Sonntag, 16. April 2017

Reutlingens Plätze im Zeitsprung (5): Der Marktplatz



Bildertanz-Quelle: Fritz Haux, Volker Kleinfeldt, Alfred Betz, Eugen Steinhilber, Roland Rilling













Von Raimund Vollmer
War Reutlingen früher schöner? Diese Frage bewegt uns Bürger offensichtlich ziemlich stark - vor allem, wenn wir unser Paradestück, den Marktplatz, vor Augen haben. Dass wir nach der Schönheit fragen, daran ist sicherlich der Bildertanz nicht ganz schuldlos - und macht wahrscheinlich inzwischen auch so manchen Stadtplaner und Stadtvater hilflos (was beide natürlich nie zugeben würden). Es waren immer die Profis, die in Reutlingen - und nicht nur hier - entschieden. So entstand ja das Rathaus, bis heute umstritten in der Bevölkerung.  Nicht wir, die Bürger, gestalten diese Stadt, wir sind die Amateure. Eigentlich werden wir noch nicht einmal gefragt. Unsere Meinung interessiert kaum. Am Ende entscheidet der Investor, der Bauherr. Und der guckt aufs Geld, nicht auf die Schönheit. Sie ist vielleicht auch gar nicht so wichtig, stattdessen sogar eher gefährlich.
Denn mit der Frage nach der Schönheit könnten wir uns selbst in die Irre führen. Möglicherweise müssten wir fragen: Welche Stadt ist authentischer, die von vor 30, 40, 50 Jahren oder die von heute?

Ich persönlich fand die alte Stadt authentischer, echter, ehrlicher, aber nicht schöner. Mehr noch: die Frage, ob RT überhaupt schön sei oder nicht, habe ich mir, der 1970 erstmals in dieser Stadt war, eigentlich nie gestellt, allenfalls im Vergleich mal zu Tübingen. Das Reutlingen, das ab 1975 mehr und mehr mein Zuhause wurde, war für mich irgendwie eine Selbstverständlichkeit. Ich habe auch nicht mehr erwartet. Reutlingen war für mich tiefstes 20. Jahrhundert, das zur Hälfte ich durchleben durfte. Eine Stadt der Arbeit, ein bisschen spießig, provinziell, solide, auf keinen Fall Avantgarde. Wo sie es versuchte, wirkte sie eher lächerlich, passte nicht zu ihr, war nicht authentisch. 
Am Rande dieser Stadt wuchsen meine Kinder auf, fuhr man sie wöchentlich ins Ballett, ins Zentrum. Samstags ging es dann zu Ha und Em oder so. Auf den Gedanken, einen Sonntagsspaziergang durch die Stadt zu machen, kamen wir eher selten. Man lebte hier. Die Kinder wurden groß. Die Stadt als Stadt rückte näher.
Ja, und dann entdeckte ich die alten Bilder, und die alten Bilder entdeckten mich. Da war die Volksbank, die unsere Projekte unterstützte. Dann gab es Leute wie den Werner Früh, der schon immer gesammelt hatte und so viel über die Stadt weiß, oder den Wolf-Rüdiger Gassmann, der sein Herz nicht nur an der Straßenbahn verloren hatte, sondern alles mit Leidenschaft begutachtet. Da kam der Hermann Rieker dazu, der seine große Liebe zu dieser Stadt stets mit Distanz und Resistanz ausdrückt.  Oder der kluge Fritz Haux, der uns Bilder besorgte aus einer Zeit, in der wir alle noch gar nicht gelebt haben. Und neuerdings ist Roland Sedelmeyer dabei - er hat die Gabe, immer wieder das Schöne an Reutlingen zu entdecken. Trotz allem. Wunderbar.
Immer mehr Menschen stießen zu uns und gaben uns ihre Fotoschätze. Helmut Akermann überließ uns einen Riesenschatz. So entstand in unseren Bildern ein Reutlingen, das es in der Gleichzeitigkeit der Fotos so nie gegeben hat. Ein Marktplatz der Bilder - fast so, wie unsere mehr zufällig zusammengestellte Bilderschau oben. Aber geben diese Bilder auch eine Orientierung?

Unsere Stadt verlässt das Bild des 20. Jahrhunderts, ohne zu wissen, wie das 21. Jahrhundert aussehen wird, obwohl wir jetzt schon seit mehr als 16 Jahren darin wohnen. Reutlingen hat keine Ahnung von sich selbst und seiner Zukunft. Das ist das ganze Dilemma. Wir wissen, was wir nicht sind: keine Science City, keine Industriestadt, keine Modestadt, kein Outlet-City. 
Wir, die Bürger, sind eigentlich ratlos. Und wir überspielen das mit der Frage nach der Schönheit. Dabei ist Schönheit überhaupt nicht das Kriterium. Schönheit ist angesichts unseres institutionellen Wohlstandes eine Selbstverständlichkeit, die leider in Reutlingen nicht immer eine Selbstverständlichkeit ist. 
Die Frage aller Fragen lautet: Welche Stadt wollen wir? Da fehlen die Antworten. Da wird es - um ein Lieblingswort der Baubürgermeisterin Ulrike Hotz zu benutzen - "spannend". Leider ist dies ein Ersatzwort für: "Ich weiß es nicht." Dies anzuerkennen, auch vor uns selbst, wäre ein Riesenfortschritt in dieser Stadt, die sich selbst in dieses Jahrhundert hinein neutralisiert. Weder Fisch, noch Fleisch. 
Frohe Ostern



Bildertanz-Quelle:

1 Kommentar:

Werner Früh hat gesagt…

Klasse geschrieben und erkannt, Raimund. Spannend ;-)