REUTLINGEN oder die Stadt der Zukunft (Teil 4)
Die Entdeckung der Langsamkeit
Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
An der Eberhardstraße in Reutlingen: Langsam geht's in die Zukunft |
Daimler-Anzeige 2002 in der Financial Times UK: Daimler und Maybach |
Vor 150 Jahren trafen sich in Reutlingens Bruderhaus
Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach. Eine Zeit fruchtbarer Zusammenarbeit zwischen
dem Erfinder und dem König der Konstrukteure begann. Das gehört zur Geschichte
des Autos - vor allem in unserer Stadt. Ob aber nun auch die Zukunft des "Auto-Autos"
hier geschrieben wird, des echten Selbstfahrers, mag man irgendwie nicht so
ganz glauben. Denn die Zukunft wanderte in diesem Jahr ostwärts - von
Reutlingen nach Dresden, wo Bosch für eine Milliarde Euro eine neue Chipfabrik
errichtet. 8000 Menschen arbeiten in Reutlingen für Bosch. Ein Sparprogramm,
bei dem 20 Prozent der Kosten eliminiert werden sollen, verunsichert seit Mitte
des Jahres die Belegschaft. 2000 Arbeitsplätze stünden zur Disposition. Der
Stellenwert des Standorts Reutlingens sinkt - und das in einer Zeit, in der
sich in der Automobilindustrie die größte Revolution seit Gottlieb Daimler und
Wilhelm Maybach abzeichnet. Dazu gehört weit oben das autonome Fahren.
Wenn man den Menschen als Fahrer nicht mehr braucht, dann
muss man ihn ja auch nicht mehr erwähnen. Als die vier Herren auf dem Podium
des Kongresses "Stadt der Zukunft", Veranstalter "Stuttgarter
Zeitung", sich dem Thema "Autonomes Fahren im Öffentlichen
Nahverkehr" stellten, fiel nur ein einziges Mal das Wort Mensch. So
fasziniert waren sie von der Technik - und davon, dass es auch ohne Menschen am
Steuer geht. Nicht dass die vier Herren arrogant oder gefühllos wirkten, im
Gegenteil sie waren mit viel Leidenschaft bei der Sache, aber der bevorstehende
Triumph der Technik bestimmte alles.
Berlin Alexanderplatz: Bald fahrerlos gar auch durch Reutlingen? |
Da war zum Beispiel Andreas Mäder, Geschäftsführer beim
Verkehrsverbund Großraum Nürnberg GmbH. Hier gibt es seit Sommer 2008 auf einer
3,5 Kilometer langen Strecke den fahrerlosen Betrieb einer U-Bahn, der U3.
"Völlig unspektakulär" nannte Mäder das autonome Tagesgeschäft. Und
das bei "99 Prozent Verfügbarkeit". Tolles Ergebnis. Ganz ohne
Fahrer. Das spart Geld. Viel Geld. Denn die Fahrer sind der größte Kostenfaktor
mit einem Anteil "von 60 bis 65 Prozent", berichtet Mäder. Ob die
Stadtbahn, so sie kommen mag, auch vollautomatisiert durch Reutlingen fährt?
Die Fortschritte sind auf diesem Gebiet plötzlich enorm.
Hartmut Schick, Vorsitzender des Geschäftsfeldes Busse bei der Daimler AG,
berichtet, dass sein Unternehmen 2016 in Amsterdam den ersten Bus auf die
autonome Strecke geschickt hat. "Über eine eigene Trasse" und 20
Haltestellen geht in der Hauptstadt der Niederlande die Fahrt, bei der
allerdings immer noch ein Fahrer an Bord ist. Doch der sei jetzt viel
entspannter, strahlt Schick. Im kommenden Jahrzehnt soll der Future Bus in
Serie gehen. Ob er wohl auch nach Reutlingen kommt? Und wie würde er die
Infrastruktur verändern? Wäre das gerade erarbeitete Tangential-Konzept dann
noch angemessen? Der ZOB war 1994 schon ein überkommenes Konzept, ist es nun bereits der neue Ansatz
ebenfalls? Zumindest der Ansatz Kleinbusse vermehrt einzusetzen, weist schon in
die richtige Richtung.
Platzhirsch "Auto" in der Kanzleistraße |
Allerdings: "Solange ein Fahrer in dem Auto sitzt,
bleiben die Kosten hoch", befindet Martin Schmitz, Geschäftsführer Technik
im Verband deutscher Verkehrsunternehmen, der das Thema inzwischen mit fünf
Unternehmen in Hamburg, München, Berlin, Wiesbaden und der Deutschen Bahn
angegangen ist. Erst mit der Stufe 5 wird die Selbststeuerung den Status erreicht
haben, bei dem man auf den Fahrer verzichten kann. Woran man jetzt arbeitet,
ist der Level 4, dem
"hochautomatisierten Fahren mit Fahrer", erklärte Steffen Braun,
Institutsleiter am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation
(IAO). Paradebeispiel dafür ist der Stadtstaat Singapur, wo die Bevölkerungsdichte
gemessen an Deutschland den Faktor 34 hat. Straßen beanspruchen zwölf Prozent
der Fläche, bei uns sind es nur bundesweit fünf Prozent. Hier geht das vollautomatische Fahren voll in die
Erprobung. Bei der U-Bahn hat nur noch die älteste Linie Fahrer, alles andere
surrt vollautomatisch durch die Stadt. Nun geht es experimentell weiter mit der
Abschaffung des Autos durch das "Auto-Auto", öffentlich genutzte,
automatische gesteuerte Kleinfahrzeuge.
Niemals fahrerlos unterwegs und Parkplatzsorgen gibt's eigentlich auch nicht. |
»Das Ende der Motorisierung ist erreicht, wenn das Parken mehr kostet als das Autofahren.«Peter Sellers, britischer Komiker
Erst der nächste Stepp sei "disruptiv", ein
Modebegriff, der zwar schon in den frühen 90er Jahren geprägt wurde, aber erst
jetzt alle von der Digitalisierung erfassten Branchen durchdringt.
Erfreulicherweise wurde er während der Tagung so gut wie gar nicht benutzt.
Nürnbergs ÖNPV-Chef Mäder meinte, dass im öffentlichen Nahverkehr die Frage
"Spur oder Nicht-Spur" entscheidend sei für Stufe 4 oder 5. Spurgeführt
ist es selbstverständlich einfacher. "In drei bis vier Jahren",
glaubt Schick, dass zumindest Stufe 4 den Stand der Technik bestimmen wird. Auf
absehbare Zeit werden wir uns noch darüber freuen dürfen, dass vorne jemand am
Lenkrad sitzt. Denn erst in zehn bis 20 Jahren wird die Stufe 5 allgegenwärtig
sein, meint der Verband der Verkehrsunternehmen.
Mit Tempo 10 durch die Wilhelmstraße 1973 Foto: Wolf-Rüdiger Gassmann |
Bei den Kosten ist also vorerst nicht viel zu gewinnen. Und
dann wird sichtbar, dass bei einer Ausweitung des öffentlichen Nahverkehrs die
Betreiber genau das Problem haben, das Hermann in seinem Vortrag zuvor
angeschnitten hatte: "Wir haben ein Platzproblem." Damit meint Mäder die
"Konkurrenzsituation durch die Verdichtung der Städte", die eine
Ausweitung der Busspuren und Trassen für den öffentlichen Nahverkehr und dessen
"große Gefäße", also Bus und Tram, erschwert. Aber brauchen wir denn
diese Trassen überhaupt? Braun (Fraunhofer-Institut) empfahl den verstärkten
Einsatz von Kleinbussen, wie sie nun auch schon eine Weile in Reutlingen
diskutiert werden. Dadurch könnten "30 Prozent der großen Busse
wegfallen". Und sicherlich wäre dies ein genialer Coup, wenn das
unterstützt würde durch das vollautomatische Fahren - schon wegen der Kosten.
Denn die Menge an Kleinbussen, die sogar nach On-Demand-Prinzipien durch den
Straßenverkehr navigieren, wird steigen und damit auch die Zahl der Fahrer. In
Helsinki war mit dem Konzept der Minibusse 2016 experimentiert worden, was aber
sich als "nicht wirtschaftlich" gezeigt habe, berichtet Daimler-Chef
Schick. Wer im Netz weiter recherchiert, wird erfahren, dass die Finnen
inzwischen vollautomatische Fahrzeuge ausprobieren - Minibusse, die mit einer
Höchstgeschwindigkeit von zehn Kilometern durch die Straßen zockeln. Übrigens
die Reutlinger Straßenbahn durfte - nach meinem Kenntnisstand - auch nicht
schneller durch die Wilhelmstraße fahren.
Parkplatznot? In Nürnberg - keine Spur |
Werden 10 km/h den Schirm bilden, unter dem dann vielleicht
in Deutschland auch das ein oder andere fahrerlose Experiment möglich wird? Vielleicht
würde damit auch in Reutlingen die Grüne Welle endlich Wirklichkeit. Ob dies
die Stauprobleme löst? Skepsis angebracht.
Immer wieder landen wir schlussendlich beim Problemkind Auto
mit seinen Parkraumansprüchen und seinen Leer-Fahrten. Um das zu ändern,
verlangte Mäder einen "verhaltenspsychologischen Ansatz". Car-Sharing
sei nur ein Teil der Lösung, Mitnahmezentralen auch. Da läge in den Städten die
Quote "im Promillebereich. Die Menschen sind nicht bereit, jemanden
mitzunehmen." Bestätigt Daimler-Manager Schick: "Da sind wir
Schlusslicht in Europa."
Schaut man dann hinter alle Argumente und unter alle
Diskussionsebenen, dann gerät man irgendwann zu des Pudels Kern: "Die
Frage ist doch: Wer investiert?", bringt es Schmitz vom Verband der Verkehrsunternehmen
auf den Punkt. "Und das ist zugleich auch eine Frage nach
Wettbewerb."
Parkhausschlucht der Messe Stuttgart: Was wird daraus, wenn wir dies nicht mehr brauchen? |
"Wir will man das hinkriegen?", steigt Mäder
sofort in diese Diskussion ein. Ist es die Privatwirtschaft, die sich dann die
besten Routen zu den attraktivsten Zeiten aussucht? Den Rest überlässt man dem
ÖNPV. Da seien "ethische Grundsätze" betroffen." Und die Frage
nach dem Investment beantwortet er mit einer Gegenposition: "Wir brauchen ein
System, das das irgendwo alles managt." Sicherlich - autonomes Fahren
kommt. Damit werde die Zeit der großen Einfallstraßen, die unsere Städte
zerschnitten haben, zu Ende gehen. Dann werde sich alles über das gesamte
Straßennetz verteilen. Straßenführungen, die heute - wie etwa in Tübingen - so
angelegt sind, dass sie nicht mehr als Durchgangsstraßen dienen können, werden
dann aber auch zurückgebaut. Und die Bewohnerparkplätze werden ebenfalls
zumindest reduziert. Vielleicht brauchen wir also doch nicht die breiten
Trassen und extra Busspuren, vielleicht investieren wir da in ein völlig
verquere Verkehrssystem. Vielleicht ist alles eher kleinteilig. Auf jeden Fall
wird im Jahr 2040 etwa die Hälfte des Verkehrs ausmachen, meint Braun vom
Fraunhofer-Institut.
Mag alles sein. Und die vier Herren hätten auch noch
stundenlang weiterdiskutieren können - und wären am Ende zum selben Schluss
gekommen, den dann der Daimler-Manager formulierte: "Wir brauchen eine
Vision."
Mein Next Bike ist ein E-Bike: Fahrrad-Sharing in Berlin |
Seine Firma hatte das mal. Vor 25 Jahren. Es ist die, über
die wir heute reden. Es war das Mobilitätskonzept des Edzard Reuter und seines
Integrierten Technologiekonzerns.
Es wird Zeit, dass sich Typen wie Daimler und Maybach wieder
treffen. Am besten in Reutlingen. Das Bruderhausgelände gibt es nicht mehr. Da
stehen jetzt die Stadthalle und ein paar Schnurbäume.
Alle Angaben nach bestem Wissen und Gewissen.
SERIE: STADT DER ZUKUNFT
TEIL I Einführung
TEIL II Kampf gegen die Parkplätze
TEIL III: Schadstoffe: Insel der Seligen - Nur Reutlingen nicht?
TEIL IV: Autonomes Fahren: Wohin steuert Reutlingen?
TEIL V: Elektro-Autos - Wann laden wir endlich Zukunft?Bildertanz-Quelle: Raimund Vollmer
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