zu: Reutlingen
– die Stadt, die wir vielleicht unterschätzen ….
Per Email erhielten wir diese Antwort auf R. Vollmers "unzeitgemäßen Betrachtungen" am vergangenen Samstag. Der Autor ist der Redaktion bekannt, möchte aber ungenannt bleiben.Wir respektieren dies. Hier hat sich jemand viele Gedanken gemacht, die eigentlich - wie alles, was so im Bildertanz erscheint - zeigen, dass die Menschen bei all ihrer Kritik an der Stadt (oder an uns vom Bildertanz) zugleich eine hohe Identifikation mit der Entwicklung in ihrer Heimat pflegen. Sie lieben ihre Heimat. Vor diesem Hintergrund ist auch dieser Beitrag eines Reutlinger Bürgers zu lesen.
Eine Gegenrede. Vielleicht.
Von Gustav (statt der drei Sternchen, die wir vorher hier hatten. Nun hat der Autor ein Pseudonym)
Reutlingen, die Stadt, die wir
vielleicht unterschätzen: Kluges und Überdenkenswertes, wie eigentlich immer in
diesem Blog. Dennoch der Versuch einer Gegenrede. Vielleicht auch einer Mitrede.
Der Bildertanz mit seinen alten
Bildern singt das Hohelied auf das alte Reutlingen und auf scheinbar vergessene
Zeiten. Das untergegangene Reutlingen, welches wir dann durch unsere modernen, wohlstandsverwöhnten
Brillen romantisch verklären und dabei großzügig den jeweiligen zeitpolitischen
Kontext ausklammern. Beispiel Klein-Venedig. Ja, schade, dass es diese
Postkartenidylle nicht mehr gibt. Wobei das Wohnen und Arbeiten in den
feuchten, engen und dunklen Häusern bestimmt kein Zuckerschlecken war. Dennoch
schade. Würde der Stadt heute gut stehen. Weichen musste das Idyll für die 6
spurige Bundesstraße. Diese autobahnähnliche Straßenschneise war seinerzeit (und
ist es auch heute noch) von Vielen gewünscht. Möglich wurde sie, weil das
Reutlingen der 1960er und 1970er Jahre dynamisch wuchs und wirtschaftlich stark
war. So war es eben schon immer und ist es auch heute: wirtschaftliche
Prosperität befördert Bau- und Abrisswut. Vieles, was der Krieg noch verschont
hatte, ging im Fortschrittswahn des Aufschwungs unter. Dabei entstand nicht nur
Schlechtes. Ein Beispiel dafür ist der „alte“ Listplatz – der gar nicht so alt
ist - ein städtebaulich gelungenes Ensemble der frühen 1950er Jahre mit Park,
Hotel und Brunnen, dessen Niedergang schon lange vor dem Verschwinden des Brunnens
mit dem Abriss des Parkhotels begann. Vielleicht ist der Listplatz für viele Menschen
deshalb so bedeutsam, weil er vom Aufschwung, von der einstigen
wirtschaftlichen Stärke der Stadt und den eigenen Wünschen und Sehnsüchten der
Nachkriegszeit zeugt. Vergessen wird darüber der eigentliche historische Platz
aus dem 19. Jahrhundert - auch dieser in einer Zeit des Aufbruchs entstanden. Alt
ist wohl nicht gleich alt.
Es reicht nicht, mit feuchten
Augen in alten Bildern zu schwelgen, auch wenn das über den Unbill unserer
unübersichtlichen Jetztzeit hinwegtrösten kann. Doch glücklicherweise gibt es
neben den Bildern auch immer wieder Texte - eine intellektuelle Bereicherung
und kritischer Korrektiv der Stadtentwicklung.
Diesmal unter anderem über die
städtischen und „sonstwoher“ Experten und ihre Herkunft. Die Feststellung, dass
alle Bürgermeister nicht aus Reutlingen stammen, wirft nun aber genau die Frage
auf, wann und wie man überhaupt Reutlinger wird: durch die Wahl des Wohnortes,
die Geburt in Reutlingen, durch ein Leben in zweiter, besser dritter Generation
oder noch sicherer, mit einem Stammbaum, der bis in die reichsstädtische Zeit
zurückgeht? Oder bekommt man die Stadtrechte mit einer Art Ritterschlag
verliehen, dann, wenn man ausreichend geleistet hat für das Wohl derselben?
Die Frage, ob sich Qualität daran
messen lässt, ob jemand aus Reutlingen stammt, ist naheliegend und dennoch abwegig,
vor allem wenn man berücksichtigt, dass das Kommen und Gehen schon immer der städtischen
Lebenswirklichkeit entsprach, in Reutlingen zum Beispiel im 19. Jahrhundert mit
Jahren der Stagnation und des Wegzug - und nach 1945 mit einen gewaltigen Zuzug
aus dem Osten. Sind also all die Orschel-Hagener Neubürger der 1950er Jahre
keine Reutlinger? Gustav Werner und Eduard Lucas waren keine gebürtigen Reutlinger
und haben doch Reutlingen maßgeblich geprägt. Waren sie keine Reutlinger? Und
umgekehrt, wäre Friedrich List, Reutlingens berühmter Sohn, der geworden, der
er war, wenn er wie geplant seine Ausbildung zum Weißgerber bei seinem Vater
abgeschlossen hätte und in Reutlingen geblieben wäre? Wäre Claus Peter Lumpp der
Sternekoch geworden, wenn er nicht nach Baiersbronn gegangen und in Reutlingen
geblieben wäre?
Möglicherweise ist die Frage der Herkunft
zweitrangig. Vielmehr sollte es darum gehen, einen Ort für sich zu finden, an
dem man gern lebt, mit dem man sich identifiziert, für dessen Entwicklung man
sich einsetzt. So ein Ort kann Reutlingen sein – auch für die städtischen
Experten und auch all die Experten von sonstwo. Voraussetzung ist, dass es
ihnen auch wirklich um Reutlingen geht, dass sie nicht abgehoben in ihren Türmen
sitzen, sondern mit den Bürgern diskutieren und ihnen zuhören, dass sie die
Geschichte Reutlingens nicht nur routiniert auswendig aufsagen können, sondern
sich mit ihr auseinandersetzen. Zum Beispiel mit Klein-Venedig und was wir aus
seinem Abriss heute und für die Zukunft Reutlingens lernen können. Heute, wo
der Stadt, wenn man den Worten der Oberbürgermeisterin in der Haushaltsrede
gelauscht hat, wieder eine dynamische Entwicklung bevorsteht. Hoffentlich ohne
weitere Abrisse!
Tatsächlich kann einem das, was da
in der Haushaltsrede gesagt und geschrieben wurde, starkes Unbehagen bereiten.
Da ist von Form die Rede und wenig von Inhalt. Da werden „strategische Gesamtziele“
ausgerufen, die mit Strategie wenig zu tun haben, egal wie oft man das Wort
Strategie auch dahersagt. Kinderbetreuung, Wohnraumschaffung, Erhalt
bestehender Infrastruktur und Unterbringung, Betreuung und Integration von
Flüchtlingen sind entweder selbstverständliche Aufgaben und wurden lange
vernachlässigt oder sind gesellschaftlich notwendig. Es sind Aufgaben, die rein
gar nichts über die Qualität und das Lebensgefühl von Reutlingen aussagen. Auch
das neue Stadtbuskonzept ist keine Strategie, sondern längst überfällig. Es
kommt auf das Wie an. Die Idee der Großstadt allein trägt, wie auch der
Bildertanz richtigerweise feststellt, nicht.
Deshalb muss jetzt eine Marke her - und aufgepasst: „Marke
ist dabei weitaus mehr als ein Leitbild oder ein Logo und gründet auf den
vorhandenen Stärken einer Stadt.“- schreibt und spricht die
Oberbürgermeisterin. Und weil eine Marke vermeintlich so viel mehr ist als ein
Logo oder ein Leitbild, wird der „Markenbildungsprozess“ (was für ein
Wortungetüm) durch das Stadtmarketing durchgeführt. Das Ergebnis lässt sich
schon jetzt erahnen: „Reutlingen, die sympathische Großstadt mit Herz und
Kultur“. Natürlich sollen auch die Bürger beteiligt werden, „zielgerichtet“
wohlgemerkt, damit sie nicht kreuz und quer einfach frei ihre Gedanken spielen
lassen. Dabei entsteht Marke von innen nach außen, manchmal von unten nach oben,
bestenfalls gemeinsam, auf keinen Fall von oben nach unten verordnet. Und Marke
braucht mehr als schöne Worte. Das kann man ganz gut an der Nachbarstadt
Tübingen erkennen. Die Stadtentwicklung verfolgt dort seit vielen Jahren klare
Ziele und definiert Inhalte. So wurde die Marke Tübingen geschärft, ganz ohne
Markenbildungsprozess. Und schließlich es gibt mit Boris Palmer einen
Markenbotschafter, der die Inhalte streitbar und fröhlich in die Welt trägt,
auf das jeder und jede Tübingen kennt.
Übrigens gab es in Reutlingen schon mal einen
Markenbildungsprozess und sogar eine Art Leitbildentwicklung. Erinnert sich
noch jemand an das Forum Reutlingen und sein Bürgerbeteiligungsspiel Reutlingen Quo Vadis ?! Das war 2008 und
2009 und verschwand anschließend in der Versenkung, dabei war seinerzeit sogar
so etwas wie eine Aufbruchstimmung in der Stadt zu erspüren. Möglicherweise hat
die Oberbürgermeisterin sich daran erinnert. Heute wirft die ganz neu aus der
Kiste gezauberte Idee vor allem die Frage auf, warum jetzt und nicht vor 14
Jahren (nach dem Amtsantritt), 10 Jahren (nach dem Wettbewerb Stadthalle und
Bruderhausareal), 8 Jahren (Reutlingen Quo Vadis?!) oder nach 6 Jahren
(Wiederwahl). Warum jetzt? Und worauf soll die Marke aufbauen – auf welchen
Inhalten und Zielen? Was wirklich fehlt in Reutlingen, ist ein Leitbild,
welches die Rahmenbedingungen für die Stadtentwicklungspolitik und den
Städtebau formuliert. Sonst werden nur weiter planlos Hochhäuser gebaut. Dabei
ist dieser Trend, der ja ohnehin noch nie für vorausschauende, kluge
Stadtentwicklung stand, schon wieder vorbei, doch in Reutlingen kommt eben
manches später (und das ist ein anderes Thema).
Es hilft also nur eins: Mund aufmachen, einmischen, damit es
nicht endet wie bei des Kaisers neuen Kleidern.
Bildertanz-Foto: Klaus Bernhardt
1 Kommentar:
also "gustav" was de do schraibscht gfallt mir.
ich lese diesen blog sehr gerne, hab vieles gelernt, manches dejavu gehabt und oft geschmunzelt.
ihr beitrag ist sicher eine bereicherung hier.
als ich anfang der 70iger von einem vorortsdorf in die altstadt reutlingens zog war das für mich die welt. besser konnte ich es mir damals gar nicht vorstellen.
weingärtnerstrasse ganz oben an der wilhelmstrasse ich höre noch heute die zufallende haustür und das klackern des lichtschalters im stiegenhaus. ich erinnere mich an die ratten die sich über das gemüse des türkischen händlers hermachten, der im erdgschoss einen laden hatte.
die wohnung hatte gerademal stehhöhe, durch die türen gings nur gebückt. holz machte 2 mal warm, beim hochtragen und im kanonenofen.
genau das richtige für unsere yuppies.
ich erinnere mich auch noch an endlose diskussionen im städtebaulichen arbeitskreis der jusos. richard reschl war unser häupltling. viele gute ideen, viele vorschläge. aber leider wurde kaum etwas realisiert. es war die zeit als das gerberviertel renoviert wurde oder gerade fertig war.
veränderungen in den städten gehen immer einen schwierigen weg, manchmal gehts gut aus... manchmals gefällts, manchmal nicht.
schönen sonntag
ernst
Kommentar veröffentlichen