Montag, 16. Oktober 2017

AUTONOMES FAHREN: Wohin steuert uns unsere Stadt?



REUTLINGEN oder die Stadt der Zukunft (Teil 4)
Die Entdeckung der Langsamkeit

Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
An der Eberhardstraße in Reutlingen: Langsam geht's in die Zukunft
 
Daimler-Anzeige 2002 in der
Financial Times UK:
Daimler und Maybach
Vor 150 Jahren trafen sich in Reutlingens Bruderhaus Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach. Eine Zeit fruchtbarer Zusammenarbeit zwischen dem Erfinder und dem König der Konstrukteure begann. Das gehört zur Geschichte des Autos - vor allem in unserer Stadt. Ob aber nun auch die Zukunft des "Auto-Autos" hier geschrieben wird, des echten Selbstfahrers, mag man irgendwie nicht so ganz glauben. Denn die Zukunft wanderte in diesem Jahr ostwärts - von Reutlingen nach Dresden, wo Bosch für eine Milliarde Euro eine neue Chipfabrik errichtet. 8000 Menschen arbeiten in Reutlingen für Bosch. Ein Sparprogramm, bei dem 20 Prozent der Kosten eliminiert werden sollen, verunsichert seit Mitte des Jahres die Belegschaft. 2000 Arbeitsplätze stünden zur Disposition. Der Stellenwert des Standorts Reutlingens sinkt - und das in einer Zeit, in der sich in der Automobilindustrie die größte Revolution seit Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach abzeichnet. Dazu gehört weit oben das autonome Fahren.
Wenn man den Menschen als Fahrer nicht mehr braucht, dann muss man ihn ja auch nicht mehr erwähnen. Als die vier Herren auf dem Podium des Kongresses "Stadt der Zukunft", Veranstalter "Stuttgarter Zeitung", sich dem Thema "Autonomes Fahren im Öffentlichen Nahverkehr" stellten, fiel nur ein einziges Mal das Wort Mensch. So fasziniert waren sie von der Technik - und davon, dass es auch ohne Menschen am Steuer geht. Nicht dass die vier Herren arrogant oder gefühllos wirkten, im Gegenteil sie waren mit viel Leidenschaft bei der Sache, aber der bevorstehende Triumph der Technik bestimmte alles. 
Berlin Alexanderplatz: Bald fahrerlos gar auch durch Reutlingen?

Da war zum Beispiel Andreas Mäder, Geschäftsführer beim Verkehrsverbund Großraum Nürnberg GmbH. Hier gibt es seit Sommer 2008 auf einer 3,5 Kilometer langen Strecke den fahrerlosen Betrieb einer U-Bahn, der U3. "Völlig unspektakulär" nannte Mäder das autonome Tagesgeschäft. Und das bei "99 Prozent Verfügbarkeit". Tolles Ergebnis. Ganz ohne Fahrer. Das spart Geld. Viel Geld. Denn die Fahrer sind der größte Kostenfaktor mit einem Anteil "von 60 bis 65 Prozent", berichtet Mäder. Ob die Stadtbahn, so sie kommen mag, auch vollautomatisiert durch Reutlingen fährt?
Die Fortschritte sind auf diesem Gebiet plötzlich enorm. Hartmut Schick, Vorsitzender des Geschäftsfeldes Busse bei der Daimler AG, berichtet, dass sein Unternehmen 2016 in Amsterdam den ersten Bus auf die autonome Strecke geschickt hat. "Über eine eigene Trasse" und 20 Haltestellen geht in der Hauptstadt der Niederlande die Fahrt, bei der allerdings immer noch ein Fahrer an Bord ist. Doch der sei jetzt viel entspannter, strahlt Schick. Im kommenden Jahrzehnt soll der Future Bus in Serie gehen. Ob er wohl auch nach Reutlingen kommt? Und wie würde er die Infrastruktur verändern? Wäre das gerade erarbeitete Tangential-Konzept dann noch angemessen? Der ZOB war 1994 schon ein überkommenes  Konzept, ist es nun bereits der neue Ansatz ebenfalls? Zumindest der Ansatz Kleinbusse vermehrt einzusetzen, weist schon in die richtige Richtung. 
Platzhirsch "Auto" in der Kanzleistraße
Allerdings: "Solange ein Fahrer in dem Auto sitzt, bleiben die Kosten hoch", befindet Martin Schmitz, Geschäftsführer Technik im Verband deutscher Verkehrsunternehmen, der das Thema inzwischen mit fünf Unternehmen in Hamburg, München, Berlin, Wiesbaden und der Deutschen Bahn angegangen ist. Erst mit der Stufe 5 wird die Selbststeuerung den Status erreicht haben, bei dem man auf den Fahrer verzichten kann. Woran man jetzt arbeitet, ist der Level  4, dem "hochautomatisierten Fahren mit Fahrer", erklärte Steffen Braun, Institutsleiter am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO). Paradebeispiel dafür ist der Stadtstaat Singapur, wo die Bevölkerungsdichte gemessen an Deutschland den Faktor 34 hat. Straßen beanspruchen zwölf Prozent der Fläche, bei uns sind es nur bundesweit fünf Prozent.  Hier geht  das vollautomatische Fahren voll in die Erprobung. Bei der U-Bahn hat nur noch die älteste Linie Fahrer, alles andere surrt vollautomatisch durch die Stadt. Nun geht es experimentell weiter mit der Abschaffung des Autos durch das "Auto-Auto", öffentlich genutzte, automatische gesteuerte Kleinfahrzeuge. 
Niemals fahrerlos unterwegs und Parkplatzsorgen gibt's eigentlich auch nicht.
»Das Ende der Motorisierung ist erreicht, wenn das Parken mehr kostet als das Autofahren.«
Peter Sellers, britischer Komiker
 
Erst der nächste Stepp sei "disruptiv", ein Modebegriff, der zwar schon in den frühen 90er Jahren geprägt wurde, aber erst jetzt alle von der Digitalisierung erfassten Branchen durchdringt. Erfreulicherweise wurde er während der Tagung so gut wie gar nicht benutzt. Nürnbergs ÖNPV-Chef Mäder meinte, dass im öffentlichen Nahverkehr die Frage "Spur oder Nicht-Spur" entscheidend sei für Stufe 4 oder 5. Spurgeführt ist es selbstverständlich einfacher. "In drei bis vier Jahren", glaubt Schick, dass zumindest Stufe 4 den Stand der Technik bestimmen wird. Auf absehbare Zeit werden wir uns noch darüber freuen dürfen, dass vorne jemand am Lenkrad sitzt. Denn erst in zehn bis 20 Jahren wird die Stufe 5 allgegenwärtig sein, meint der Verband der Verkehrsunternehmen.
Mit Tempo 10 durch die Wilhelmstraße 1973 Foto: Wolf-Rüdiger Gassmann
Bei den Kosten ist also vorerst nicht viel zu gewinnen. Und dann wird sichtbar, dass bei einer Ausweitung des öffentlichen Nahverkehrs die Betreiber genau das Problem haben, das Hermann in seinem Vortrag zuvor angeschnitten hatte: "Wir haben ein Platzproblem." Damit meint Mäder die "Konkurrenzsituation durch die Verdichtung der Städte", die eine Ausweitung der Busspuren und Trassen für den öffentlichen Nahverkehr und dessen "große Gefäße", also Bus und Tram, erschwert. Aber brauchen wir denn diese Trassen überhaupt? Braun (Fraunhofer-Institut) empfahl den verstärkten Einsatz von Kleinbussen, wie sie nun auch schon eine Weile in Reutlingen diskutiert werden. Dadurch könnten "30 Prozent der großen Busse wegfallen". Und sicherlich wäre dies ein genialer Coup, wenn das unterstützt würde durch das vollautomatische Fahren - schon wegen der Kosten. Denn die Menge an Kleinbussen, die sogar nach On-Demand-Prinzipien durch den Straßenverkehr navigieren, wird steigen und damit auch die Zahl der Fahrer. In Helsinki war mit dem Konzept der Minibusse 2016 experimentiert worden, was aber sich als "nicht wirtschaftlich" gezeigt habe, berichtet Daimler-Chef Schick. Wer im Netz weiter recherchiert, wird erfahren, dass die Finnen inzwischen vollautomatische Fahrzeuge ausprobieren - Minibusse, die mit einer Höchstgeschwindigkeit von zehn Kilometern durch die Straßen zockeln. Übrigens die Reutlinger Straßenbahn durfte - nach meinem Kenntnisstand - auch nicht schneller durch die Wilhelmstraße fahren.
Parkplatznot? In Nürnberg - keine Spur
Werden 10 km/h den Schirm bilden, unter dem dann vielleicht in Deutschland auch das ein oder andere fahrerlose Experiment möglich wird? Vielleicht würde damit auch in Reutlingen die Grüne Welle endlich Wirklichkeit. Ob dies die Stauprobleme löst? Skepsis angebracht.
Immer wieder landen wir schlussendlich beim Problemkind Auto mit seinen Parkraumansprüchen und seinen Leer-Fahrten. Um das zu ändern, verlangte Mäder einen "verhaltenspsychologischen Ansatz". Car-Sharing sei nur ein Teil der Lösung, Mitnahmezentralen auch. Da läge in den Städten die Quote "im Promillebereich. Die Menschen sind nicht bereit, jemanden mitzunehmen." Bestätigt Daimler-Manager Schick: "Da sind wir Schlusslicht in Europa."
Schaut man dann hinter alle Argumente und unter alle Diskussionsebenen, dann gerät man irgendwann zu des Pudels Kern: "Die Frage ist doch: Wer investiert?", bringt es Schmitz vom Verband der Verkehrsunternehmen auf den Punkt. "Und das ist zugleich auch eine Frage nach Wettbewerb." 
Parkhausschlucht der Messe Stuttgart: Was wird daraus, wenn wir dies nicht mehr brauchen?

"Wir will man das hinkriegen?", steigt Mäder sofort in diese Diskussion ein. Ist es die Privatwirtschaft, die sich dann die besten Routen zu den attraktivsten Zeiten aussucht? Den Rest überlässt man dem ÖNPV. Da seien "ethische Grundsätze" betroffen." Und die Frage nach dem Investment beantwortet er mit einer Gegenposition: "Wir brauchen ein System, das das irgendwo alles managt." Sicherlich - autonomes Fahren kommt. Damit werde die Zeit der großen Einfallstraßen, die unsere Städte zerschnitten haben, zu Ende gehen. Dann werde sich alles über das gesamte Straßennetz verteilen. Straßenführungen, die heute - wie etwa in Tübingen - so angelegt sind, dass sie nicht mehr als Durchgangsstraßen dienen können, werden dann aber auch zurückgebaut. Und die Bewohnerparkplätze werden ebenfalls zumindest reduziert. Vielleicht brauchen wir also doch nicht die breiten Trassen und extra Busspuren, vielleicht investieren wir da in ein völlig verquere Verkehrssystem. Vielleicht ist alles eher kleinteilig. Auf jeden Fall wird im Jahr 2040 etwa die Hälfte des Verkehrs ausmachen, meint Braun vom Fraunhofer-Institut.
Mag alles sein. Und die vier Herren hätten auch noch stundenlang weiterdiskutieren können - und wären am Ende zum selben Schluss gekommen, den dann der Daimler-Manager formulierte: "Wir brauchen eine Vision." 
Mein Next Bike ist ein E-Bike: Fahrrad-Sharing in Berlin
Seine Firma hatte das mal. Vor 25 Jahren. Es ist die, über die wir heute reden. Es war das Mobilitätskonzept des Edzard Reuter und seines Integrierten Technologiekonzerns.
Es wird Zeit, dass sich Typen wie Daimler und Maybach wieder treffen. Am besten in Reutlingen. Das Bruderhausgelände gibt es nicht mehr. Da stehen jetzt die Stadthalle und ein paar Schnurbäume.
Alle Angaben nach bestem Wissen und Gewissen.

SERIE: STADT DER ZUKUNFT
TEIL I Einführung
TEIL II Kampf gegen die Parkplätze
TEIL III: Schadstoffe: Insel der Seligen - Nur Reutlingen nicht?
TEIL IV: Autonomes Fahren: Wohin steuert Reutlingen? 
TEIL V: Elektro-Autos - Wann laden wir endlich Zukunft?Bildertanz-Quelle: Raimund Vollmer

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