Freitag, 16. Dezember 2016

Die Gegenrede eines Reutlingers: Das Unbehagen in der Kultur einer Stadt



zu: Reutlingen – die Stadt, die wir vielleicht unterschätzen ….
Per Email erhielten wir diese Antwort auf R. Vollmers "unzeitgemäßen Betrachtungen" am vergangenen Samstag. Der Autor ist der Redaktion bekannt, möchte aber ungenannt bleiben.Wir respektieren dies. Hier hat sich jemand viele Gedanken gemacht, die eigentlich - wie alles, was so im Bildertanz erscheint - zeigen, dass die Menschen bei all ihrer Kritik an der Stadt (oder an uns vom Bildertanz) zugleich eine hohe Identifikation mit der Entwicklung in ihrer Heimat pflegen. Sie lieben ihre Heimat. Vor diesem Hintergrund ist auch dieser Beitrag eines Reutlinger Bürgers zu lesen.
Eine Gegenrede. Vielleicht.

Von Gustav (statt der drei Sternchen, die wir vorher hier hatten. Nun hat der Autor ein Pseudonym)

Reutlingen, die Stadt, die wir vielleicht unterschätzen: Kluges und Überdenkenswertes, wie eigentlich immer in diesem Blog. Dennoch der Versuch einer Gegenrede. Vielleicht auch einer Mitrede.
Der Bildertanz mit seinen alten Bildern singt das Hohelied auf das alte Reutlingen und auf scheinbar vergessene Zeiten. Das untergegangene Reutlingen, welches wir dann durch unsere modernen, wohlstandsverwöhnten Brillen romantisch verklären und dabei großzügig den jeweiligen zeitpolitischen Kontext ausklammern. Beispiel Klein-Venedig. Ja, schade, dass es diese Postkartenidylle nicht mehr gibt. Wobei das Wohnen und Arbeiten in den feuchten, engen und dunklen Häusern bestimmt kein Zuckerschlecken war. Dennoch schade. Würde der Stadt heute gut stehen. Weichen musste das Idyll für die 6 spurige Bundesstraße. Diese autobahnähnliche Straßenschneise war seinerzeit (und ist es auch heute noch) von Vielen gewünscht. Möglich wurde sie, weil das Reutlingen der 1960er und 1970er Jahre dynamisch wuchs und wirtschaftlich stark war. So war es eben schon immer und ist es auch heute: wirtschaftliche Prosperität befördert Bau- und Abrisswut. Vieles, was der Krieg noch verschont hatte, ging im Fortschrittswahn des Aufschwungs unter. Dabei entstand nicht nur Schlechtes. Ein Beispiel dafür ist der „alte“ Listplatz – der gar nicht so alt ist - ein städtebaulich gelungenes Ensemble der frühen 1950er Jahre mit Park, Hotel und Brunnen, dessen Niedergang schon lange vor dem Verschwinden des Brunnens mit dem Abriss des Parkhotels begann. Vielleicht ist der Listplatz für viele Menschen deshalb so bedeutsam, weil er vom Aufschwung, von der einstigen wirtschaftlichen Stärke der Stadt und den eigenen Wünschen und Sehnsüchten der Nachkriegszeit zeugt. Vergessen wird darüber der eigentliche historische Platz aus dem 19. Jahrhundert - auch dieser in einer Zeit des Aufbruchs entstanden. Alt ist wohl nicht gleich alt.
Es reicht nicht, mit feuchten Augen in alten Bildern zu schwelgen, auch wenn das über den Unbill unserer unübersichtlichen Jetztzeit hinwegtrösten kann. Doch glücklicherweise gibt es neben den Bildern auch immer wieder Texte - eine intellektuelle Bereicherung und kritischer Korrektiv der Stadtentwicklung.
Diesmal unter anderem über die städtischen und „sonstwoher“ Experten und ihre Herkunft. Die Feststellung, dass alle Bürgermeister nicht aus Reutlingen stammen, wirft nun aber genau die Frage auf, wann und wie man überhaupt Reutlinger wird: durch die Wahl des Wohnortes, die Geburt in Reutlingen, durch ein Leben in zweiter, besser dritter Generation oder noch sicherer, mit einem Stammbaum, der bis in die reichsstädtische Zeit zurückgeht? Oder bekommt man die Stadtrechte mit einer Art Ritterschlag verliehen, dann, wenn man ausreichend geleistet hat für das Wohl derselben?
Die Frage, ob sich Qualität daran messen lässt, ob jemand aus Reutlingen stammt, ist naheliegend und dennoch abwegig, vor allem wenn man berücksichtigt, dass das Kommen und Gehen schon immer der städtischen Lebenswirklichkeit entsprach, in Reutlingen zum Beispiel im 19. Jahrhundert mit Jahren der Stagnation und des Wegzug - und nach 1945 mit einen gewaltigen Zuzug aus dem Osten. Sind also all die Orschel-Hagener Neubürger der 1950er Jahre keine Reutlinger? Gustav Werner und Eduard Lucas waren keine gebürtigen Reutlinger und haben doch Reutlingen maßgeblich geprägt. Waren sie keine Reutlinger? Und umgekehrt, wäre Friedrich List, Reutlingens berühmter Sohn, der geworden, der er war, wenn er wie geplant seine Ausbildung zum Weißgerber bei seinem Vater abgeschlossen hätte und in Reutlingen geblieben wäre? Wäre Claus Peter Lumpp der Sternekoch geworden, wenn er nicht nach Baiersbronn gegangen und in Reutlingen geblieben wäre?
Möglicherweise ist die Frage der Herkunft zweitrangig. Vielmehr sollte es darum gehen, einen Ort für sich zu finden, an dem man gern lebt, mit dem man sich identifiziert, für dessen Entwicklung man sich einsetzt. So ein Ort kann Reutlingen sein – auch für die städtischen Experten und auch all die Experten von sonstwo. Voraussetzung ist, dass es ihnen auch wirklich um Reutlingen geht, dass sie nicht abgehoben in ihren Türmen sitzen, sondern mit den Bürgern diskutieren und ihnen zuhören, dass sie die Geschichte Reutlingens nicht nur routiniert auswendig aufsagen können, sondern sich mit ihr auseinandersetzen. Zum Beispiel mit Klein-Venedig und was wir aus seinem Abriss heute und für die Zukunft Reutlingens lernen können. Heute, wo der Stadt, wenn man den Worten der Oberbürgermeisterin in der Haushaltsrede gelauscht hat, wieder eine dynamische Entwicklung bevorsteht. Hoffentlich ohne weitere Abrisse!
Tatsächlich kann einem das, was da in der Haushaltsrede gesagt und geschrieben wurde, starkes Unbehagen bereiten. Da ist von Form die Rede und wenig von Inhalt. Da werden „strategische Gesamtziele“ ausgerufen, die mit Strategie wenig zu tun haben, egal wie oft man das Wort Strategie auch dahersagt. Kinderbetreuung, Wohnraumschaffung, Erhalt bestehender Infrastruktur und Unterbringung, Betreuung und Integration von Flüchtlingen sind entweder selbstverständliche Aufgaben und wurden lange vernachlässigt oder sind gesellschaftlich notwendig. Es sind Aufgaben, die rein gar nichts über die Qualität und das Lebensgefühl von Reutlingen aussagen. Auch das neue Stadtbuskonzept ist keine Strategie, sondern längst überfällig. Es kommt auf das Wie an. Die Idee der Großstadt allein trägt, wie auch der Bildertanz richtigerweise feststellt, nicht.
Deshalb muss jetzt eine Marke her - und aufgepasst: „Marke ist dabei weitaus mehr als ein Leitbild oder ein Logo und gründet auf den vorhandenen Stärken einer Stadt.“- schreibt und spricht die Oberbürgermeisterin. Und weil eine Marke vermeintlich so viel mehr ist als ein Logo oder ein Leitbild, wird der „Markenbildungsprozess“ (was für ein Wortungetüm) durch das Stadtmarketing durchgeführt. Das Ergebnis lässt sich schon jetzt erahnen: „Reutlingen, die sympathische Großstadt mit Herz und Kultur“. Natürlich sollen auch die Bürger beteiligt werden, „zielgerichtet“ wohlgemerkt, damit sie nicht kreuz und quer einfach frei ihre Gedanken spielen lassen. Dabei entsteht Marke von innen nach außen, manchmal von unten nach oben, bestenfalls gemeinsam, auf keinen Fall von oben nach unten verordnet. Und Marke braucht mehr als schöne Worte. Das kann man ganz gut an der Nachbarstadt Tübingen erkennen. Die Stadtentwicklung verfolgt dort seit vielen Jahren klare Ziele und definiert Inhalte. So wurde die Marke Tübingen geschärft, ganz ohne Markenbildungsprozess. Und schließlich es gibt mit Boris Palmer einen Markenbotschafter, der die Inhalte streitbar und fröhlich in die Welt trägt, auf das jeder und jede Tübingen kennt.
Übrigens gab es in Reutlingen schon mal einen Markenbildungsprozess und sogar eine Art Leitbildentwicklung. Erinnert sich noch jemand an das Forum Reutlingen und sein Bürgerbeteiligungsspiel Reutlingen Quo Vadis ?! Das war 2008 und 2009 und verschwand anschließend in der Versenkung, dabei war seinerzeit sogar so etwas wie eine Aufbruchstimmung in der Stadt zu erspüren. Möglicherweise hat die Oberbürgermeisterin sich daran erinnert. Heute wirft die ganz neu aus der Kiste gezauberte Idee vor allem die Frage auf, warum jetzt und nicht vor 14 Jahren (nach dem Amtsantritt), 10 Jahren (nach dem Wettbewerb Stadthalle und Bruderhausareal), 8 Jahren (Reutlingen Quo Vadis?!) oder nach 6 Jahren (Wiederwahl). Warum jetzt? Und worauf soll die Marke aufbauen – auf welchen Inhalten und Zielen? Was wirklich fehlt in Reutlingen, ist ein Leitbild, welches die Rahmenbedingungen für die Stadtentwicklungspolitik und den Städtebau formuliert. Sonst werden nur weiter planlos Hochhäuser gebaut. Dabei ist dieser Trend, der ja ohnehin noch nie für vorausschauende, kluge Stadtentwicklung stand, schon wieder vorbei, doch in Reutlingen kommt eben manches später (und das ist ein anderes Thema).
Es hilft also nur eins: Mund aufmachen, einmischen, damit es nicht endet wie bei des Kaisers neuen Kleidern.
Bildertanz-Foto: Klaus Bernhardt

1 Kommentar:

Unknown hat gesagt…

also "gustav" was de do schraibscht gfallt mir.
ich lese diesen blog sehr gerne, hab vieles gelernt, manches dejavu gehabt und oft geschmunzelt.
ihr beitrag ist sicher eine bereicherung hier.
als ich anfang der 70iger von einem vorortsdorf in die altstadt reutlingens zog war das für mich die welt. besser konnte ich es mir damals gar nicht vorstellen.
weingärtnerstrasse ganz oben an der wilhelmstrasse ich höre noch heute die zufallende haustür und das klackern des lichtschalters im stiegenhaus. ich erinnere mich an die ratten die sich über das gemüse des türkischen händlers hermachten, der im erdgschoss einen laden hatte.
die wohnung hatte gerademal stehhöhe, durch die türen gings nur gebückt. holz machte 2 mal warm, beim hochtragen und im kanonenofen.
genau das richtige für unsere yuppies.
ich erinnere mich auch noch an endlose diskussionen im städtebaulichen arbeitskreis der jusos. richard reschl war unser häupltling. viele gute ideen, viele vorschläge. aber leider wurde kaum etwas realisiert. es war die zeit als das gerberviertel renoviert wurde oder gerade fertig war.
veränderungen in den städten gehen immer einen schwierigen weg, manchmal gehts gut aus... manchmals gefällts, manchmal nicht.
schönen sonntag
ernst