Dr. Katrin Korth war bis Ende 2016 stellvertretende Leiterin des Tiefbauamtes in Reutlingen. Unsere Stadt liegt ihr immer noch am Herzen, auch wenn sie nicht mehr hier tätig ist. Ein Essay von Raimund Vollmer hier im BILDERTANZ-BLOG hat inklusive der Kommentare auf Facebook "Unbehagen" bei ihr erzeugt. Und so hat sie sich hingesetzt, um diesem Unbehagen Ausdruck zu geben. Aus diesem Unbehagen wird - für uns - ein Lesevergnügen. Die Bilder, mit denen wir Korths Beitrag schmücken, sind aus dem Bildertanz-Album von Fritz Haux. Ob Frau Doktor sie auch ausgewählt hätte... (RV)
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Wieder ein klugkritischer Bericht im Bildertanz über das
Unbehagen mit moderner Architektur und Stadtplanung, über wahnwitzige Ideen von
Architekten, über Tradition und Moderne, das Verhältnis von Architektur und
Macht, über die Rückkehr des Hochhauses in die Stadt und die Vielfalt des
Lebens. Wunderbar. Nach wie vor ist der Bildertanz in Reutlingen einer der
wenigen Orte und damit viel mehr als nur ein soziales Medium, an dem der
Diskurs über Stadtentwicklung in Reutlingen versucht wird. Das macht ihn so unersetzbar.
Gleichzeitig erzeugen die Beiträge und Diskussionen mitunter
ein Unbehagen bei mir. Viel pauschales „Alles schlecht heute“ und „böse
Stadtplaner und Bürgermeister, die alles Schöne abreißen“. Auch im aktuellen
Beitrag fand sich dieser Unterton, dass den Bürgerinnen und Bürgern schreckliche
moderne Architektur und Stadtplanung übergestülpt würde und sie dem hilflos ausgesetzt
wären.
Wird Architektur und Stadtplanung den Menschen übergestülpt?
Charlie Bildertanz richtete den Blick auf die letzten 50 Jahre mit schönen
Beispielen und Zitaten wie dem, dass der Krieg eigentlich viel zu wenige Häuser
zerstört habe, welches Oskar Kalbfell zugeschrieben wird - und dass ich auch von
mehreren anderen, zum Teil namhaften Stadtplanern, Politikern und Bürgermeistern
aus dieser Zeit kenne. Dem von (vermeintlich) gesichtsloser Stadtplanung geplagten
Reutlinger spricht das aber sicher aus der Seele: seht, bei uns ist es schon immer
am Schlimmsten. Ist es nicht, besuchen Sie mal Darmstadt, danach wird Ihnen
Reutlingen wie ein Kleinod vorkommen.
Der Blick auf die letzten 50 Jahre reicht für die
berechtigte Kritik an der Moderne nicht. Architektur und Stadtplanung der
Nachkriegszeit und ebenso die schrecklichen Auswüchse heute sind nicht zu
verstehen ohne das 19. Jahrhundert und das gigantische Wachstum der Städte, die
Enge und den Schmutz, die furchtbaren sozialen und hygienischen Zustände ohne
sauberes Trinkwasser mit verschlammten Straßen und schmutzigen Fabriken, welche
Abgase und Abwasser ungereinigt über die Menschen ergossen. Die aktuellen
Feinstaubbelastungen sind dagegen ein Fliegenschiss. Architektur und
Stadtplanung der Nachkriegszeit sind auch nicht zu verstehen ohne Berücksichtigung
der sozialen Bewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wie Gartenstadt-
und Volksparkbewegung und das Neue Bauen, vor allem aber nicht ohne die Charta
von Athen aus dem Jahr 1933. In ihr wurde die funktionsräumliche Trennung von Arbeiten,
Wohnen, Erholen und Bewegen als städtebauliches Leitbild festgeschrieben, die
im Grunde genommen bis heute praktiziert wird. Ziel war die Beseitigung
sozialer Missstände, Nebeneffekt war eine gigantische Zerschneidung von
Stadträumen mit riesigen Verkehrsmagistralen, weiten Wegstrecken zwischen
Arbeit und Wohnen - und infolge dessen immer leistungsfähigere technische
Fortbewegungsmittel (S-Bahn, U-Bahn, Straßenbahn). Auch das Auto wäre ohne die
funktionsgetrennte Stadt nicht denkbar – enge Altstadtgassen brauchen kein Auto,
die funktionsgetrennte Stadt mit ihren weiten Wegen schon. Die
funktionsgetrennte Stadt hat den Niedergang der Innenstädte und Städte beschleunigt,
die Großsiedlungen mit öden Blocks und Hochhäusern sind sichtbare Zeichen
dieser Zeit. Nicht zuletzt deshalb setzte in den späten 1960er Jahren eine
breite gesellschaftliche Debatte über den Niedergang der Städte ein (neben
Bürgerinitiativen, Architekten, Stadtplaner und selbst der Deutsche Städtetag).
In der Folge wurden Landesdankmalschutzgesetze verabschiedet und erste
städtebauliche Erneuerungsprogramme zur Vitalisierung der historischen Stadtkerne
aufgelegt. Dass sich aktuell in einigen Städten (und auch in Reutlingen) die
Wiederkehr des Hochhauses gefeiert wird, ist eine unglückselige Fußnote der jüngeren
Geschichte, wider besseren Wissens, was qualitätsvolle Stadtplanung bedeutet.
Hochhäuser zu errichten, um die Rückkehr der Menschen in die Stadt und das
Wachstum der Städte zu bewältigen, ist das Dümmste, was man tun kann, denn Dichte
und Urbanität lässt sich damit nicht erzeugen. Für die Stadt sind Hochhäuser eine
Katastrophe, sie sind lebensfeindlich, zumindest wenn man eine lebendige Stadt
im Sinne des Leitbildes der europäischen, urbanen Stadt will. Auch fürs
Stadtklima sind Hochhäuser schlecht. Und wie man sich als Mensch zwischen den
verschatteten Beton- und Glasfassadenschluchten fühlt, kann man in Frankfurt
erleben. Nur aus der Entfernung hat das Hochhaus einen gewissen Charme. Doch die
Skyline ist eben nur ein Abbild der Stadt und nicht die Stadt selbst.
Der Krieg hat beim Niedergang der Stadt eine eher geringe
Rolle gespielt - die Zeit der großen Stadtzerstörung war die Nachkriegszeit.
Einen gewichtigen Teil am Niedergang der Stadt hatte und hat die autogerechte
Stadt, das lässt sich in Reutlingen bis heute gut ablesen. Sechsspurige und
achtspurige Straßen sind kein Lebensraum, sie sind Platzverschwendung. Für
diese Straßen wurde viel Stadtraum zerstört und keine noch so gut gelungene moderne
Bebauung kann das wieder gut machen. Möglicherweise fragt man sich an dieser
Stelle, wie denn die vielen Menschen in die Stadt kommen sollen ohne Auto. Ich
kenne nicht wenige Menschen in Reutlingen, deren Arbeitsweg weniger als 5 km lang
ist (und bei diesen Wegen ist das Fahrrad eindeutig im Vorteil) und die dennoch
jeden Tag das Auto nutzen, manchmal mit der Begründung eines schlechten ÖPNV,
oft aber aus reiner Bequemlichkeit. Übrigens (auch das ist eine Fußnote der
Geschichte, allerdings mit besserem Ausgang) sollte auch die Tübinger Altstadt nach
dem Krieg abgerissen werden, nur Rathaus, Schloss und Kirche sollten stehen
bleiben, auf dass die Stadt autogerecht werde. Welch ein Glück, dass dies nicht
passiert ist, der erwartete Verkehrskollaps ist auch ausgeblieben, auch wenn
das manch einer immer noch anders sieht. Dafür entstand eine Stadt mit hoher
Lebensqualität.
Aus dem fachlichen Blickwinkel heraus ist es allerdings
problematisch, dass sich Stadtplanung und Architektur mitunter schwer tun mit
dem Bestand und viel lieber neu bauen. Das war früher so und ist heute immer
noch nicht viel besser. Einer der wenigen, dem beispielsweise in Reutlingen ein
guter Umgang mit der vorhandenen Bausubstanz gelungen ist, war Prof. Engels,
der frühere Baubürgermeister. Die funktionsgerechte Stadt war damit für Politiker,
die offensichtlich am liebsten Einweihungen feiern, sondern auch für viele
Stadtplaner ein Segen, so konnten sie sich im Neubau austoben. Gleichwohl hat
die funktionsgetrennte Stadt auch Gutes hervorgebracht , die Wohnqualität ist
deutlich gestiegen, es gibt in den Stadtvierteln ausreichend Grün- und Freizeitflächen,
Abwasserentsorgung funktioniert, schließlich wurden schmutzige Industrien aus
den Innenstädten und Wohnquartieren verbannt.
Nun kann man noch beklagen, dass die Stadtplanung in der Vergangenheit
und auch der Nachkriegszeit nicht demokratisch sondern von oben verordnet war.
Und trotz formeller Beteiligungsinstrumente scheint sie auch heute noch
vielfach undemokratisch zu sein. Gleichzeitig ist das mit der Demokratie so
eine Sache, denn manches lässt sich nur schwerlich demokratisch entscheiden.
Fahre ich mit dem Auto zur Arbeit, wird mein Interesse in gut ausgebauten
Straßen und grünen Wellen liegen. Laufe ich zu Fuß oder lebe an einer vielbefahrenen
Straße, leide ich wahrscheinlich unter dem Gestank der Abgase und wünsche mir
die Autos (vor meiner Haustüre) weg. Betrachte ich mein Ladengeschäft in der
Innenstadt, dann möchte ich viele Parkplätze direkt vor der Tür. Betrachte ich
die gesamte Altstadt, dann sind Parkplätze für die Erlebbarkeit der Stadt höchst
abträglich. Es braucht also eine Abwägung, fachlich und politisch.
Unser Blick auf Architektur und Stadtplanung hat dennoch viel
mit unserer persönlichen Wahrnehmung und unserer eigenen Haltung zu tun. Wir
haben als Menschen alle – jeder auf seine oder ihre Art (ich nehme mich da
nicht aus) – einen Beitrag geleistet, dass die Städte heute sind wie sie sind.
Wir wollen das großzügige Einfamilienhaus im ruhigen Ortsteil mit Parkplatz
direkt vor dem Haus anstatt beengt in der Innenstadt zu leben. Wir wollen möglichst
verkehrsgünstig an den Schnellstraßen leben, doch abgeschieden genug, dass der
Verkehrslärm nicht stört. „Alle“ lieben historische Altstädte, und dennoch
wollten nicht wenige Besitzer (Alteingesessene übrigens überwiegend)lieber am
ruhigen Stadtrand wohnen, haben ihre Immobilien lange Zeit sträflich
vernachlässigt und häufig den maximalen Profit bei der Vermietung herausgezogen
oder die Gebäude wenig sensibel verändert. Und wer will schon in Häusern mit
steilen Treppenstiegen, dunklen Zimmern und Deckenhöhen von unter zwei Metern
leben? Wir bestehen auf maximaler Individualität (z.B. freie Fahrt für freie
Bürger, kostenlose Parkplätze für alle), auch wenn wir eigentlich wissen
sollten, dass dies dann zu Lasten anderer Dinge geht, meistens derjenigen, die
keine Lobby haben. Wir wünschen uns individuelle Architektur und wohnen selbst
oft freiwillig in gesichtslosen Häusern, quadratisch, praktisch gut. Wir wollen
eine durchgrünte, baumbestandene Stadt mit Staudenbeeten und Sommerflor, selbst
fällen wir aber die großen Bäume auf unserem Grundstück, denn sie machen Arbeit
(alternativ pflanzen wir erst gar keine), wir legen in unseren Vorgärten
Schotterflächen an, die mit Beet so rein gar nichts mehr zu tun haben, weil das
so praktisch ist und verzichten auf die Geranien auf dem Balkon, denn die
machen auch nur Arbeit. Wir stören uns am Verkehrslärm und legen jeden noch so
kurzen Weg mit dem Auto zurück.
Wir sind Teil des Systems. Und welche Architektur und
Stadtplanung wünschen wir uns nun? Bei dieser Antwort blieb Charlie leider
etwas schwammig: die Vielfalt des Lebens, nun ja. Ich nenne es lebenswerte
Stadt (nach Jan Gehl, der dazu viel Kluges geschrieben und auch geplant und
gebaut hat). Um herauszufinden, was lebenswerte Stadt sein kann, hilft der
Blick auf die historische Stadt und gleichzeitig die Beobachtung der Menschen
und ihrer Vorlieben und Bedürfnisse. Lebenswerte Stadt inszeniert die Übergänge
zwischen Innen und Außen, schafft Nutzungsmischung und individuelle
Wohnungsgrundrisse für eine vielfältige Bewohnerschaft. Der Schlüssel ist das
Zusammenspiel von aktiver, sozial indizierter Wohnraum- und Freiraumentwicklung.
Lebenswerte Stadt redet nicht nur von „Stadt der kurzen Wege“, sondern schafft
Quartiere, in denen die Erdgeschosse öffentlich genutzt werden durch Cafés,
Restaurants, Läden, Arztpraxen, Büros und Werkstätten. Lebenswerte Stadt
braucht Parzellen und eine kleinteilige Architektur, den klaren Nutzen eines
Bauvorhabens für das Quartier und nicht die ewig gleichen Gebäude und Gebäudefluchten
in weiß/grau/schwarz. Lebenswerte Stadt plant und baut breite Fuß- und Radwege,
hat einen guten ÖPNV (auch abends und nachts) der Stadtbaum ist wichtiger als
eine überbreite Straßenkreuzung und es gibt Stadtplätze, die nicht nur
Steinwüsten sind, sondern zum Aufenthalt einladen. So entsteht Vielfalt - bei
den Häusern, im Stadtraum und bei den Menschen. Und so entsteht eine Stadt, in
der die Menschen gern und freiwillig draußen sind und sich begegnen, denn das
will Stadt letztlich sein: die Möglichkeit der Begegnung. All das fördert
wiederum die Sicherheit, denn was nutzt es, dass beispielsweise Reutlingen eine
der sichersten Großstädte Deutschlands ist, doch nach 19.00 Uhr die Straßen leer
sind, was vor allem Angst erzeugt. Aber
vielleicht sollen ja die Menschen daheim bleiben?
Darüber braucht es eine Diskussion, und dafür braucht es stadtplanerische
Instrumente, die es ja alle gibt, die man eben nur anwenden muss. Dann verträgt
eine Stadt auch sehr gut Investoren, die meiner Auffassung jede Stadt braucht,
die aber klare Vorgaben benötigen über das, was eine Stadt will (Mir hat
übrigens mal ein Architekt gesagt, dass man sich in Reutlingen nicht anstrengen
müsste, denn die Stadt genehmigt eh alles und dass die Investoren und
Architekten ganz gut auch mit mehr Vorgaben leben könnten). Es braucht ein
Leitbild für die Stadt, und hierbei geht es nicht um das Positionieren von
Häusern im Stadtgrundriss oder die Anzahl der Kindergartenplätze, sondern um
die gewünschte Qualität der Stadt- städtebaulich, ökologisch, sozial. Aber,
auch das ist eine Bedingung für gute Stadtentwicklung, die lebenswerte Stadt
braucht Vorbilder, die genau das vorleben.
In eigener Sache:
Ich hätte diesen Text anonym schreiben können. Doch ich habe mich entschieden, ihn unter meinem Namen zu veröffentlichen, auch wenn möglicherweise der eine oder die andere empört denken wird: was will die denn noch? war nur kurz da, ist ohnehin keine Reutlingerin und jetzt sowieso nicht mehr da, „rübergemacht nach Tübingen“ und schließlich, was meckert sie jetzt herum, hätte es doch besser machen können. Doch das ist eine eigene und sehr spezielle Geschichte, die hier keine Rolle spielt. In den letzten Jahren habe ich versucht, einiges zu verändern, gemeinsam mit anderen Menschen. Manches ist gelungen, manches nicht. Eigentlich könnte ich Reutlingen vergessen. Doch aus vielerlei Gründen ist Reutlingen exemplarisch. Weil die Stadt überschaubar ist und Schönes und Schreckliches unmittelbar nebeneinander existieren, lässt sich an Entwicklung und aktuellem Zustand der Stadt viel Allgemeines ableiten. Stadtentwicklung und Stadtpolitik sind eben nicht nur schwarz-weiß. Und immer noch mag ich vieles an der Stadt: die Altstadt, die Parks (auch den Bürgerpark, der jetzt seinem Namen gerecht wird), die Feste und Märkte, die eine oder andere Kneipe und einige Menschen. Deshalb schreibe ich über Reutlingen, aber auch über andere Städte, über urbane Freiräume und Stadtentwicklung, hier und in meinem Blog platzmachen.com.
1 Kommentar:
*** Super!!
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