Unzeitgemäße Betrachtungen zu einer Sitzung unseres
Großstadtrates
Von Raimund Vollmer*, der hier immer noch Partei ist
Der Ort der Entscheidungen: Der Reutlinger Ratsaal - Hier geht's ums Große und Ganze...
Da saßen wir nun wieder auf der Zuschauerbank eines
Ratssaals. Diesmal war alles größer, imposanter als in Kirchentellinsfurt,
wo im Oktober die gewählten Vertreter zusammengekommen waren, um letztlich über
unser kleines Dorf zu richten, über Altenburg. Es ist ein Ort mit 1870
Einwohnern. Ein Dorf, das nicht zu K'furt gehört, nicht einmal zum Kreis
Tübingen. Es ist auch eigentlich gar kein
Dorf, sondern der Stadtbezirk einer großen Stadt.
So ist es jedenfalls seit dem 1. Januar 1972, also seit bald
einem halben Jahrhundert.
Damals kam nach einer denkbar knappen Entscheidung und nach
einer heißen Diskussion, nicht ganz freiwillig, aber doch selbstbestimmt,
Altenburg nach Reutlingen. Das war nichts Besonderes, denn so ging es in jener
Zeit vielen umliegenden Gemeinden. Bund und Land hatten gemeinsam mit den
Gemeinden die kommunale Gebiets- und Verwaltungsreform ausgerufen, die mit
sanfter Gewalt die Dorfzwerge zu Zusammenschlüssen aufforderte oder aber dazu
drängelte, ihre Selbständigkeit gleich in eine große Stadt aufgehen zu lassen.
So war es auch in Reutlingen, dessen Ortsteil Altenburg ist.
Schon damals waren viele Altenburger sehr skeptisch, als ihnen der Erste
Bürgermeister der Stadt Reutlingen, Karl Guhl, versprach, dass es neben dem
Vertrag, über den die Altenburger abstimmen sollten, auch noch Treu & Glauben
gibt. Teilweise soll das Lachen höhnisch gewesen sein, das aus der Bürgerschaft
kam. Aber vielleicht tat man ihm ja bitter Unrecht, denn bis heute kam man
recht gut miteinander aus. Die Oberbürgermeister wussten, dass sie es möglichst
vermeiden sollten, die Wünsche der Bezirksgemeinden zu übergehen.
Bildtext: Bei der Unterzeichnung des ab 1. Januar 1972 gültigen Eingemeindungsvertrages (von links nach rechts): Karl Guhle, Erster Bürgermeister der Stadt Reutlingen, Oberbürgermeister Oskar Kalbfell und Altenburgs Bürgermeister Gayer)
Vor vierzig Jahren war diese kommunale Neuordnung vollendet worden. Seitdem besteht diese Stadt Reutlingen, die sich seit 1989 sogar numerisch als Großstadt sehen darf, aus sich selbst und zwölf ehemals freien Dörfern. Das Zentrum der Entscheidungen über das Schicksal dieser "Stadtbezirke" ist das weiße Rathaus mitten in der Kernstadt. Hier wacht der Stadtrat über die Geschicke im ganzen Stadtgebiet, also auch über die eines Bezirkes. So hieß es jedenfalls immer wieder an diesem Donnerstag, 15. Dezember 2016.
Es geht um die "ganze Stadt", sagte der
SPD-Fraktionsvorsitzende Helmut Treutlein. Zuvor hatte schon Andreas vom
Scheidt, der für die CDU das Wort ergriffen hatte, vom "Interesse der
gesamten Stadt" gesprochen. Der Fraktionsvorsitzende der Freien
Wähler-Vereinigung, Jürgen U. Fuchs, meinte: "Wir sind nicht nur die
Kernstadt und die Addition von zwölf Bezirksgemeinden", nein, das ist mehr
als die Summe der Einzelteile, zu denen ja auch Teile wie Orschel-Hagen oder
Römerschanze gehören, Stadtteile, die nicht, wie Altenburg, Oferdingen oder
Reicheneck einen eigenen Ortschaftsrat (Bezirksgemeinderat) haben.
Immer wieder wurde die "gesamtstädtische
Verantwortung" beschworen, die unsere Stadträte innehaben, die man nicht
auf "kleinere Einheiten übertragen" könne. Regine Vohrer, die für die
FDP das Wort ergriff, warnte gar ausdrücklich vor einer "Kirchturmpolitik",
die wohl entstehen könne, wenn das letzte Wort immer die Bezirke hätten. So
musste man sie jedenfalls verstehen.
Der Grund, warum sich diese Stadträte in ihrer Bedeutung und
Verantwortung für das Ganze so schwer ins Zeug legten, waren vor allem wir, die
Altenburger. Denn es ging um die Prüfung von Grundstücken, die möglicherweise
als Wohn- oder Gewerbegebiet in einen neuen Flächennutzungsplan aufgenommen
werden können. Und da hatte sich die Stadtverwaltung auf Altenburger Gebiet ein
Gelände ausgesucht, das sich nach unserer Meinung überhaupt nicht eignete,
eigentlich sogar kompletter Unsinn war. Stattdessen hatten wir Alternativen
vorgeschlagen - übrigens zum Wohle der ganzen Stadt und auf Kosten unserer
Gemarkung.
Allerdings hatten wir mit Blick auf den
Eingemeindungsvertrag die ungeheure Vorstellung in die Welt gesetzt, dass die
Stadt ohne unsere Einwilligung überhaupt nicht über das von ihr ausgewählte und
heftig umstrittene Gelände verfügen könne. Zur Information: Es ging um die
drastische Erweiterung des Gewerbegebiets Mahden - in unmittelbarer Nähe der
Bundesstraße 27. Um bis zu 40 Hektar sollte es vergrößert werden.
In zwei Dokumenten war 1972 festgehalten worden, dass in
bestimmten Fragen der Stadtrat niemals gegen die Vorbehalte der Altenburger entscheiden
werde. Das konnte man natürlich als einen Angriff auf die Souveränität des
Stadtparlamentes verstehen. Wenige Wochen zuvor hatte uns ja schon der K'furter
Bürgermeister zu verstehen gegeben, dass für ihn nur die Stadt Reutlingen der
angemessene Gesprächspartner sei. Wir, die Altenburger, die wir die
unmittelbaren Nachbarn sind und schon jetzt ein nicht gerade kleines
Gewerbegebiet mit den Freunden jenseits der Kreisgrenze teilten, seien es
nicht. Nicht dieselbe Augenhöhe!
Wir fühlten uns an den Rand gedrängt - in Kirchentellinsfurt
ebenso wie in Reutlingen.
Vor allen Dingen der sogenannte "Sachvortrag" des
städtischen Fachmanns und Amtsleiters Stefan Dvorak erstaunte uns. Die
Rechtsabteilung der Stadt habe die Verträge untersucht und festgestellt, dass
der Eingemeindungsvertrag (in seinem Paragraph 25) bei der Bauleitplanung die
Rechte des Stadtrats unberührt ließen. Der Begriff "Bauleitplanung"
ist dabei das Schlüsselwort, denn wer sie besitzt, der bestimmt darüber, was
mit dem Flächennutzungsplan geschieht. Und diese Bauleitplanung hatte man uns
zugeschrieben. Das klingt alles irgendwie kompliziert, ist es auch - und wieder
nicht. Denn dahinter steht die Frage nach der Macht.
Haben wir, die Kirchtürmler aus Altenburg, das Sagen oder
die Rathäusler aus Reutlingen?
Auf jeden Fall meinte Dvorak, dass eine Absichtserklärung, die dem Eingemeindungsvertrag zugefügt worden war, "rechtlich unverbindlich" sei. Diese Absichtserklärung hatte den Sinn, das, was im Eingemeindungsvertrag stand, zu erläutern. Doch seit diesem
Donnerstag, 15. Dezember 2016, wissen wir, dass auch sie null und nichtig sei.
Damit war der Weg frei, sich über unser Recht (oder was wir bis
heute dafür hielten) hinwegzusetzen. Denn wir hatten 2015 gegen diese Pläne gestimmt. Einstimmig. Im Bewusstsein, dass die Bauleitplanung bei uns liegt. Ein falsches Bewusstsein.
Kurzum: Wir wussten nun, dass wir nach Ansicht der Stadt fortan keinen Kirchturm mehr haben würden. Der war sowieso die ganze Zeit eine Illusion gewesen - wie wohl dieser ganze Eingemeindungsvertrag, den das ganze Dorf Altenburg vor 45 Jahren mit der ganzen Stadt Reutlingen geschlossen hatte. Aber eines konnten wir gewiss sein. "Wir nehmen die Bedenken sehr ernst", erklärte die Oberbürgermeisterin, die Herrin des ganzen Verfahrens. Das waren aber nicht die rechtlichen Bedenken, die sie meinte, sondern die technischen. Denn die rechtlichen Fragen waren gar kein Thema mehr. Unser Vertrag, in jedem Teilort Reutlingens das Allerheiligste der ganzen Politik der Bezirksgemeinderäte, war nicht sehr viel wert. Es geht schließlich um das große Ganze, nicht um das kleine - und nur für uns - Große.
Kurzum: Wir wussten nun, dass wir nach Ansicht der Stadt fortan keinen Kirchturm mehr haben würden. Der war sowieso die ganze Zeit eine Illusion gewesen - wie wohl dieser ganze Eingemeindungsvertrag, den das ganze Dorf Altenburg vor 45 Jahren mit der ganzen Stadt Reutlingen geschlossen hatte. Aber eines konnten wir gewiss sein. "Wir nehmen die Bedenken sehr ernst", erklärte die Oberbürgermeisterin, die Herrin des ganzen Verfahrens. Das waren aber nicht die rechtlichen Bedenken, die sie meinte, sondern die technischen. Denn die rechtlichen Fragen waren gar kein Thema mehr. Unser Vertrag, in jedem Teilort Reutlingens das Allerheiligste der ganzen Politik der Bezirksgemeinderäte, war nicht sehr viel wert. Es geht schließlich um das große Ganze, nicht um das kleine - und nur für uns - Große.
Voller Stolz berichtete unsere Oberbürgermeisterin, Barbara
Bosch, dass Reutlingen in den letzten Jahren bei der Innenentwicklung 60 Hektar
erneuert habe. Natürlich für das Große & Ganze. Für Reutlingen.
Wenn wir Sitz und Stimme an diesem Donnerstagabend gehabt hätten,
dann hätte wir, die Bürger aus Altenburg, zwar hinzufügen können, dass wir allein
am Ende aller jetzigen und künftigen Entwicklung auch 60 Hektar zu verkraften
hätten, aber das hätte wohl niemandem imponiert. Denn unser Opfer würde ja
nicht das Ganze betreffen, sondern nur einen kleinen Teil, nämlich diesen Bürokratensesselfurz
namens Altenburg, dem man dereinst nicht nur in Treu & Glauben, sondern
auch mit Brief und Siegel versprochen hatte, dass der Ort vor allem Wohngebiet
bleiben würde.
So wurde denn endlich abgestimmt - und da zeichnete sich
dann ab, dass wir, die neun Zuschauer aus Altenburg, ebenso viele Stimmen im
Stadtparlament auf unserer Seite hatten. Die kamen vor allem von den Grünen, für
die Holger Bergmann gesprochen hatte. Sie waren überhaupt nicht damit
einverstanden mit dem für einen zukünftigen Flächennutzungsplan adressierten
Flächenverbrauch. "Was brauchen wir?" So fragte Bergmann. Und er gab gleich
selbst die Antwort: Von den 100 Hektar, die die Stadt Reutlingen zusammen mit
Kirchentellinsfurt ausgewählt hatten, hatten er und seine Mitstreiter 35 Hektar
weggestrichen - nicht nur aus Gründen des Naturschutzes, sondern aus rein
praktischen und technischen Gründen. Er plädierte für eine
"flächensparende Nutzung", also für Betriebe, die mehr böten als nur
menschenarme, maschinengesteuerte, flächenverbrauchende Produktionen, die vor allem ebenerdig angelegt
sein müssen. Als einige Altenburger meinten, am Ende des Vortrags den
Grünenpolitikers Bergmann mit Applaus danken zu müssen, wurden sie prompt von
der Oberbürgermeisterin im Namen der - vor 40 Jahren erlassenen -
Gemeindeordnung ermahnt.
Da spielte das Recht plötzlich eine Rolle, aber hinter der
Gemeindeordnung steht ja auch ein mächtiges Gesetz, das das Große & Ganze
regelt, und nicht ein alter Vertrag, der die Befindlichkeiten eines Dorfzwerges
betrifft. So wurde denn dem Altenburger Wunsch, für das Gewerbegebiet Mahden
keinen Prüfauftrag zu erteilen, mehrheitlich nicht entsprochen. Schon gar nicht
in der Entscheidungsvorlage enthalten waren die Alternativen, die die
Altenburger selbst entwickelt hatten. Auf Altenburger Grund. Und für das Große
& Ganze. Auch diese Flächen hätten ja nur geprüft werden sollen. Nun sind diese
Flächen, wenn man den sonst mit Krokodilstränen vorgebrachten Argumenten der
Stadt folgt, für die nächsten dreißig Jahre verloren. Denn so lange hält ein
Flächennutzungsplan, wenn nicht gar länger, wenn man den alten Plan als Maßstab
nimmt. So war uns gesagt worden. Was wir heute vergeigen, kann erst Mitte des
Jahrhunderts wieder korrigiert werden.
Schließlich verließen die neun Altenburger ein wenig ratlos
den Ratssaal - wie schon vor zwei Monaten den der Kirchentellinsfurter. Hatten sie
sich nicht auch für das Große & Ganze eingebracht? Mit all ihrer Kompetenz aus
der Kenntnis der lokalen Gegebenheiten? Schon, aber...
Wenn man indes ganz genau und aufmerksam den Worten der
Stadträte gelauscht hatte, dann meinte man zu spüren, dass sie ein schlechtes
Gewissen hatten. Wahrscheinlich ahnen sie, dass zum Großen & Ganzen mehr
gehört als nur das Große & Ganze. Dazu gehört auch Größe.
Post scriptum: Etwa später war dann noch einmal Altenburg
Thema der Ratssitzung. Es ging um den Bebauungsplan für unsere neue Ortsmitte.
Er wurde einstimmig angenommen. Irgendwie hatte man den Eindruck, dass die Räte
sehr froh waren, sich mal positiv um ein Detail kümmern zu können. (Uns hat's
natürlich auch gefreut...)
* Vollmer ist seit 2009 Mitglied des Bezirksgemeinderates von Altenburg
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