Mittwoch, 18. November 2015

DER ZUKUNFTSSCHOCK

Die Kleinstadt Reutlingen und die große, weite Welt



Text und Bilder von Raimund Vollmer
(Kommentar) Mit seinen 110.000 Einwohnern ist Reutlingen als Großstadt im Vergleich zu den weltweit 500 Metropolen mit mehr als einer Million Menschen ein Winzling. Und bei aller Kritik an der Stadt, ihren Räten und Bürgermeistern, ihrer Verwaltung und Institutionen, sollten wir daran denken, auf welch hohem Niveau wir jammern dürfen. Denn Größe allein ist kein Beweis für höheren Lebensstandard oder mehr Lebensqualität. Und beides - so müssen wir zugestehen - genießen wir in Reutlingen zur Genüge.


Was aber ist unsere Zukunft? Was ist überhaupt los mit der Entwicklung unserer Städte? Die ersten Städte entstanden 2000 Jahre vor Christus genau in der Region, aus der momentan die Flüchtlinge nach Deutschland und auch nach Reutlingen kommen. Ausgerechnet dort, von wo diese neue Völkerwanderung ausgeht, war der Mensch erstmals sesshaft geworden. Ackerbau und Viehzucht hatten es möglich gemacht. Für den Zukunftsforscher Alvin Toffler war dies der "erste große Bruch", wie er 1970 in seinem Bestseller "Der Zukunftsschock" schrieb. Was sich nun vor unseren Augen abspiele, sei "nichts weniger als die zweite große Trennungslinie der Menschheitsgeschichte", meinte der Amerikaner. Jetzt befänden wir uns in einer Epoche, die "weit umfassender, tiefgreifender und bedeutsamer sei als eine industrielle Revolution". Alles verändere sich nicht nur viel zu schnell, sondern obendrein mit steigender Geschwindigkeit.



In der Tat: im Jahr 1800 lebten erst drei Prozent der Menschen in Städten. Doch dann - und davon kündet auch die Geschichte der Stadt Reutlingen, die damals ihren Status als Reichsstadt verlor - explodierte geradezu das Bevölkerungswachstum in den Städten. Es war die Industrielle Revolution, die im späten 18. Jahrhundert in England mit der Erfindung der Dampfmaschine ihren Anfang nahm. Sie machte zwar das Leben in den Städten zunächst einmal nicht leichter, aber die Industrielle Revolution schuf jede Menge Jobs - so viele bei so schlechter Entlohnung, dass um 1850 neunjährige Kinder zwölf Stunden und mehr am Tag arbeiten mussten, um überleben zu können.



Schon um 1900 hausten 13 Prozent der Menschen in Städten, doch nur die Reichen genossen das Stadtleben, für die meisten war es ein Leben in Elend. Dennoch nahm die Entwicklung richtig Fahrt auf. Heute lebt mehr als die Hälfte der Erdbevölkerung in einem urbanen Umfeld. Es geht den Städtern in der Regel nicht schlecht. Ihre Anziehungskraft ist ungebrochen. In 15 Jahren - so meinen die Vereinten Nationen - werden fünf Milliarden Menschen "verstädtert" sein.
Zu verdanken haben sie dies vor allem dem technischen Fortschritt.



Schon stehen wir an dem Punkt, an dem es weltweit 500 Städte gibt, die mehr als eine Million Einwohner zählen, davon werden 20 Städte sogar mehr als 20 Millionen Bürger besitzen. 1950 waren es nur New York und Tokio, die dies von sich behaupten konnten. Die neue Konkurrenz entsteht derweil nicht in den reichen Ländern der Welt, sondern eher in den armen Regionen mit einem geradezu exorbitanten Bevölkerungswachstum. Das gilt ganz besonders für Afrika.



Es entwickeln sich Städte, die wie ihre historischen Vorgänger unter Slums und Ghettos leiden, in denen das Leben mitunter unerträglich ist, in denen die Planer mit dem Wachstum nicht Schritt halten, in denen übergroße Armut herrscht und es nur wenig Ansporn gibt, das Leben zu verbessern. Die Armen bleiben unter sich, die Reichen ebenso. Das ist nicht erst heute so, das zeigt sich durch die ganze Entwicklungsgeschichte der Städte seit Beginn der Industriellen Revolution vor 250 Jahren. Dies aufzubrechen und sich dauerhaft eine breite Mittelschicht zu geben, ist die große Errungenschaft von Städten wie Reutlingen. Hier sind die Reichen nicht die reichsten. Reutlingen ist längst nicht mehr die Stadt der Millionäre. Hier sind die Armen aber auch nicht die Ärmsten. Man muss nur in die Gesichter der Menschen schauen, dann weiß man, dass es den Menschen hier nicht schlecht geht.
Die größte Herausforderung für jede Stadt ist der Strukturwandel, wie ihn Reutlingen mit dem Untergang der Textilindustrie in den vergangenen 50 Jahren meistern musste. Und es spricht für unsere Verwaltung, auch für unsere Stadträte und Bürgermeister, dass dieser Wandel bislang recht gut gemeistert wurde. Megastädte wie Chicago standen vor 30 Jahren vor ähnlichen, wegen ihrer Größe aber fast unlösbaren Erscheinungen. Ob Mega- oder Nanometropole - diese Städte meisterten sie, wenn sie eine gute Regierung hatten. Sie setzten auf Umweltschutz, sie setzten auf Wohnungsbau, und sie setzten auf Bildung. Sie förderten vor allem ihre Schulsysteme nach Kräften.



Als das protestantische Reutlingen 1802 den Status als Freie Reichsstadt verlor, war das, was wir heute Deutschland nennen, bitterarm. Um aus dem Elend herauszukommen, hatten die regierenden Potentaten nur eine Chance: sie mussten auf Bildung setzen. 1808 hatte der Philosoph Johann Gottlieb Fichte eine neue Deutsche Nationalerziehung gefordert und daran erinnert, dass die Erziehung ursprünglich keine Staatsangelegenheit war, "sondern von derjenigen Gewalt" ausgegangen war, "von der die Staaten meistens auch die ihre hatten, von dem himmlisch-geistigen Reich der Kirche". Nicht ihre weithin sichtbaren Gebäude, sondern das persönliche Studium der Schriften haben die Kirchen gestärkt.



Es sind Investitionen, die keiner sieht, die zum Beispiel einer Stadt den Wohlstand bringen. Nicht Bürogebäude, nicht Parkanlagen, nicht Fabriken oder Einkaufszentren, nicht einmal Straßen und Schienen sind es, die den Charakter einer Stadt prägen. Das Engagement der Bürger, ihr Fleiß und Eifer, ihre Spontaneität und Kreativität, ihre Selbstsüchtigkeit und Selbstlosigkeit, ihr Changieren zwischen Genialität und Banalität, zwischen Bildung und Zerstreuung, all das, was man nicht sieht, sondern spürt, gibt einer Stadt erst die eigentliche Präsenz. Diese spiegelt sich allein in den Gesichtern der Menschen wider - und nicht in den Gebäuden. Leider - jedenfalls aus Sicht der Politik, der es bei Einweihungen.auch immer um die eigene Sichtbarkeit geht. So bleibt sie am liebsten an der Oberfläche und verpasst damit die Zukunft.



Um 1900 waren es Investitionen in den Untergrund, in Kanalisation und Gasleitungen, die der Stadt neue Qualität gaben. Die Stadtplaner übernahmen mehr und mehr das Regiment. Alles wurde abstrakter, war eigentlich in seiner Gesamtheit nur als Strichzeichnung, als Karte, als Kataster, als Plan sichtbar. Andere Themen des Unsichtbaren wie die Fragen nach der Hygiene bestimmten mehr und mehr die Entscheidungen.



Je mehr Versorgung und Entsorgung in den Untergrund versank, desto klarer bot sich das, was an der Oberfläche entstand, dem Auge. Und hier wollte man immer höher hinaus - nach dem Muster von New York, das in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zur Superstadt schlechthin avancierte. Aber der Big Apple konnte dies nur werden, weil er massiv in den Untergrund investierte. Mit der raschen Ausbreitung des Automobils wollten die Stadtplaner die komplette Verkehrsstruktur unter Tage legen. "Der gesamte Schienen- und Durchgangsverkehr gehört im Bereich der City in die untere Ebene", schrieb vor 50 Jahren der Münchner Architekt Hans Hummer in einer Studie. Mit dieser Ansicht war er nicht allein. Es war die Zeit des U-Bahnbaus in Deutschland. Und am Ende plante man ganze unterirdische Städte in der Stadt.
Reutlingen, das ja bis heute als einzige Großstadt in Baden-Württemberg noch nicht einmal einen direkten Autobahnanschluss hat, war da außen vor. Was von der Oberfläche verschwand, war die Straßenbahn, aber sie wurde nicht als U-Bahn wiedergeboren, sondern als Bus. Und der für den Durchgangsverkehr geplante Scheibengipfel-Tunnel wurde zwar heiß diskutiert, war aber weit davon entfernt, realisiert zu werden. An dieser Zukunft im Untergrund nahm Reutlingen nicht teil. Im Gegenteil: Fußgängerunterführungen an der Karlstraße verschwanden, stattdessen wurden Stege gebaut. Die Kanalisation in der Altstadt wird erst in jüngster Zeit saniert. Denn das Reutlingen der Nachkriegszeit setzte vor allem auf Sichtbarkeit - und, wie überall in der Architektur, auf Klarheit der Linien.


In Reutlingen steht dafür vor allem das Rathaus, das 2016 seinen 50. Geburtstag feiern wird. Was dereinst die Bürger der Stadt in einen Zukunftsschock versetzte, verlangt heute nach Sanierung und damit nach massiven Investitionen, die keiner sieht. Die neue Stadthalle löste bei vielen Bürgern eher einen Vergangenheitsschock aus, als dass sie ihnen den Weg in die Kultur des 21. Jahrhundert weist. So hat man manchmal das Gefühl, dass Reutlingen heute eine Stadt ist, die weder Vergangenheit noch Zukunft im Griff hat. Mehr noch: Sie interessiert sich für beides nicht. Was zählt, ist der Augenblick. Reutlingen ist eine hochgradig angepasste, konfigurative Stadt, eine zeitlose Erscheinung, ohne Wumm und ohne Mumm. Und weil sie dabei so schmuck wirkt, kann man ja durchaus der Meinung sein, dass in dieser Stadt nicht viel an Änderung notwendig ist. Es bleibt alles gut.

Schaut man indes hinter die Kulissen, dann wird eine gewisse Schockstarre spürbar. Mitunter hat man schon den Eindruck: Die Stadt schleppt sich irgendwie dahin. Eigentlich weiß man nicht, wohin Reutlingen strebt. Sie ist kaum innovativ, auch nicht in ihrer Vergleichsreihe. Sie ist sicherlich sehr sozial, aber das kann man im Schwabenland auch noch sein.

Bewegung findet im Hamsterrad statt. Mancher ahnt, dass der Status, mit dem sich die Stadt über viele, viele andere Städte erhebt, nur noch sehr mühsam aufrechterhalten lässt. Haushaltspolitik ist schwierig, vielleicht sogar schon äußerst schwierig. Die Konkurrenz ist stark - und dabei, wie Metzingen, sehr viel kleiner. Die Verkehrskonzepte verlagern immer nur die Probleme, lösen sie nicht. Mit großartigen Entwürfen wagt sich niemand vor - schon gar nicht, wenn bereits ein simpler Antrag wie die Bildung eines eigenen Stadtkreises so viel Aufregung erzeugt. Am liebsten möchte man den Status-quo einfrieren.
 
Das ist irgendwie verständlich. Denn woran soll sich Reutlingen auf seinem Weg durch das 21. Jahrhunderts orientieren? An Stuttgart, das gerade dabei ist, einen ganzen Bahnhof zu versenken und damit höchste Zukunftsängste auslöste? An den IT-Experten, die von Smarter Cities schwärmen und über die Empfehlung für das nächste Restaurant oder den nächsten freien Parkplatz nicht hinauskommen? An den Stadtplanern, die selbst nach einem großen Entwurf suchen?
"Wir gehen rückwärtsgewandt in die Zukunft", hat einmal der Computerphilosoph Vilem Flusser gesagt. Wir bewegen uns also mit dem Hintern vorwärts, schauen immer zurück. Aber wir bewegen uns wenigstens, treten nicht nur auf der Stelle. Wenn man dann einen Rückspiegel hat, dann kann man vielleicht doch etwas erkennen von dem, worauf wir zugehen. Vielleicht sind es die Künste, die uns diesen Blick gewähren - nicht die Zukunftsforscher, nicht die Stadtplaner, nicht die Architekten. Die Künste sind uns mit ihrem Rückwärtsgang in die Zukunft ein gutes Stück voraus. Sie malen das, was auf uns zukommt. Irgendwie verdreht und verschoben können wir es wahrnehmen. Vor 100 Jahren waren es Kubismus, Expressionismus und Futurismus. Aber was ist heute Avantgarde? Was sehen wir, wenn wir in den Rückspiegel der Zukunft schauen?
Vielleicht werden wir etwas sehen, von dem wir dann ohne viele Worte sagen: "Das hat was!" Und ganz ehrlich, ich wünschte mir, ich könnte dann auch von Reutlingen sagen: "Die Stadt hat was!" Das wäre eine grandiose Zukunft. (Raimund Vollmer)
Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer






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