. Wie im
Mittelalter. Sie ist diesmal allerdings nicht aus Ziegel und Mörtel, sondern
aus Bytes & Style, also virtuell. Es entsteht etwas ganz anderes.
In den Dörfern des Nordraums spüren nun die Bürger, dass es
genau darum geht - um die Verstädterung. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass
junge Leute und junge Firmen und junge
Ideen hierherkommen. Junge Leute wollen keine Autos mehr besitzen. Deswegen
sind sie noch keine "Grünen". Für sie ist es so sinnlos wie der
Erwerb eines Flugzeuges oder eines ICEs. Das Auto ist für sie ein Verkehrsmittel,
das sie benutzen, um so ihren Geschäften nachgehen zu können. Sie brauchen
hochverdichteten Nahverkehrsangebote. Punkt. Sie wollen schnelle Datenleitungen
ohne Funkloch. Punkt. Sie wollen leben, wo sie arbeiten. Punkt. Sie wollen
Dienstleistung rund um die Uhr. Punkt. Es ist die Stadt von 24/7. Sie wollen
New York, die Stadt, die niemals schläft.
Unsere Welt verändert sich, wie wir gerade im BILDERTANZ
immer wieder mit viel Wehmut bei unseren Bildvergleichen feststellen können, in
eine neue Wirklichkeitsebene hinein.
Es ist an der Zeit, dass wir uns dringend, sehr dringend
sogar, mit dieser neuen Wirklichkeitsebene beschäftigen. Wir können deren
Gestaltung auch der Stadtverwaltung überlassen - wie den Bürgerpark. Dann
allerdings haben wir nichts besseres verdient...
Weitere Unzeitgemäße Betrachtungen von Raimund Vollmer
Stadt im Widerspruch (2): Stadt ohne Bürger (2/2018
Stadt im Widerspruch (1): Stadt der Solitäre (1/2018)
SERIE: STADT DER ZUKUNFT
TEIL I Einführung
TEIL II Kampf gegen die Parkplätze
TEIL III: Schadstoffe: Insel der Seligen - Nur Reutlingen nicht?
TEIL IV: Autonomes Fahren: Wohin steuert Reutlingen?
TEIL V: Elektro-Autos - Wann laden wir endlich Zukunft?
Das Beispiel Altenburg - Die Degradierung der "Stadtbezirke"
Wittumhalle & Auskreisung: Ein schwäbischer Abend mit Herrn ReumannStadthalle & Auskreisung: Ein schwäbischer Abend mit Frau Bosch
Die Stadthalle -Unzeitgemäße Betrachtungen zu einem Jahrhundertprojekt
1 Kommentar:
Bin so froh, daß ich aus RT ausgewandert bin aufs Land.
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