Sonntag, 18. Dezember 2016

Das Beispiel Altenburg - Die Degradierung der "Stadtbezirke"



Unzeitgemäße Betrachtungen zu einer Sitzung unseres Großstadtrates

Von Raimund Vollmer*, der hier immer noch Partei ist

 Der Altenburger Bezirksgemeinderat auf der Suche nach Alternativen für den Flächennutzungsplan. Hier geht's ums Detail...

Der Ort der Entscheidungen: Der Reutlinger Ratsaal  - Hier geht's ums Große und Ganze...

Da saßen wir nun wieder auf der Zuschauerbank eines Ratssaals. Diesmal war alles größer, imposanter als in Kirchentellinsfurt, wo im Oktober die gewählten Vertreter zusammengekommen waren, um letztlich über unser kleines Dorf zu richten, über Altenburg. Es ist ein Ort mit 1870 Einwohnern. Ein Dorf, das nicht zu K'furt gehört, nicht einmal zum Kreis Tübingen. Es ist auch eigentlich gar kein Dorf, sondern der Stadtbezirk einer großen Stadt.
So ist es jedenfalls seit dem 1. Januar 1972, also seit bald einem halben Jahrhundert.
Damals kam nach einer denkbar knappen Entscheidung und nach einer heißen Diskussion, nicht ganz freiwillig, aber doch selbstbestimmt, Altenburg nach Reutlingen. Das war nichts Besonderes, denn so ging es in jener Zeit vielen umliegenden Gemeinden. Bund und Land hatten gemeinsam mit den Gemeinden die kommunale Gebiets- und Verwaltungsreform ausgerufen, die mit sanfter Gewalt die Dorfzwerge zu Zusammenschlüssen aufforderte oder aber dazu drängelte, ihre Selbständigkeit gleich in eine große Stadt aufgehen zu lassen.
So war es auch in Reutlingen, dessen Ortsteil Altenburg ist. Schon damals waren viele Altenburger sehr skeptisch, als ihnen der Erste Bürgermeister der Stadt Reutlingen, Karl Guhl, versprach, dass es neben dem Vertrag, über den die Altenburger abstimmen sollten, auch noch Treu & Glauben gibt. Teilweise soll das Lachen höhnisch gewesen sein, das aus der Bürgerschaft kam. Aber vielleicht tat man ihm ja bitter Unrecht, denn bis heute kam man recht gut miteinander aus. Die Oberbürgermeister wussten, dass sie es möglichst vermeiden sollten, die Wünsche der Bezirksgemeinden zu übergehen.  

Bildtext: Bei der Unterzeichnung des ab 1. Januar 1972 gültigen Eingemeindungsvertrages (von links nach rechts): Karl Guhle, Erster Bürgermeister der Stadt Reutlingen, Oberbürgermeister Oskar Kalbfell und Altenburgs Bürgermeister Gayer)

Vor vierzig Jahren war diese kommunale Neuordnung vollendet worden. Seitdem besteht diese Stadt Reutlingen, die sich seit 1989 sogar numerisch als Großstadt sehen darf, aus sich selbst und zwölf ehemals freien Dörfern. Das Zentrum der Entscheidungen über das Schicksal dieser "Stadtbezirke" ist das weiße Rathaus mitten in der Kernstadt. Hier wacht der Stadtrat über die Geschicke im ganzen Stadtgebiet, also auch über die eines Bezirkes. So hieß es jedenfalls immer wieder an diesem Donnerstag, 15. Dezember 2016.
Es geht um die "ganze Stadt", sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende Helmut Treutlein. Zuvor hatte schon Andreas vom Scheidt, der für die CDU das Wort ergriffen hatte, vom "Interesse der gesamten Stadt" gesprochen. Der Fraktionsvorsitzende der Freien Wähler-Vereinigung, Jürgen U. Fuchs, meinte: "Wir sind nicht nur die Kernstadt und die Addition von zwölf Bezirksgemeinden", nein, das ist mehr als die Summe der Einzelteile, zu denen ja auch Teile wie Orschel-Hagen oder Römerschanze gehören, Stadtteile, die nicht, wie Altenburg, Oferdingen oder Reicheneck einen eigenen Ortschaftsrat (Bezirksgemeinderat) haben.
Immer wieder wurde die "gesamtstädtische Verantwortung" beschworen, die unsere Stadträte innehaben, die man nicht auf "kleinere Einheiten übertragen" könne. Regine Vohrer, die für die FDP das Wort ergriff, warnte gar ausdrücklich vor einer "Kirchturmpolitik", die wohl entstehen könne, wenn das letzte Wort immer die Bezirke hätten. So musste man sie jedenfalls verstehen.
Der Grund, warum sich diese Stadträte in ihrer Bedeutung und Verantwortung für das Ganze so schwer ins Zeug legten, waren vor allem wir, die Altenburger. Denn es ging um die Prüfung von Grundstücken, die möglicherweise als Wohn- oder Gewerbegebiet in einen neuen Flächennutzungsplan aufgenommen werden können. Und da hatte sich die Stadtverwaltung auf Altenburger Gebiet ein Gelände ausgesucht, das sich nach unserer Meinung überhaupt nicht eignete, eigentlich sogar kompletter Unsinn war. Stattdessen hatten wir Alternativen vorgeschlagen - übrigens zum Wohle der ganzen Stadt und auf Kosten unserer Gemarkung.
Allerdings hatten wir mit Blick auf den Eingemeindungsvertrag die ungeheure Vorstellung in die Welt gesetzt, dass die Stadt ohne unsere Einwilligung überhaupt nicht über das von ihr ausgewählte und heftig umstrittene Gelände verfügen könne. Zur Information: Es ging um die drastische Erweiterung des Gewerbegebiets Mahden - in unmittelbarer Nähe der Bundesstraße 27. Um bis zu 40 Hektar sollte es vergrößert werden.
In zwei Dokumenten war 1972 festgehalten worden, dass in bestimmten Fragen der Stadtrat niemals gegen die Vorbehalte der Altenburger entscheiden werde. Das konnte man natürlich als einen Angriff auf die Souveränität des Stadtparlamentes verstehen. Wenige Wochen zuvor hatte uns ja schon der K'furter Bürgermeister zu verstehen gegeben, dass für ihn nur die Stadt Reutlingen der angemessene Gesprächspartner sei. Wir, die Altenburger, die wir die unmittelbaren Nachbarn sind und schon jetzt ein nicht gerade kleines Gewerbegebiet mit den Freunden jenseits der Kreisgrenze teilten, seien es nicht. Nicht dieselbe Augenhöhe!
Wir fühlten uns an den Rand gedrängt - in Kirchentellinsfurt ebenso wie in Reutlingen.
Vor allen Dingen der sogenannte "Sachvortrag" des städtischen Fachmanns und Amtsleiters Stefan Dvorak erstaunte uns. Die Rechtsabteilung der Stadt habe die Verträge untersucht und festgestellt, dass der Eingemeindungsvertrag (in seinem Paragraph 25) bei der Bauleitplanung die Rechte des Stadtrats unberührt ließen. Der Begriff "Bauleitplanung" ist dabei das Schlüsselwort, denn wer sie besitzt, der bestimmt darüber, was mit dem Flächennutzungsplan geschieht. Und diese Bauleitplanung hatte man uns zugeschrieben. Das klingt alles irgendwie kompliziert, ist es auch - und wieder nicht. Denn dahinter steht die Frage nach der Macht.
Haben wir, die Kirchtürmler aus Altenburg, das Sagen oder die Rathäusler aus Reutlingen?
Auf jeden Fall meinte Dvorak, dass eine Absichtserklärung, die dem Eingemeindungsvertrag zugefügt worden war, "rechtlich unverbindlich" sei. Diese Absichtserklärung hatte den Sinn, das, was im Eingemeindungsvertrag stand, zu erläutern. Doch seit diesem Donnerstag, 15. Dezember 2016, wissen wir, dass auch sie null und nichtig sei.
Damit war der Weg frei, sich über unser Recht (oder was wir bis heute dafür hielten) hinwegzusetzen. Denn wir hatten 2015 gegen diese Pläne gestimmt. Einstimmig. Im Bewusstsein, dass die Bauleitplanung bei uns liegt. Ein falsches Bewusstsein.
Kurzum: Wir wussten nun, dass wir nach Ansicht der Stadt fortan keinen Kirchturm mehr haben würden. Der war sowieso die ganze Zeit eine Illusion gewesen - wie wohl dieser ganze Eingemeindungsvertrag, den das ganze Dorf Altenburg vor 45 Jahren mit der ganzen Stadt Reutlingen geschlossen hatte. Aber eines konnten wir gewiss sein. "Wir nehmen die Bedenken sehr ernst", erklärte die Oberbürgermeisterin, die Herrin des ganzen Verfahrens. Das waren aber nicht die rechtlichen Bedenken, die sie meinte, sondern die technischen. Denn die rechtlichen Fragen waren gar kein Thema mehr. Unser Vertrag, in jedem Teilort Reutlingens das Allerheiligste der ganzen Politik der Bezirksgemeinderäte, war nicht sehr viel wert. Es geht schließlich um das große Ganze, nicht um das kleine - und nur für uns - Große.
Voller Stolz berichtete unsere Oberbürgermeisterin, Barbara Bosch, dass Reutlingen in den letzten Jahren bei der Innenentwicklung 60 Hektar erneuert habe. Natürlich für das Große & Ganze. Für Reutlingen.
Wenn wir Sitz und Stimme an diesem Donnerstagabend gehabt hätten, dann hätte wir, die Bürger aus Altenburg, zwar hinzufügen können, dass wir allein am Ende aller jetzigen und künftigen Entwicklung auch 60 Hektar zu verkraften hätten, aber das hätte wohl niemandem imponiert. Denn unser Opfer würde ja nicht das Ganze betreffen, sondern nur einen kleinen Teil, nämlich diesen Bürokratensesselfurz namens Altenburg, dem man dereinst nicht nur in Treu & Glauben, sondern auch mit Brief und Siegel versprochen hatte, dass der Ort vor allem Wohngebiet bleiben würde.
So wurde denn endlich abgestimmt - und da zeichnete sich dann ab, dass wir, die neun Zuschauer aus Altenburg, ebenso viele Stimmen im Stadtparlament auf unserer Seite hatten. Die kamen vor allem von den Grünen, für die Holger Bergmann gesprochen hatte. Sie waren überhaupt nicht damit einverstanden mit dem für einen zukünftigen  Flächennutzungsplan adressierten Flächenverbrauch. "Was brauchen wir?" So fragte Bergmann. Und er gab gleich selbst die Antwort: Von den 100 Hektar, die die Stadt Reutlingen zusammen mit Kirchentellinsfurt ausgewählt hatten, hatten er und seine Mitstreiter 35 Hektar weggestrichen - nicht nur aus Gründen des Naturschutzes, sondern aus rein praktischen und technischen Gründen. Er plädierte für eine "flächensparende Nutzung", also für Betriebe, die mehr böten als nur menschenarme, maschinengesteuerte, flächenverbrauchende  Produktionen, die vor allem ebenerdig angelegt sein müssen. Als einige Altenburger meinten, am Ende des Vortrags den Grünenpolitikers Bergmann mit Applaus danken zu müssen, wurden sie prompt von der Oberbürgermeisterin im Namen der - vor 40 Jahren erlassenen - Gemeindeordnung ermahnt.
Da spielte das Recht plötzlich eine Rolle, aber hinter der Gemeindeordnung steht ja auch ein mächtiges Gesetz, das das Große & Ganze regelt, und nicht ein alter Vertrag, der die Befindlichkeiten eines Dorfzwerges betrifft. So wurde denn dem Altenburger Wunsch, für das Gewerbegebiet Mahden keinen Prüfauftrag zu erteilen, mehrheitlich nicht entsprochen. Schon gar nicht in der Entscheidungsvorlage enthalten waren die Alternativen, die die Altenburger selbst entwickelt hatten. Auf Altenburger Grund. Und für das Große & Ganze. Auch diese Flächen hätten ja nur geprüft werden sollen. Nun sind diese Flächen, wenn man den sonst mit Krokodilstränen vorgebrachten Argumenten der Stadt folgt, für die nächsten dreißig Jahre verloren. Denn so lange hält ein Flächennutzungsplan, wenn nicht gar länger, wenn man den alten Plan als Maßstab nimmt. So war uns gesagt worden. Was wir heute vergeigen, kann erst Mitte des Jahrhunderts wieder korrigiert werden.
Schließlich verließen die neun Altenburger ein wenig ratlos den Ratssaal - wie schon vor zwei Monaten den der Kirchentellinsfurter. Hatten sie sich nicht auch für das Große & Ganze eingebracht? Mit all ihrer Kompetenz aus der Kenntnis der lokalen Gegebenheiten? Schon, aber...
Wenn man indes ganz genau und aufmerksam den Worten der Stadträte gelauscht hatte, dann meinte man zu spüren, dass sie ein schlechtes Gewissen hatten. Wahrscheinlich ahnen sie, dass zum Großen & Ganzen mehr gehört als nur das Große & Ganze. Dazu gehört auch Größe.
Post scriptum: Etwa später war dann noch einmal Altenburg Thema der Ratssitzung. Es ging um den Bebauungsplan für unsere neue Ortsmitte. Er wurde einstimmig angenommen. Irgendwie hatte man den Eindruck, dass die Räte sehr froh waren, sich mal positiv um ein Detail kümmern zu können. (Uns hat's natürlich auch gefreut...)

 * Vollmer ist seit 2009 Mitglied des Bezirksgemeinderates von Altenburg

Bildertanz-Quelle:RV

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