Montag, 4. Juli 2016

Reutlingen, die Stadt und die Kritik eines Stararchitekten

Von Raimund Vollmer
Brugge (Belgien): Eine Stadt, von der du meinst, dass sie vor lauter Touristen keinen Platz mehr für ihre Bürger hat. Aber sie sehen dich nicht als Tourist, sondern als Gast. Sie suchen das Gespräch mit dir. 
 


Reutlingen ist eine postmoderne Stadt. Denn Beliebigkeit ist hier Prinzip. Wir finden in unserer Stadt alles - manches im Stil bis zur Unkenntlichkeit miteinander vermischt, manches will hoch, manches will breit hinaus, und beides verliert dabei den Charakter, anderes zieht sich in die Länge zu einer einzigen Laden-Kette, wieder anderes hat überhaupt gar keinen Zusammenhalt. Was historisch ist, wirkt nur noch wie ein Zitat aus einem Werk, das längst verschwunden ist. Das "Krankenhäusle" sei da nur als Beispiel erwähnt.
Es ist ein Kuddelmuddel der Stile, der Plätze und der Zeiten, in dem jeder das findet, was ihm gefällt, aber nur wenig, was ihn hält. Wenn die Menschen hier nicht ihre Erinnerungen hätten - an Schulzeit und Lehrzeit, an Freunde und Freundinnen, an Busbahnhöfe und andere Haltestellen, sie hätten gar nichts. In unseren Erinnerungen sieht die Stadt ganz anders aus, bestimmt nicht schöner, aber viel, viel aufregender. Die Industriegeschichte der Stadt, die ihr so viel Reichtum brachte, vegetiert in einem Magazin vor sich hin - ohne große Magnetwirkung.Vergessen. 

Danzig (Polen): Man braucht wahrlich keine Hochhäuser, um eine große Stadt zu sein. Nach den immensen Zerstörungen im Krieg, den Schandtatetn des Sozialismus, hat Danzig einen Weg in die Zukunft gefunden: seine Bürgerlichkeit.


Schaut man sich dann die Pläne (sofern man dies überhaupt so benennen kann) an, dann hat man das Gefühl, dass diese Stadt uns nun bis zur Unkenntlichkeit entfremdet werden soll. Eine Stadt ohne Gesicht, ohne Gewicht, ohne Gericht. Denn niemand gebietet ihr wirklich Einhalt. Niemand sagt uns, was aus ihr werden soll. Immer ist von Rücksicht auf die Wirtschaft die Rede, auf Investoren und andere Rationalitäten. Dabei sind wir, die Bürger, der wichtigste Wirtschaftsfaktor, die größten Investoren und die stärksten Emotionalitäten. Aber wir kommen von innen, nicht von außen. Deshalb zählen wir nicht.
Jetzt bewegt und erregt uns ein neues Hochhaus - euphemistisch "Stuttgarter Tor" genannt. "Unter den Linden" - an den Eisenbahnschienen, ganz in der Nähe des Ortes, wo das Dorf Reutlingen vor mehr als 1000 Jahren seinen Anfang nahm, soll es entstehen. Ein Großklotz der Symmetrie, der kalt und ohne jeden Erinnerungswert nach oben ragen wird, wird dennoch narzisstisch um unsere Aufmerksamkeit buhlen. Aber es mangelt ihm - wie so vielem in Reutlingen - der Genius loci, wie ihn vor bald 25 Jahren mal der deutsch-kanadische Stararchitekt Eberhard H. Zeidler als "erste Bedingung" für jegliche Form von Stadtwerdung forderte. Ein Gebäude muss "Teil des Stadtraumes" werden, es darf nicht als "zusammenhanglose architektonische Skulptur" daherkommen. Und davon hat Reutlingen eine ganze Menge dieses Skulpturen, die so isoliert sind, dass sie noch nicht einmal Subkulturen der Urbanität bilden. (Und wenn es diese doch gibt, dann waren sie nicht geplant.) 
Die zweite Bedingung, die Zeidler 1992 aufstellte, war nämlich die Verbindung eines Gebäudes mit uns, den Menschen. "Das Gebäude muss zum menschlichen Reichtum des Ganzen, der Stadt, beitragen, nicht nur seiner eigenen Funktion genügen." Da urteile beim Gang durch unsere Stadt ein jeder selbst, wie sehr hier der Beitrag zum "menschliche Reichtum" geleistet wurde.
So wie die Architekten des Bauhauses und der Gartenstädte, von denen Reutlingen - ihren Bürgern sei Dank - noch das gelungenere Exemplar besitzt, erkennen mussten, dass der rein rationale, wissenschaftliche Ansatz bei weitem nicht genügt, um Menschen zu gewinnen, so müssten unsere Stadträte und Stadträtinnen eigentlich längst zumindest erahnen, dass reine Wirtschaftlichkeit und Investoren-Opportunismus der sicherste Weg ist, um die Bürger zu verlieren. Aber in Reutlingen bestimmt allzu oft der Augenblick und nicht der Weitblick die Entscheidung. 


 Prag (Tschechien): Eine Stadt braucht keine Hochhäuser, um eine Skyline zu bilden. New York gibt es nur einmal auf der Welt, alle anderen sind Epigonen. Eine Stadt wie Prag lebt von den Majestäten im Innern, den vielen Kirchen und Brücken, Straßen und Plätzen.


Wenn unsere Stadt irgendwo eine Skyline hat, wie sie unser Freund Benjamin Prell sich wünscht, dann genau dort, wo sie von einer Funktion kündet, die heute keine Bedeutung hat: die Zeile am Tübinger Tor, dem weithin sichtbaren, weil von Hochhäusern unverstellten Rest einer Stadtbefestigung, die vor bald 200 Jahren ein gewisser Friedrich List niederzulegen empfahl. Es sind keine Hochhäuser, die ihr hier ein Hauch von Urbanität und Zusammenhalt, von Geschichte und Zukunft geben, wie wir alle es uns wünschen. Es ist ein Arrangement auch sich einander anschmiegenden Gebäude der unterschiedlichsten Art, die hier der Stadt ein Image geben, auf das man als Bürger stolz sein kann. (Man darf sich allerdings nicht umdrehen. Da ballen sich die Schocker zu einer Drohkulisse, zu einem Big Other.)
Zeidler nannte noch eine dritte Bedingung: die Technologie, die mehr sei als nur Konstruktion, sondern das sei die "'emotionale Lösung', die zur Verbesserung des sozialökonomischen Rahmen beiträgt." Die Obere Wässere wollte in dieser Beziehung bestimmt reüssieren. Aber dann muss man auch die Markthalle, einem Zentralstück dieses Komplexes, zu einer Markthalle machen. Eine Markthalle, in der ihre Anbieter beschließen, dass sie keine Konkurrenz zulassen will, ist keine Markthalle. Ein Markt definiert sich durch Wettbewerb, nicht durch Exklusivität. 


Aachen: Ein Gebäude von "sublimer Zwecklosigkeit", der Karlsdom - ein Gebäude von faszinierender Schönheit - vor allem im Innern, dort, wo es darauf ankommt.


Die vierte Bedingung, die Zeidler stellte, ist die der "sublimen Zwecklosigkeit". Letzten Endes meint er damit "ein Verständnis von Architektur, demzufolge diese einen wesentlichen Einfluss auf unser Leben hat". Vielleicht ist hier bei uns die Marienkirche das beste Beispiel. Wenn ich in ihre Nähe komme, habe ich jedes Mal den Wunsch hineinzugehen - nicht um zu beten (als Katholik fehlen mir dort die Kniebänke), sondern um mich im wahrsten Sinne zu erbauen. Es ist ihre stille, innere Größe, nicht ihre äußere, die mir Kraft und Ruhe gibt - und sie gibt mir das zurück, was wir in unserem zweckgebundenen und nur auf Nutzen ausgelegtem Leben mitunter allzu leicht verlorengeht: Souveränität.
Und das wäre, wenn ich Zeidlers Bedingungen etwas Fünftes hinzufügen dürfte, genau das, was ich mir von der Stadt, ihren Bürgern und Repräsentanten am meisten wünsche in all den vielen Entscheidungen, die zu treffen sind. Reutlingen als eine souveräne Stadt.



Mönchengladbach: Diese Stadt, vom Krieg zerstört, hat ihre wichtigste Einkaufsstraße nach dem Krieg in eine Ladenkette verwandelt. Der musste jüngst auch das Stadttheater weichen.
 Berlin: Wenn unsere Hauptstadt nur so aussähe, wäre sie ganz bestimmt keine Reise wert.
Stuttgart. Vielleicht wurde auch hier nach dem Krieg zuviel geklotzt.
Bildertanz-Quelle:Raimund Vollmer

1 Kommentar:

Raimund Vollmer hat gesagt…

Eine rege Diskussion zu diesem Beitrag können Sie auf unserer Facebook-Seite lesen. Mehr als 4000 Zugriffe dokumentieren dort zudem, dass die Reutlinger sehr an der Zukunft ihrer Stadt interessiert sind. Normalerweise sind es Bildbeiträge ohne viel Text, die dort die Aufmerksamkeit unserer Freunde weckt. Wortbeiträge, die auch eine längere Aufmerksamkeitsspanne verlangen, sind in der Regel nicht so gefragt. Aber mehr als 1200 Zugriffe auf diesen Blog-Beitrag (Messung durch Google) lassen darauf schließen, dass die Reutlinger sich sehr gerne mit ihrer Stadt auseinandersetzen. Das ist eigentlich ein sehr, sehr positives Zeichen.